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6. Dienstag

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Julia stand im Badezimmer und putzte sich die Zähne. Der Abend mit Adrijan war sehr schön gewesen und vor allem recht lang, sodass sie heute Morgen prompt verschlafen hatte. Nun musste sie sich beeilen, sie wollte ihre erste Vorlesung nicht verpassen. Sie spülte sich den Mund aus und starrte in den Spiegel. Julia dachte an seine Augen. Gestern bei der Verabschiedung, Adrijan hatte sie nach Hause gefahren, war ihr etwas Merkwürdiges aufgefallen und erst jetzt kam es ihr ins Gedächtnis.

Er hatte ihr einen zaghaften Kuss gegeben und plötzlich war es ihr eiskalt den Rücken heruntergelaufen. Er hatte ein sonderbares Glühen in den Augen gehabt und sie glaubte in einem schwarzen Nichts zu versinken. Warum war diese Erinnerung jetzt in ihrem Kopf? Warum war sie gestern Abend nicht erschrocken gewesen?

Sie schüttelte sich. Sie musste sich das eingebildet haben. Vielleicht hatte sie geträumt und jetzt vermischte sich Realität mit Traum. Sie warf einen Blick auf die Uhr, oh Gott sie musste los.

Adrijan wusste nicht, was geschehen war, nachdem er Julia an ihrer Haustür verabschiedet hatte. Seine Erinnerungen setzten erst wieder ein mit dem Moment, als er in der Morgendämmerung über eine Leiche gebeugt und mit Blut vollgeschmiert, in einer Seitenstraße gestanden hatte.

Er war nach Hause geeilt, hatte sich die Kleidung vom Leib gerissen und war unter die Dusche gegangen. Dort hatte er gestanden, lange, sehr lange und am ganzen Körper gezittert. Wenn er die Augen schloss, sah er jetzt noch die Qual in den Augen des Opfers. Wie es mit dem Tod kämpfte und doch wusste, dass es verlieren würde.

Adrijan trocknete sich ab. Der heiße Wasserdampf hatte sich auf dem Spiegel niedergeschlagen. Mit dem Handtuch wischte er den Nebel davon. Wenn er doch nur den Nebel in seinen Erinnerungen davon wischen könnte.

Er erschrak, taumelte einen Schritt zurück. Das, was ihn da aus dem Spiegel entgegen starrte, das war nicht er. Seine Augen glühten, seine Haut war blass und feine, violette, pulsierende Linien zogen sich über das Gesicht, seinen Hals, die Brust. Er schaute an sich herab, sie zogen sich über seinen ganzen Körper. Er geriet in Panik, das war ihm schon einmal passiert.

Eigentlich hatte Julia gehofft auf Adrijan zu treffen, aber er schien heute nicht zu kommen. So saß sie in der Vorlesung, ein wenig enttäuscht, und hörte zu. 90 Minuten später packte sie ihre Sachen ein und machte sich auf den Weg zur nächsten Veranstaltung.

Nach der zweiten Vorlesung machte sie Schluss. Julia wollte nach Hause, auf die Couch, ein wenig lernen und vielleicht noch ein bisschen in dem neuen Buch lesen. Als sie vom Unigelände auf die Straße ging, sah sie eine dunkle Gestalt an einem Betonpoller gelehnt stehen. Sie verlangsamte ihren Schritt und kniff die Augen zusammen, um besser erkennen zu können. Es war Adrijan. Sie lief zu ihm.

„Hi!“, begrüßte sie ihn lächelnd.

Sein Lächeln war etwas zaghaft und sie bemerkte, dass er ganz und gar nicht gut aussah.

„Was ist los mit dir?“

„Nichts weiter, ist wahrscheinlich nur eine Erkältung im Anmarsch.“

Er gab ihr einen Kuss.

„Du warst gar nicht in der Vorlesung heute.“

„Ich fühle mich nicht, aber ich wollte dich sehen.“

„Oh“, sie war geschmeichelt, „aber eigentlich hätte ich noch eine. Was hättest du gemacht, wenn ich die nicht geschwänzt hätte?“

Er grinste und seine Augen strahlten.

„Gewartet bis du raus kommst.“

„Die ganze Zeit in der Kälte?“

Er nickte. „Die ganze Zeit in der Kälte.“

Julia schaute auf seine Hand, um die ein Verband gewickelt war.

„Was hast du gemacht?“ sie deutete darauf.

Er schob die Hand in seine Jackentasche und zuckte mit den Schultern. „Ich habe eine Kaffeetasse fallen lassen und beim Einsammeln der Scherben nicht aufgepasst, ist nicht schlimm.“

Dann legte er den Arm um sie und zusammen gingen sie zur U-Bahn. Es fing ganz leicht an zu schneien.

Adrijan nicht alleine bleiben wollen. Er hatte Angst vor sich selber und zweifelte daran, dass er die Morde wirklich nicht begangen hatte. Daher hatte er sich entschieden zur Uni zu fahren und auf Julia zu warten. Er mochte sie. Er hatte das Gefühl bei ihr an einen ehrlichen Menschen geraten zu sein, dem er wirklich was bedeutete. Er hätte sie gerne mit seinem Auto abgeholt, aber er konnte sich nicht daran erinnern, wo er es geparkt hatte, genauso wenig wie er sich an den gestrigen Abend erinnern konnte. So mussten sie beide wohl oder übel mit der U-Bahn fahren.

Als sie fünf Minuten später am Sophie-Charlotte-Platz die Treppe der U-Bahn hochkamen, stellten sie fest, dass es nun heftiger schneite. Die Straßen und Wege, Bäume und Sträucher waren unter einem weißen Mantel aus Schnee verborgen. Julia und Adrijan entschieden sich nicht in Julias kleine Studentenwohnung zu gehen, sondern einen Spaziergang im nahe gelegenen Park zu machen. Auch hier war bereits alles weiß und sah wie verzaubert aus. Sie gingen schweigend nebeneinander her und Julia schob ihre Hand in seine.

Adriajan schaute zu ihr herab und lächelte. Es war ein liebevolles Lächeln und Julia war unglaublich glücklich.

„Erzähl mir was von dir“, bat sie ihn.

In seinen Augen blitzte es auf, dann sagte er: „Was soll ich dir erzählen?“

„Wo du herkommst, wie du groß geworden bist, was du magst, was du hasst, wer du bist.“

Er lächelte immer noch. „Nur wenn ich im Gegenzug etwas von dir erfahre.“

„Abgemacht.“

„Ich bin bei Pflegeeltern groß geworden, meine richtigen Eltern kenne ich nicht.“

Sie schaute ihn mitleidig an.

„Guck nicht so traurig, meine Pflegeeltern sind großartig. Wir haben ein gutes Verhältnis. Ich bin in Berlin geboren, ich hasse kalten Kaffee und liebe das Wasser.“ Und dich, fügte er in Gedanken hinzu. „Nun bist du dran.“

Julia räusperte sich. „Also, ich bin auch in Berlin geboren, habe einen Bruder, Tom, er ist bei der Kripo.“

Sie fühlte eine kurze, aufkommende Kälte, die von Adrijan auszugehen schien, aber noch bevor sie seine Hand loslassen konnte, war es auch schon wieder weg und sie glaubte sich getäuscht zu haben. „Meine Eltern sind auch ganz, ganz wundervolle Menschen“, fuhr sie fort, „ allerdings sind sie oft weg, seitdem mein Vater in Frührente ist. Meine Mutter war immer Hausfrau. Sie haben eine kleine Finca auf Mallorca, dort verbringen sie viel Zeit. Ich liebe die Sonne und hasse den Regen, aber Schnee ist super.“

Sie waren an den großen Kaskaden angekommen. Julia machte sich von Adrijan los und rannte auf eine Wiese. Sie ließ sich auf den Rücken fallen und bewegte Arme und Beine und machte einen Schnee-Engel. Dabei lachte sie aus vollem Herzen. Adrijan blieb am Rand stehen und beobachtete sie lächelnd, doch dieses Lächeln war nur erzwungen. Irgendetwas war geschehen und er konnte sich nicht erklären, was es war. Die Welt hatte sich verändert, ganz plötzlich.

Alles war in ein violettes Licht getaucht. Alles war viel intensiver. Er roch den Schnee, er hörte den Wind, er fühlte Julia und er sah, wie das Blut durch ihren Körper gepumpt wurde. Er hörte, wie ihr Herz schlug, spürte ihr Glück und ihre Zuneigung für ihn, ihre Freude. Und es schien zu seinen Gefühlen zu werden. Und obwohl es gute Dinge waren, war es unangenehm für ihn. Es war nicht Seins und er wehrte sich dagegen. Er wollte das nicht, nein, er wollte das nicht!

„Hey was ist los mit dir?“

Julia hatte bemerkt, dass das Lächeln aus Adrijans Gesicht verschwunden war. Sie war aufgestanden, scheiß Schnee-Engel! Und zu ihm gegangen. Da war wieder dieses sonderbare Glühen in seinen Augen. Vorsichtig hob sie ihre Hand und näherte sich ihm. Sie wollte ihn berühren, er schien so weit weg, und ihn zurückholen, aber sie zögerte. Was, wenn sie wieder diese Kälte spüren würde? Wie würde sie diesmal versuchen es sich weg zu reden? Als er kurz aufstöhnte, überwand sie ihre Angst.

Adrijan tauchte wieder in die normale Welt ein. Vor ihm stand Julia und schaute ihn besorgt an. Er versuchte sich ein Lächeln abzuringen, wusste aber, wie gequält es wirken musste.

„Alles klar?“

Er sah, wie sich ihr Mund bewegte, nahm ihre Worte aber zeitverzögert auf.

„Ich glaube ich habe genug, die Erkältung ...“, versuchte er zu erklären.

Sie berührte ihn an der Stirn, wollte wohl schauen, ob er Fieber hatte.

„Vielleicht hat sich deine Hand entzündet.“

Sie nahm ihm den Verband ab, um sich die Wunde anzusehen, aber da war nichts, nur eine feine Narbe. Der Schnitt war verheilt. Lediglich ein bisschen Blut klebte am Verband.

„Wann hast du dich geschnitten?“ Sie starrte ungläubig auf die Hand.

„Heute Morgen.“

Auch Adrijan konnte es kaum glauben. Der Schnitt hatte furchtbar geblutet, jetzt war da gar nichts mehr.

„Wunden heilen bei mir gut und schnell. Ich weiß auch nicht, wahrscheinlich sah es heute Morgen schlimmer aus, als es war, vielleicht wegen des Blutes.“

Julia nickte.

„Lass uns zurück mir ist kalt“, sagte er und log. Er spürte die Kälte nicht, er spürte irgendwie gar nichts.

Julia und Adrijan gingen in ein mexikanisches Lokal in der Nähe ihrer Studentenwohnung um etwas zu essen. Der Laden sah ganz hübsch aus und war ziemlich voll. Man konnte hier auch Cocktails trinken. Sie mussten lange warten, bis ihr Essen kam. Die Bedienung stellte nach fast einer Stunde mürrisch zwei Teller vor ihnen ab und entfernte sich ohne die Getränke, die sie noch haben wollten, aufzunehmen.

Adrijan war sauer. Er spürte, wie eine Wut in ihm aufstieg, die er kaum bändigen konnte, so eine Frechheit! Das Essen war nicht gerade berauschend und so blieben ihre Teller fast voll. Das würde er sich nicht gefallen lassen, zumal die Preise echt deftig waren.

„Was für ein Reinfall“, bedauerte Julia. „Ich lade dich hiermit auf einen Kaffee bei mir zu Hause ein, als Wiedergutmachung.“

„Gerne, ich werde mal bezahlen gehen. Ich glaube nämlich nicht, dass sich hier noch mal jemand blicken lässt und ich möchte nicht länger als nötig in diesem Schuppen sitzen.“

Er stand auf und schlug den Weg zum Tresen ein. Dort passte er die Kellnerin ab, die sie mehr oder weniger bedient hatte.

„Bezahlt wird am Tisch“, blaffte die Frau ihn an.

Sie wendete sich von ihm ab und ließ ihn einfach stehen. Adrijan griff ihren Arm und hielt sie zurück. Sie drehte sich zu ihm und wollte gerade etwas sagen, den Mund hatte sie schon geöffnet, aber es kam kein Ton heraus. Stattdessen starrte sie ihn mit Angst geweiteten Augen an.

Er war froh, als er auf dem Bürgersteig vor dem Lokal stand und in der kalten Luft durchatmen konnte. Eine tiefe Befriedigung ergriff ihn, als er an die Kellnerin und ihre Angst dachte. Es war befreiend gewesen. Die tausend Gefühle, die in ihm wüteten, waren verschwunden.

„Kaffee?“ Julia schaute ihn erwartungsvoll an.

„Gerne.“

Sie hakte sich bei ihm unter, so gingen sie zu Julias Studentenwohnung.

Caleb hatte sich eine Matratze vor den Kamin auf der Galerie gelegt und das Feuer angezündet. Es war selbst für ihn wahnsinnig kalt in der Fabrik, zumal das gläserne Oberlicht bei einem SEK Einsatz zerstört worden war und der Schnee ungehindert in die Halle rieselte. Eine wirklich gute Lösung war das nicht. Lieber hätte er in einem der Zimmer geschlafen, aber dort hatte er gar keine Möglichkeit zu heizen und auch die Fenster waren alle kaputt. Diese Nacht würde er noch hier verbringen, dann musste er sich irgendwo ein günstiges Hotel suchen.

Caleb zog sich noch einen Pullover über und schnappte sich mehrere Decken, die er zusammengesucht hatte. Sie waren klamm gewesen und er hatte sie ans Feuer gehängt, nun ging es. Er legte sich auf die Matratze, deckte sich zu und starrte zu dem Loch in der Decke, durch das er den klaren Himmel sehen konnte, den Mond, die Sterne.

Jarik beobachtete, wie der Stallbursche sein Pferd zäumte und sattelte, um es ihm zu übergeben. Er wartete auf seinen Vetter. Gabriel war nicht zu sehen und sein Pferd stand schon eine ganze Weile, ebenfalls komplett gezäumt und gesattelt, und scharrte unruhig mit den Hufen. Er nahm dem Burschen die Zügel aus den Händen und wollte aufsteigen, als Gabriel aus der Festung kam, gefolgt von Jariks Großvater.

Der alte Mann kam mit ernster Miene auf ihn zu und er konnte das Misstrauen und die Abneigung deutlich spüren. Obwohl diese Gefühle ihn schon seit er denken konnte von allen Seiten entgegen gebracht wurden, trafen sie ihn von Zeit zu Zeit so stark, dass es ihm fast körperliche Schmerzen bereitete. Er war anders, das wusste er, aber warum oder weshalb das wusste er nicht. Seine Mutter liebte ihn, aber sie sprach nicht darüber und sonst auch niemand.

Früher, als er noch ein Kind gewesen war, hatte ihm seine Mutter immer Geschichten erzählt, damit er besser einschlafen konnte. Geschichten von großen Kriegern, die mächtig waren und unglaublich mit dem Schwert umgehen konnten. Seine Mutter hatte ihm oft zugeflüstert, wenn ihm das Leben durch seinen Großvater schwer gemacht wurde, dass seine Zeit kommen würde, dass er einst ebenso mächtig sein würde wie die Krieger aus den Geschichten. Und Jarik wollte immer so ein Krieger werden.

Er hatte früh begonnen mit dem Schwert zu kämpfen. Erst hatte er mit einem Holzschwert geübt, dann hatte ihm ein alter Krieger seines Großvaters ein einfaches altes, ausgemustertes echtes Schwert gegeben und ihm gezeigt, wie man damit umging. Jarik schien eine Begabung für den Kampf zu haben. Im Laufe der Zeit hatte er seine Kampfkunst perfektioniert. Er war schnell, stark und wendig. Doch anstatt, dass sein Großvater seine Leistung und sein Können anerkannte, war zu dem Misstrauen und der Abneigung ein weiteres Gefühl hinzugekommen, Angst.

Mit Gabriel verstand er sich einigermaßen. Sie kamen miteinander aus, waren vielleicht so etwas wie Freunde, daher schickte man sie gemeinsam auf die Jagd. Der Herbst hatte Einzug gehalten, der Winter stand vor der Tür und die Vorräte mussten aufgefüllt werden. Sie würden nur zu zweit los reiten, mehr Männer waren momentan nicht entbehrlich. Es herrschte Krieg im Land und die anderen wurden zur Verteidigung benötigt oder kämpften auf dem Schlachtfeld.

Gabriel war vor einiger Zeit schwer verwundet worden und zur Festung zurückgekehrt, Jarik hatte seinen Vetter begleitet. Nun war der voll genesen und in einigen Tagen würden sie beide wieder in den Krieg ziehen. Jarik war froh drüber. Auf dem Schlachtfeld fühlte er sich wohl.

Bevor sein Großvater ihn erreicht hatte, stieg er auf das Pferd. Er hatte keine Lust auf eine weitere Konfrontation, er wollte weg hier, doch der alte Mann war schneller. Er griff ihm in die Zügel und hielt das Tier fest, das nervös die Nüstern blähte.

Wenn ich erfahre, dass du dich wieder einmal auffällig benimmst, wird es Folgen haben! Ich werde nicht dulden, dass so etwas wie du mein Ansehen in den Dreck zieht!“

Die kalten, grauen Augen seines Großvaters funkelten ihn böse an.

Ich habe deine Taten bisher vertuscht, aber das hat ein Ende.“

Er ließ die Zügel los. Jarik antwortete nicht, er nickte nur und lenkte sein Pferd in Richtung Tor. Gabriel war so weit und folgte ihm.

Sie rannte aus der Burg, wollte zu ihrem Sohn, wollte ihn warnen, aber eine stämmige Magd hielt sie zurück. Sie sah nur noch wie Jarik zum Tor hinaus ritt. Erina wollte ihm etwas hinterherrufen, die grobe Hand ihres Vaters legte sich jedoch auf ihren Mund und brachte sie zum Schweigen. „Kein Wort Weib!“, befahl er ihr. „Du weißt, dass wir keine andere Möglichkeit haben, er ist zu gefährlich. Ich hätte ihn als Neugeborenes töten lassen sollen.“

Er nahm die Hand von ihrem Mund.

Wie könnt Ihr so etwas sagen?“, weinte sie.

Die letzten Vorfälle haben gezeigt, dass er eine Bestie ist, unberechenbar, wie sein Vater. Und auch im Kampf, er ist grausam und es dürstet ihn nach Blut.“

Er ist ein guter Kämpfer!“

Er ist unkontrollierbar und gefährlich und es wird nicht besser. Bring sie rein!“, befahl er der Magd, dann drehte er sich um und schaute zum Himmel, an dem graue Wolken aufzogen.

Jarik und Gabriel ritten nebeneinander her. Irgendetwas stimmte nicht. Sein Vetter war still und in sich gekehrt und er konnte seine Gefühle nicht spüren. Jarik dachte an die Worte seines Großvaters, er wusste genau, was der alte Mann gemeint hatte. Es war ihm nicht mehr gelungen, sich unter Kontrolle zu halten. Er empfand eine unerklärliche Blutgier. Auf dem Schlachtfeld genauso wie davor. Er geriet ständig mit anderen aneinander und das endete durchaus tödlich.

Das Sonderbare war, dass es ihm danach besser ging. Wenn er auch nicht wusste, weshalb er anders war, er wusste, dass all die Gefühle und Empfindungen, die andauernd auf ihn eindrangen, nicht nur seine eigenen waren. Es waren auch die der anderen und es gab Momente in denen er glaubte an diesen Empfindungen zu ersticken. Im Laufe der Zeit hatte er es geschafft sich teilweise dagegen zu verschließen, aber es funktionierte nicht immer.

Sie hatten einen halben Tagesritt hinter sich gebracht und nun die Jagdgründe erreicht. Jarik kannte dieses Gebiet, aber bisher hatten sie hier nie gejagt. Es war weit abgelegen und verlassen und genau das war der Grund, warum sie heute hierher gekommen waren. Das Wild graste friedlich und labte sich.

Gabriel und Jarik erlegten so viel Wild wie sie transportieren konnten. Sie würden heute noch zurückkehren müssen und die Beute den Fleischhauern übergeben, die es verarbeiten und es pökeln, räuchern oder trocknen würden, um es für den Winter haltbar zu machen. Jarik hatte all die Zeit ein ungutes Gefühl gehabt, sein Vetter verhielt sich ungewöhnlich. Er schien nervös und Jarik konnte immer noch nicht in ihn eindringen. Außerdem war Gabriel heute extrem wortkarg.

Jarik band gerade die Vorderläufe eines Rehs zusammen, um es auf sein Pferd zu binden, als er aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung hinter sich wahrnahm. Bevor er reagieren konnte, spürte er wie das kalte Eisen eines Schwertes in ihn eindrang und sich durch seine Lederkleidung, seinen Körper und seine Eingeweide einen Weg bahnte. Es raubte ihm den Atem und ein unglaublicher Schmerz breitete sich in ihm aus. Er schaute an sich herab und konnte die Spitze einer Klinge kurz unterhalb der Brust sehen. Sein Gehirn registrierte, dass er von hinten durchbohrt worden war. Jarik fühlte, wie er leicht nach hinten gezogen wurde, weil jemand das Schwert wieder aus ihm herauszog, dann fiel er zur Seite. Lediglich ein Röcheln entrann seiner Kehle und über ihm tauchte das Gesicht seines Vetters auf.

Traurig schaute Gabriel auf ihn herab, dann flüsterte er: „Es tut mir leid mein Freund aber ich hatte keine Wahl. Er hat es mir befohlen.“

Dann drehte er sich um und verschwand aus seinem Blickfeld. Jarik konnte nichts sagen, konnte sich nicht rühren und er spürte, wie das Leben aus ihm herauslief. Dann tauchte Gabriel wieder auf. In den Händen hielt er seine Sachen.

Sie haben mich geschützt, die Priester haben ein Amulett gefertigt.“

Er zog ein Lederband unter seinem Gewand hervor, an dem ein runder Anhänger aus Bronze hing. Fein geschwungene Linien in einem Kreis hielten in der Mitte einen Blutstein fest.

Großvater weiß, dass du unsere Gedanken lesen kannst, damit wurde es verhindert.“

Sein Großvater lag falsch. Jarik konnte keine Gedanken lesen, aber die Gefühle anderer und er konnte in ihre Seelen schauen, was mindestens genauso gut war und trotzdem hatte dieses Amulett seinen Dienst erfüllt.

Gabriel ließ das Ding wieder unter seinem Gewand verschwinden und machte sich an seinem Pferd zu schaffen.

Jarik spürte, wie etwas mit ihm geschah. Etwas, das ihm bereits im Kampf widerfahren war, etwas ergriff ihn, übernahm die Kontrolle über ihn. Er fühlte, dass er sich veränderte und eine Kraft in ihn strömte. Obwohl er noch Schmerzen verspürte, waren sie nicht mehr so stark, dass sie ihn lähmten. Sein Vetter war im Begriff das Pferd zu besteigen. Jariks Hand fuhr langsam zum Knauf seines Schwertes. Blitzschnelle erhob er sich und stand hinter Gabriel, das Schwert aus der Scheide gezogen hielt er es ihm an die Kehle.

Dreh dich um!“, befahl er ihm mit tiefer, dunkler Stimme. Sein Vetter bewegte sich nicht, zitterte jedoch am ganzen Leib.

Dreh dich um! Ich will dir in die Augen sehen wenn ich dich töte.“

Den Ausdruck im Gesicht Gabriels würde er nie vergessen, so glaubte Jarik, diese Angst und das Entsetzen, als der sein wahres Gesicht sah. Und er hieb seinem Vetter mit einem Schlag den Kopf vom Rumpf.

Er konnte nicht zur Festung seines Großvaters zurückkehren. Jarik versuchte auf sein Pferd zu steigen, aber die Kraft, die er eben noch verspürt hatte, die ihn durchströmt hatte, verließ ihn und er schaffte es nicht. Er musste hier weg. Er brauchte Hilfe, sonst würde er neben Gabriel verenden und so schleppte er sich vom Ort des Blutvergießens, irgendwo hin, wo er hoffte, auf Menschen zu treffen, die ihm helfen könnten.

Jarik hatte keine Ahnung wie weit er gekommen war oder wie lange ihn seine Beine getragen hatten. Sein Blut sickerte unaufhörlich aus der Wunde und dann sah er ein Flimmern und ihm wurde schwarz vor Augen. Er brach mitten auf einem abgemähten Feld zusammen.

Caleb schreckte schreiend und schweißgebadet auf. Das Feuer, das im Kamin nur mehr am glimmen war, schlug in hohen Flammen empor, loderte und brannte auf. Er brauchte einen Moment, bis er wusste, wo er war und bis er realisierte, dass er den Schmerz nicht wirklich empfand, der seine Brust pochen ließ. Es war nur eine Erinnerung. Er wusste nun, dass er ein Leben und eine Familie gehabt hatte, bevor er auf diesem Feld wieder zur Besinnung gekommen war.

Die Grauen Krieger

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