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Prolog

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Marie-Clothilde de Juniac fröstelte in der kühlen Kellerluft. Die schwarze Steinmauer neben ihrem dünnen Arm war klamm wie ausgekühlte Haut, und es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren.

Inzwischen war sie allein mit Schwester Miséricorde, die an dem kleinen Pult vorn im Raum Aufsätze korrigierte, was auch die nächste Dreiviertelstunde noch so bleiben würde. Marie-Clothilde bereute den nächtlichen Raubzug durch die Schulküche trotzdem nicht; es war die zwei Stunden Nachsitzen eindeutig wert gewesen.

Sie tunkte die Spitze des schweren Zirkels ins Tintenfass. Seit undenklichen Zeiten schrieben die Mädchen in der Klosterschule mit Tinte, und die Schwestern sahen keinen Grund, etwas daran zu ändern, nur weil man mittlerweile das Jahr 1959 schrieb. Marie-Clothilde drückte die Spitze durch das Papier, stellte sie so ein, dass die Linie exakt die richtige Breite hatte und zeichnete ihren Kreis.

Sie hörte vage, dass Schwester Miséricorde sich vom Pult erhob und ihren Stuhl zurückschob. Der Kreis war zur Hälfte fertig. Die Schwester sollte sehen, dass Marie-Clothilde fleißig arbeitete. Plötzlich stand die Schwester direkt neben ihr. Durch den groben Stoff der schwarzen Tracht spürte Marie-Clothilde ihren breiten Oberschenkel an ihrem nackten Oberarm. Sie zog ihn zurück, als sei sie selbst im Weg und nicht die Schwester ihr zu nah gekommen.

Aber Schwester Miséricorde legte Marie-Clothilde die Hand auf die Schulter, schob sie zurück und drückte sie an ihre weich geschwungene Hüfte. Die Nonne roch nach Küche, nach der Lavendelseife, die in der Schule benutzt wurde, nach Talg und alternder Haut. Sie hatte breite, platte Fingernägel.

Marie-Clothilde machte Anstalten, sich zu wehren, aber die Schwester war stärker und hielt sie fest. Ihre andere Hand befand sich plötzlich auf Marie-Clothildes Rücken und wanderte langsam nach oben.

Marie-Clothilde saß stocksteif da und wagte kaum zu atmen. Am Ende erreichte die Hand der Schwester Marie-Clothildes Nacken, wo die dicken weißen Finger vorsichtig die weichen Haare betasteten, sie zu einer kleinen Schlinge drehten und sie durch ihre Fingerspitzen gleiten ließen.

Die Schwester keuchte wie nach einem Dauerlauf, und ihre Stimme war nicht wiederzuerkennen, als sie sprach.

»Vor der Liebe braucht man sich nicht zu fürchten«, sagte sie so dicht neben ihr, dass Marie-Clothilde ihren warmen, feuchten Atem deutlicher spürte, als sie die Worte hörte.

Es war offenbar so weit.

Langsam setzte Marie-Clothilde sich gerade, drehte sich ein Stück und blickte Schwester Miséricorde in die Augen. Ihr fiel auf, dass in einem Augenwinkel ein wenig getrocknetes Augensekret klebte.

Marie-Clothilde hielt den Zirkel noch immer in der rechten Hand, während sie mit der linken nach ihrer Feder suchte. Sie klappte den Zirkel gerade und betastete die scharfe Spitze mit dem Zeigefinger. Der keuchende Atem der Schwester kam jetzt in regelmäßigen Stößen und legte sich auf ihren Hals und ihre Wange.

Es war eindeutig so weit.

Marie-Clothilde holte tief Luft, stemmte ihre Unterarme gegen die weiche Körpermitte der Schwester und stieß sich ab, was ihr den nötigen Raum verschaffte, um die Hände zwischen sich und die Nonne zu schieben. Der Zirkel funkelte wie ein Messer, als sie ihn vor dem Gesicht der Schwester hochhob. Mit der linken Hand legte sie die Feder quer davor, so dass ein Kreuz entstand.

»Arrière de moi, Satan«, sagte sie, ehe sie, mehrsprachig, wie sie war, hinzufügte: »Get thee behind me, Satan« und »Apage Satanas!«

Die Wirkung fiel genauso dramatisch aus, wie sie erhofft hatte. Schwester Miséricorde verstummte zuerst, dann erbleichte sie, wich mit weit aufgerissenen Augen zurück und stürzte stolpernd davon, als hätte sie den Teufel gesehen und nicht das Kreuz.

Um der Wirkung willen sandte Marie-Clothilde noch ein »vade retro, Satan« hinterher, obwohl die Schwester schon halb zur Tür hinaus war.

Marie-Clothilde seufzte, schüttelte ihren mageren Leib wie ein Hund, der sich vom Wasser befreit, und wandte sich wieder ihrem Kreis zu. Jetzt standen nur noch vierundvierzig Minuten Nachsitzen aus, die sie brav hinter sich zu bringen beabsichtigte.

Als sie am nächsten Tag ihren wöchentlichen Brief nach Hause schickte, fügte sie ein PS an:

»Merci maman pour tes conseils regardant les soeurs amoureuses, ils ont servi à merveille.«

(»Danke, Mama, für deine Ratschläge zu den amourösen Nonnen – sie haben wunderbar gewirkt.«)

Der Psychologe - Schweden-Krimi

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