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Am nächsten Morgen erwachte Monika zum ersten Mal seit langer Zeit mit einem Plan für den kommenden Tag, und ihr wurde bewußt, wie sehr sie eine konkrete Aufgabe vermisst hatte.

Sie musste sich auf die Begegnung mit Olzén vorbereiten. Es könnte doch nicht so schwer sein, herauszufinden, ob Babs seine Patientin gewesen war, und warum er ihren Tod für einen Mord hielt.

Sie konnte sich Babs noch immer nicht bei einem Psychiater vorstellen. Sollte die ewig verschlossene Babs einem Außenstehenden wirklich alles über ihr Leben erzählt haben? Hatte Babs, die nie Geld gehabt hatte, sich plötzlich eine Therapie leisten können? Und wenn sie eine Therapie gemacht hatte, warum hatte sie das nie erwähnt? Sollte Babs, die nie ein Geheimnis hatte bewahren können, das Monika ihr anvertraut hatte, eine so wichtige Tatsache für sich behalten haben?

Allerdings waren Monikas Erinnerungen über zwanzig Jahre alt, und Erinnerungen verändern sich mit der Zeit, wie alles andere. Darüber hinaus waren ihre Erinnerungen an Babs aus der Perspektive einer Zwölfjährigen gesehen, und damit in der Gegenwart vielleicht nicht mehr zuverlässig. Ein niederschmetternder Gedanke.

Halb elf, hatte er vorgeschlagen. In seiner Wohnung im Djurgårdsbrunnsvägen, wo sich nur Botschaften und Museen befanden, soweit Monika wusste.

Jedenfalls war es nicht schwer zu finden – sie nahm den Bus und stieg einige Minuten vor der vereinbarten Zeit bei Djurgårdsbrunn aus.

Monika schaute sich um – hier lag noch immer Schnee. Schmutzige Schneewehen, die inzwischen vor sich hinschmolzen, lagen am Straßenrand, eher braun als weiß. Es war um einige Grad wärmer geworden, und feine Regentropfen fielen vom weißgrauen Himmel.

Trotz der Grautöne war der nahende Frühling nicht zu leugnen: die Singvögel waren schon voll im Einsatz. Ihre Mitteilungen bildeten eine Geräuschkulisse in Hochfrequenz, und ein dumpfes Klopfen verriet, dass auch der Specht schon am Werk war.

Der Kaknästurm ragte wie ein graues Periskop hinter den Bäumen auf und erinnerte sie an das, was vor Weihnachten passiert war – an den Sturz, durch den sie sich ihre Beinverletzung zugezogen hatte, sozusagen als Schlussakkord ihrer Karriere. Der Turm schien sie anzustarren, und sie starrte zurück. Sie musste ihre alten Erinnerungen hinter sich lassen, es musste vorwärts gehen.

Über ihr flatterte etwas auf. Hoch oben im nächsten Baum sprangen zwei Elstern auf den kahlen Zweigen um ein massives, buschiges Elsternnest herum, das gerade von einer großen Krähe, die voller Konzentration am Reisig zerrte, abmontiert wurde. Die Krähe entschied sich für ein Stöckchen, zog daran, doch es saß zu fest. Die Elstern hatten es solide angebracht. Am Ende lies es sich jedoch trotzdem lösen. Die Elstern wagten sich ein wenig näher heran, aber die Krähe brauchte nur eine drohende Bewegung in ihre Richtung zu machen, und schon wichen sie wieder zurück. Ihr Protest klang nicht wirklich überzeugt, und die Krähe, die doppelt so groß war wie die Elstern, hatte es nicht eilig. Irgendwann flog sie mit ihrem billig erworbenen Baumaterial davon, und die Elstern stürzten zu ihrem Nest, um den Schaden zu begutachten.

Offenbar ging es überall gleich zu.

Das Haus des Therapeuten stand auf der anderen Straßenseite und kehrte der Straße eine Längsseite zu. Davor befand sich ein gelber Holzkiosk, in dem Eis, Würstchen und Kaffee verkauft wurden. Er war geschlossen, aber Monika konnte sich vorstellen, wie die Leute im Sommer hier fast bis zu der kleinen Brücke zum südlichen Teil von Djurgården Schlange standen. Die Wohnung im ersten Stock hatte über dem Kiosk einen überdachten Balkon bekommen, der mit Wacholdersträuchern in Krügen dekoriert worden war.

Monika trat zurück, um sich das ganze Haus anzusehen. Drei Stockwerke, sieben Fenster in der Breite. Mit braunen Wänden, gelben Holzverkleidungen und einer dunkelbraunen, von zwei schmalen Pfeilern flankierten Haustür. Die Regenrinnen waren in derselben dunkelbraunen Farbe gestrichen wie die Pfeiler und wurden oben von riesigen glitzernden Eiszapfen gekrönt, während sich das Kupferdach hellgrün vor dem grauen Himmel abhob. »1743« stand auf einer kleinen Wetterfahne.

Monika klingelte und wurde in einen Eingangsbereich mit ungewöhnlichen Proportionen eingelassen – die Wände waren niedrig, dafür war der Raum sehr weitläufig. Mitte des 18. Jahrhunderts war es sicher nicht leicht gewesen, in die Höhe zu bauen, die Breite dagegen hatte keinerlei Problem dargestellt, jedenfalls nicht draußen auf dem Land, wo Djurgårdsbrunn damals gelegen haben musste.

Sie fragte sich, was es für ein Gefühl sein mochte, in einem Haus zu wohnen, das so ganz andere Verhältnisse widerspiegelte, als heutzutage in der Gesellschaft herrschten, ehe sie sich zur Ordnung rief. Sie musste sich auf Olzén konzentrieren.

Er wohnte im ersten Stock. Bei jedem Schritt staunte Monika, dass ihr Fuß die Stufe nicht an der erwarteten Stelle fand. Der Architekt oder Zimmermann hatte beim Bau des Hauses die Höhe der Stufen offenbar ganz nach Lust und Laune festgelegt.

Schließlich stand sie vor der dunkelbraunen Holztür mit Blumenmotiv, bei der es sich möglicherweise um ein sorgsam gepflegtes Originalstück handelte. Die Blumen mochten durchaus aus dem 18. Jahrhundert stammen, doch der Türspion und die beiden blanken Schlösser gehörten eindeutig in die Gegenwart und sahen aus, als wären sie erst vor einer Woche eingebaut worden.

Eine ältere Frau öffnete vorsichtig die Tür und ließ Monika mit einem Anflug von Widerwillen herein. Sie sprach leise, als befände sie sich in einer Kirche.

»Guten Tag. Er sitzt in seinem Arbeitszimmer und wartet schon auf Sie.«

Olzén sah aus wie auf dem Foto hinten im Buch. Allerdings war auf dem Foto nicht zu sehen gewesen, dass er im Rollstuhl saß. Seine langen schlanken Beine waren angewinkelt, als sei der Stuhl ein wenig zu klein oder Olzén eine Spur zu groß.

Er reichte ihr eine knochige Hand und zeigte auf einen Sessel.

»Bitte. Nehmen Sie Platz.«

Der Schreibtisch, hinter dem er saß, war vollkommen leer. Hinter ihm standen in staubfreien Regalen Bücher.

Sein kurzes, sorgfältig geschnittenes Haar, die Bügelfalte der grauen Hose und der symmetrische Schlipsknoten verrieten Monika, dass sie ihn erlebte, wie er war. Dies hier war ein Mann, der seine Umgebung bis hinunter zur kleinsten Büroklammer zähmen und kontrollieren musste.

Er deutete auf die Frau, die die Tür geöffnet hatte.

»Das ist Schwester Marit. Sie hilft mir seit vielen Jahren.«

Marit stellte Tassen, Teller, einen Korb mit frisch gebacken duftenden Rosinenbrötchen auf den Tisch, und von irgendwoher zog Kaffeeduft heran. Marits bewundernde Blicke ließen vermuten, dass nur noch der Weihrauch fehlte.

Olzén ergriff das Wort.

»Wir Analytiker«, sagte er und hob die Hand zu einer albernen, kaiserlichen Geste, »widmen uns der Aufgabe, die menschliche Psyche in all ihren Formen zu erforschen. Keine Perversion, keine Bosheit ist uns fremd.«

Monika wusste nicht so recht, ob das nun eine verheißungsvolle Einleitung war oder nicht. Sie zog eilig einen Notizblock hervor, um zu signalisieren, dass er das Gespräch führte und sie folgte.

Das war offenbar die richtige Strategie. Er lächelte überlegen; Schwester Marit ebenfalls, wenn auch etwas gedämpfter. Ihr Blick wanderte zwischen Olzén und Monika hin und her, als wäre sie eine Regisseurin, die bei einer wichtigen Szene in Großaufnahme jede Änderung in den Gesichtern der Schauspieler registriert.

»Ich habe es als meine Lebensaufgabe angesehen«, fuhr er fort, »weitere kleine Ziegelsteine für die riesige Kathedrale herbeizutragen, die die psychoanalytische Kenntnis errichtet.«

Kathedrale, schrieb Monika. Warum nicht Moschee oder Synagoge?

Er richtete sich auf, schien in seinem Rollstuhl förmlich zu wachsen, schaute in die Ferne.

»Die menschliche Bosheit – sie tritt in so vielen Gestalten auf, sie kann so schwer zu durchschauen sein.«

Monika nickte zustimmend.

»Diese Erfahrung habe ich auch gemacht.« Sie dachte an die vielen Mörder, denen sie so nahe gekommen war. Fast ausnahmslos waren sie stärker als ihre Opfer gewesen. Gleichzeitig jedoch waren die meisten jämmerliche Gestalten gewesen, von denen man sich kaum vorstellen konnte, dass sie über andere Menschen hergefallen waren. Etliche hatten ihr Mitgefühl mit ihren Opfern mit denselben Medikamenten getilgt, die Millionen Eltern zu sich nehmen, um einschlafen zu können.

Olzén schaute sie überrascht an, und ihr ging auf, dass er keine Erwiderung von ihr erwartet hatte. Schwester Marit schaute sie vorwurfsvoll an.

»Das lässt sich ja wohl kaum vergleichen«, sagte Olzén und wollte damit zweifellos sagen, dass keins ihrer Erlebnisse in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung sein konnte. »Ich rede hier von einem tieferen Verständnis.«

Was weißt du denn schon?, schrieb Monika auf ihren Block. Warum sollte mein Verständnis weniger tief gehen? Ich bin sicher mehr Mördern begegnet als du.

»Der analytische Prozess verschafft uns eine einzigartige Möglichkeit zu verstehen, was sich in den dunkelsten, verbotensten Teilen unseres Ich abspielt – unsere sadistischen Triebe, unsere perverse Sexualität.«

Schwester Marit konzentrierte sich nun voll und ganz auf Olzén. Sie saß reglos da und ließ sich von seinen Worten erfüllen. Sie war so nackt, dass Monika sich wie ein Eindringling in ihre Privatsphäre vorkam, als sie sie ansah.

Hingebungsvoll, schrieb sie auf ihren Block. Ihre Lektüre hinterließ jetzt ihre Spuren in ihrer Sprache. Hohepriesterin.

»Man weiß nie, was in einem Menschen vor sich geht. Dieser Mensch weiß es selbst nicht, aber zusammen kann man weiterkommen und ein Verständnis erlangen, durch das man später in seinem Alltag auf nicht-neurotische, freie Weise handeln kann.«

Verständnis, schrieb Monika. Freiheit. Das klingt ja schon mal gut. Selbstbezogen, fügte sie hinzu. Wann wird er mich wohl an diesem Gespräch teilhaben lassen?

»Menschen zu Einsicht führen zu können, ist eine große Freude. Es ist zugleich eine schwere Verantwortung, die ich viele Jahre lang getragen habe. Es ist natürlich auch ein Privileg, dafür bezahlt zu werden, dass man man selbst ist. Ich konnte mich dadurch ernähren, dass ich das Leben anderer im Licht meiner Erkenntnisse gezeigt habe.«

Im Licht zeigen. Licht werfen. Selbstleuchtend sein. Du schweifst ab, Monika. Reiß dich zusammen, schrieb sie.

»Ich hatte bereits mit siebzehn Jahren ein, wie sagt man, Aha-Erlebnis, als ich zum ersten Mal ein Buch von Sigmund Freud gelesen habe. Es war keine leichte Lektüre, ich musste mich dabei wirklich anstrengen, aber was brachte es mir doch für Erkenntnisse!«

Sein Blick wurde milder, als er an seine Jugend dachte, an seine ersten Schritte auf dem Weg, den er danach sein Leben lang beschritten hatte.

Auch Schwester Marits Gesicht war sanfter geworden. Offenbar ließ auch sie sich von dem Bild des großen Mannes als junger Wissenssucher erwärmen.

Olzén schilderte weiter, wie sich sein Bild von sich selbst und seiner Umwelt verändert hatte, nachdem er eine Theorie entwickelt hatte, die er auf seine und auf die Reaktionen anderer anwenden konnte, und Monika wartete auf eine Pause, um das Gespräch in Richtung Babs lenken zu können.

Wie soll ich ihn dazu bringen, dass er aufhört, nur von sich selbst zu reden, schrieb sie. Das kann ja den ganzen Tag so weitergehen.

»Danke! Ich würde eigentlich auch gern über Ihr Buch sprechen, schließlich bin ich vor allem deswegen gekommen«, sagte sie hastig, als er kurz innehielt.

Olzén und Marit starrten sie an, als habe sie mitten in einem gefühlvollen Solo einen Hustenanfall erlitten.

»Sie brauchen diesen Hintergrund, um die Fortsetzung zu verstehen«, warf Olzén vorwurfsvoll ein und fuhr fort, als sei er niemals unterbrochen worden.

Stör mich nicht, wenn ich mein Spiegelbild anlächele, schrieb Monika. Das ist Freiheit, notierte sie dann. Ich kann schreiben, was ich will. Das hier ist kein polizeiliches Verhör.

Aus einer spontanen Laune heraus schaute sie Olzén aufmerksam an und schrieb: Die Wirklichkeit ist das, was bleibt, wenn man nicht mehr daran glaubt. Dieses seltene Zitat war ihr gerade eingefallen, aber sie hatte vergessen, von wem es stammte.

Olzén redete weiter, Monika trank Kaffee, wartete, hörte ein wenig zerstreut zu und notierte ab und zu ein Stichwort. Primitive Verteidigung, projektive Identifikation, Sublimierung, Penisneid, hysterische Phantasien, die narzisstische Verletzung . . . was Olzén ihr hier bot, war eine kurze Führung durch seine theoretischen Paradigmen, und Monika bemühte sich zu spät, nicht den Faden zu verlieren. Vielleicht würde sie all das ja brauchen, um zu verstehen, was er später über Babs sagen würde, falls er tatsächlich über sie geschrieben hatte.

Nein, sie brauchte nichts über unzulängliche Über-Ich-Funktionen zu wissen, um eine Antwort auf ihre beiden einfachen Fragen zu erhalten. Erstens: War Babs damals bei Olzén in Therapie gewesen? Und zweitens: Wenn ja, weshalb behauptete er, sie sei ermordet worden?

Doch es erschien ihr höchst schwierig, sich überhaupt Gehör zu verschaffen.

Nach fast vierzig Minuten fand er offenbar, dass es jetzt genug sei, und blickte Monika an.

»Es dauert ein ganzes Leben, all das wirklich zu verstehen, aber jetzt haben Sie immerhin einen kleinen Einblick gewonnen. Ein Mikrowissen«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, das ihr zeigen sollte, dass es sich um einen Scherz handelte und nicht um eine Beleidigung. Doch es war kein überzeugendes Lächeln.

Monika lächelte ebenfalls, wie das brave Mädchen, das sie nicht mehr war, und bedankte sich. Er lächelte abermals. Bitte sehr.

Alter Arsch, schrieb sie.

»Ich fand Ihr Buch überaus interessant«, schmeichelte sie.

»Ja, es ist ja auch die Frucht der Erfahrungen eines langen Lebens. Ich wurde von allen Seiten bedrängt, zu schreiben. Man wollte nicht, dass mein erworbenes Wissen verloren geht.«

Die Erinnerung an die Bitten, seinen intellektuellen Schatz für die Nachwelt zu sichern, ließ ihn erneut lächeln.

Monika nutzte die kleine Pause.

»Ich interessiere mich vor allem für zwei Fälle in Ihrem Buch. Einerseits für den latent homosexuellen Lehrer, der Frauen jagte, und andererseits für die Frau, die ermordet wurde.«

Olzén ließ sich mit halb geschlossenen Augen im Rollstuhl zurücksinken und nickte nachdenklich.

Das Schweigen im Zimmer sprach nicht nur für seine finanziellen Möglichkeiten – dicke Wände und eine ruhige Lage konnten sich schließlich viele kaufen –, es sättigte auch Marits Andacht. Sie saß noch immer reglos da und schenkte Olzén ihre ganze Aufmerksamkeit. In diesem Zimmer befanden sich drei Menschen, aber außer Olzéns Stimme war nichts zu hören. Kein leises Knacken eines Stuhls, kein Rascheln von Stoff, von Schuhsohlen auf dem Boden.

»Ja. Beides interessante Fälle. Leider waren sie nicht in der Lage, großen Nutzen aus dem analytischen Prozess zu ziehen. Streng genommen war es vielleicht falsch von mir, es überhaupt zu versuchen, aber ich wollte den beiden eine Chance geben«, erwiderte er nach einer Weile und lächelte.

»Ich wollte den Menschen immer helfen, selbst den hoffnungslosesten Fällen. Ich hatte immer schon eine Schwäche für Herausforderungen.«

»Und das waren zwei hoffnungslose Fälle?«

Die Falten in seinem schmalen Gesicht änderten ihre Richtung. Die Augenbrauen wanderten hoch, während die Mundwinkel nach unten sanken.

»Ja, leider.«

Marits Gesicht spiegelte seine Miene wider. Sie waren wie Tänzer und Tänzerin, die sämtliche Bewegung verdoppelten.

»Ich fand diese Berichte ungeheuer ergreifend«, stellte Monika nicht ganz unwahrheitsgemäß fest. »Ich konnte sie fast vor mir sehen, obwohl Sie ja nicht viel über ihr Aussehen sagen.« Inzwischen sprach sie ebenfalls leiser, als verlange das die Umgebung.

Olzén lächelte zufrieden.

»Ja, ich habe allerlei positive Reaktionen auf meine Personenschilderungen bekommen.«

»Den Lehrer stelle ich mir mittelblond vor, mit straffer Körperhaltung und einem kleinen Schnurrbart.«

Olzén legte den Kopf schief, während sein Lächeln einem nachsichtigen Grinsen wich.

»Und die Frau als kleine, kurvenreiche Blondine . . .«

»Beides falsch.«

»Was tut man eigentlich als Autor, wenn man über real existierende Menschen schreibt, die nicht erkannt werden dürfen? Ändern Sie zum Beispiel Geschlecht und Beruf? War der Lehrer in Ihrem Buch in Wirklichkeit eine Pilotin, die Männer jagte, weil sie sich mit ihrer lesbischen Veranlagung nicht abfinden konnte?«

Olzén schaute auf. Seine Miene verriet einen Anflug von Unzufriedenheit, als sei Monika zu weit gegangen.

»Durchaus nicht. Er war natürlich Lehrer, und wenn Sie den psychodynamischen Hintergrund verstanden hätten, den ich im Buch detailliert erkläre, wüssten Sie auch, dass es keine Frau sein kann.«

»Ich dachte nur, dass dies eine Methode sein könnte, um die Identität Ihrer Personen zu schützen. Die ermordete Frau war also wirklich eine Frau, und sie stammte aus den von Ihnen beschriebenen Familienverhältnissen?«

»Natürlich. Aber die Initialen sind natürlich ausgedacht, und ich gebe kein Geburtsjahr oder solche Details an«, antwortete er kurz angebunden. Er schien sich mit einem Mal unbehaglich zu fühlen.

»Diese beiden Fälle habe ich eigentlich nur aufgenommen, um zu zeigen, wie schwer es sogar ein erfahrener Kliniker wie ich haben kann. Ab und zu . . .« Jetzt hatte er sich auf sein altes Niveau zurückgezogen und entspannte sich sichtlich. ». . . ab und zu, wenn man über die Fälle von Kollegen liest, bekommt man den Eindruck, dass die Arbeit so einfach war, so selbstverständlich, dass die Deutungen so leicht zu finden waren, dass sich die Erkenntnisse mühelos einstellten. Ich will verdeutlichen, wie selbst der beste Analytiker auf Patienten stoßen kann, denen nicht geholfen werden kann. Patienten, deren Widerstand zu groß oder deren Hass so riesengroß ist, dass er sich nicht in einen Verbündeten umwandeln lässt.«

»Und bei diesen beiden war das der Fall?«

»Bei Homosexualität geht es doch wie bei anderen Perversionen darum, dass sich die Libido, die sexuelle Energie, auf das falsche Objekt richtet, in diesem Fall auf andere Männer.« Jetzt war sein Tonfall wichtigtuerisch, dozierend. Er war die Autorität, die die Wahrheit verkündete. »Die Relation zwischen Perversion und Neurose ist überaus kompliziert. Ich habe übrigens in einer unserer Fachzeitschriften darüber geschrieben. Es ist eine überaus geschätzte Darstellung der Entwicklung der Partialtriebe.«

Monika stellte sich vor, wie Mikael und Patrik lachen würden, wenn sie das hier hörten. Der Opa ist noch antiker als sein Haus, schrieb sie. Das Kratzen des Kugelschreibers hallte in der Stille wider.

»Und was war mit der Frau?«, fragte sie schließlich.

»Sie war höchst immatur, also eine unreife und bereits in jungen Jahren gestörte Person.«

Monika rang mit der Flut an Information, die auf sie einströmte.

»Sie hatte eine prominente Mutter, die für die Vereinten Nationen arbeitete, und war von mehreren Schulen geflogen?«

Olzén nickte.

»Allerdings. Das ist so in der Forschung. Jedes Detail muss korrekt sein, sonst ist alles falsch. Ihr Journalisten könnt es euch etwas einfacher machen, hier ein wenig hinzufügen, dort ein wenig wegnehmen. Die Leute lesen, die Leute vergessen. Wir Autoren müssen da schon vorsichtiger sein. Alle Details in meinem Buch sind korrekt, hundertprozentig. Das bin ich meinen Lesern und meinem Thema schuldig.«

Monika versuchte ihre Reaktion zu verbergen, indem sie ihren Notizblock anstarrte.

Dann muss es Babs gewesen sein, schrieb sie.

Sie bemühte sich um eine ausdruckslose Miene, doch Olzén, der sein Leben den Gefühlen anderer Menschen gewidmet hatte, ließ sich nicht in die Irre führen. Er schaute sie zum ersten Mal aufmerksam an.

»Warum wollen Sie das wissen?«

Monika versuchte ihn durch ihre nächste Frage abzulenken.

»Wie wurde sie ermordet?«

Aber sie hatte ihre Distanz verloren, sprach mit ihrem Herzen. Und deshalb stand sie auf verlorenem Posten.

»Mit Gegenfragen kommen Sie bei mir nicht weiter. Worum geht es hier eigentlich?«, wollte Olzén argwöhnisch wissen.

Angesichts seines kalten Blicks, seines überaus ordentlichen Zimmers und seiner Hohepriesterin und Pflegerin beschloss Monika, die Wahrheit zu sagen.

»Meine Großmutter, die ich leider nie wirklich kennen lernen durfte, war Juristin und arbeitete bei den Vereinten Nationen. Meine Mutter besuchte zunächst eine Schule in New York, wurde dann jedoch auf eine Klosterschule in der Schweiz geschickt, von der man sie verwiesen hat. Am Ende war sie auf einem Internat in Schweden. Sie hieß Barbara Ellen, und als ich die Fallbeschreibung der Patientin las, die Sie Fräulein F. nennen, dachte ich, dass es wohl kaum ein Zufall sein kann, dass so viele Details stimmen. Ich glaube, Sie haben meine Mutter behandelt, und in Ihrem Buch behaupten Sie, sie sei ermordet worden. Ich muss wissen, warum Sie das glauben.«

Olzén erstarrte. Er saß unbeweglich da, als wäre dies ein Garant, dass er nicht unüberlegt handelte, ehe er sich langsam Monika zuwandte.

»Sie haben sich unter falschen Prämissen bei mir eingeschlichen. Allein deshalb könnte ich Sie schon anzeigen. Und jetzt gehen Sie, und zwar sofort!«, schrie er

Monika war überzeugt davon, dass sie in seinem Gesicht nicht nur Zorn, sondern auch Angst lesen konnte. Und Marits Gesicht verriet nicht nur Überraschung, sondern auch eine stärkere Empfindung, die beinahe an Hass grenzte.

»Aber ich . . .«

»Raus hier! Und zwar sofort!«

Sie musste ihre Tasche und ihren Block nehmen und in die Diele fliehen. Sie konnte nicht einmal ihren Mantel anziehen, bevor sie im Treppenhaus stand und die Tür hinter ihr zufiel – nicht wie erwartet mit einem Knall, sondern mit einem gut geölten kleinen Klicken.

Langsam ging sie die Treppe hinunter und hörte, wie hinter ihr die Schlüssel im Schloss umgedreht wurden.

Sie schlich sich wieder nach oben, legte das Ohr an die Tür und lauschte.

»Wie in aller Welt bist du überhaupt auf die Idee gekommen, sie hereinzulassen?«, hörte sie Marits erregte und wütende Stimme.

Er antwortete mit leiser Stimme, aber Monika konnte kein einzelnes Wort verstehen.

Dann wurde es plötzlich still. Die beiden waren offenbar in ein anderes Zimmer gegangen.

Monika dachte nach. Das hier war nicht sonderlich gut gelaufen. Aller Wahrscheinlichkeit war Babs tatsächlich bei Olzén in Behandlung gewesen, aber ganz sicher konnte sie noch immer nicht sein. Olzéns Reaktion konnte auch bedeuten, dass er nicht über Babs sprechen wollte, oder dass er es nicht ertrug, in seiner so behüteten Wohnung die Kontrolle verloren zu haben. Und über den angeblichen Mord, ihre dritte Frage, wusste sie noch immer nichts. Aus Olzén würde sie jedenfalls nichts mehr herausbekommen.

Der Psychologe - Schweden-Krimi

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