Читать книгу Kein Frühling für Bahar. Mehr als eine Hamburger Migrationsgeschichte - Sabine Adatepe - Страница 10

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Träume im Park

„Fahr bis Dammtor“, hatte man ihr gesagt. Am Hauptbahnhof hatten die Menschenmassen sie abgeschreckt und sie war stattdessen bis Jungfernstieg durchgefahren. Durch die Colonnaden, über den Stephansplatz zum Eis-Pavillon am Parkeingang gelaufen. Das war noch bekanntes Terrain. Noch gab es nichts, das ihren Schritt verzögern könnte. Eine Sekunde nur verschwendete sie darauf, sich den Geschmack von Stracciatella vorzustellen, ein erstes Eis in diesem Jahr, um den verführerisch schönen Tag zu feiern, viel zu warm für April. Die Schlange vor der Eisausgabe trieb ihr im Handumdrehen den verwegenen Gedanken wieder aus, bevor er noch zum Wunsch hatte werden können. Zielstrebig betrat sie den Park, vier Stufen hinunter, auf den asphaltierten Weg um den Teich herum. Da stand das Mammutblatt zur Linken. Ein Lächeln huschte Leonie über die Lippen, sie strich sich eine widerspenstige, rötliche Strähne aus der Stirn, hielt inne, versank in den Anblick dieses Urgewächses.

Die Blätter sattgrün, stachelig und riesig schon jetzt, da sie sich gleich Dschungelhänden gerade erst entfalteten. Wie sie sich an ihren kräftigen, langen Stängeln wanden und streckten! In der Mitte jeder Staude war eine Dolde, kerzengleich und stolz mit wurmartigen Fäden. Noch überragte sie majestätisch die aus knorrigem Ballen wuchernde Pflanze, bald würden die ungeheuren Blätter sie für den Rest des Jahres in den Schatten stellen. In jedem Park, vor jedem Garten, in dem sie das Mammutblatt entdeckte, blieb Leonie stehen, träumte sich aus der Gegenwart in eine Art Ursuppe hinein und hätte sich nicht gewundert, wenn den Schildkröten, die hier aus dem Teich auf ihre Sonnenterrassen kraxelten, Dinosaurier gefolgt wären.

Das musste die Stelle sein, wo die Skaterin in den Mammutblätterwald gerauscht war, weil sie die Kurve nicht gekriegt hatte. Burak war mit der Clique abends noch im Park gewesen, am nächsten Tag hatte er die Geschichte in der Klasse zum Besten gegeben. Dass die Clique zuvor unter Gejohle eine Parkbank im Teich versenkt hatte, verschwieg er geflissentlich. Leonie hatte an seinen Lippen gehangen. Rasch verkniff sie sich das Lachen, das ihr nach all der Zeit noch heute aus der Kehle brechen wollte, wenn sie nur daran dachte, wie Burak die Szene im Park mit großen Gesten ausgemalt hatte. Erst als Tayfun dazukam, hatte er, ohne dass ein Wort von Tayfun nötig gewesen wäre, den Schwanz eingezogen und dem Leitwolf das Feld überlassen. Noch in der Erinnerung daran rümpfte Leonie die Nase. Das hatte Burak doch gar nicht nötig. Warum nur ordnete er sich diesem Unsympath stets widerspruchslos unter? Es war, als ließe jemand die Luft aus ihm heraus, sobald Tayfun oder ein anderer aus der Gang auftauchte. Leonie hatte das nie verstanden und sie hatte es gehasst.

Wildes Gekreische von Eichelhähern, die sich durch die Baumwipfel am Hang jagten, störte sie aus ihren Gedanken auf. Leute saßen auf Bänken und Rasenflächen und genossen die schon wärmende Sonne. Es war nicht Leonies Art, die Schule zu schwänzen. Sie hatte, als sie mit Burak noch in derselben Klasse gewesen war, ab und an aus einem diffusen Solidaritätsgefühl heraus mitgeschwänzt, obwohl sie nie zur Clique gehört hatte. Die heimliche Freude, die die anderen empfanden, weil sie sich als Helden, schlauer als Lehrer und Eltern fühlten, und sich über deren unerträgliche Regeln hinwegsetzten, konnte nie das Herzklopfen aufwiegen, das sie quälte, wenn die Mutter nach dem Morgen in der Schule fragte. Mutti wollte nicht kontrollieren, das wusste sie. Sie fühlte sich schuldig. Mutti hatte einen Ein-Euro-Job angenommen, viel zu viel Arbeit für zu wenig Lohn. Sie tat, was sie konnte, auch wenn das wenig genug war, um Leonie etwas zu bieten, wie sie es nannte, und damit Leonie nicht darunter leiden musste, dass ihr Vater es vor Jahren vorgezogen hatte, sein Patchwork-Leben anderweitig fortzusetzen. Eine heile Welt hatte Leonie auch vorher nicht gekannt; für sie war das ewige Gekabbel zwischen den viel zu jungen Eltern normal gewesen. Sie wusste, dass sie ein Unfall war. Die Mutter hatte nie einen Hehl daraus gemacht, ebenso wenig wie daraus, dass sie sich überfordert gefühlt hatte mit dem Baby, aber zu stolz war, um Hilfe zu bitten. Irgendwann hatte die Mutter sich nicht anders zu helfen gewusst, als sich mehr und mehr dem Alkohol hinzugeben. Da war es die Nachbarin gewesen, Frau Treibel, Oma Uschi, wie Leonie sie nannte, die sie aus dem Sumpf gezogen hatte. Selbst in Frührente und kaum das, was man eine Vorzeigefrau nennen konnte, sorgte sie für regelmäßige Mahlzeiten und auch dafür, dass Leonie ihre Hausaufgaben nicht nur machte, sondern zu verstehen begann, was sie lernte. Oma Uschi dozierte nicht, an jeglichem Talent zum pädagogischen Zeigefinger mangelte es ihr. Sie machte einfach alles und jeden zu ihrer ureigenen Sache, fand alles interessant und verstand es, diese Neugier und Begeisterung für das Lernen und das Leben an Leonie weiterzugeben.

Deshalb konnte Leonie zwischen Wasserrallen und Blesshühnern unterscheiden, die mit Stockenten, Haubentauchern, Silber- und Lachmöwen, deren buntgescheckte Hälse den Übergang zum Sommerkleid markierten, um die Brotkrumen konkurrierten, die ein Dreikäsehoch zwischen Mutter und Großmutter ins Wasser warf. „Vögel füttern verboten“, zischelte sie. Oma Uschi hatte ihr oft genug erzählt, dass die Vögel nur ihre Selbstständigkeit einbüßten, wenn man sie noch im Frühling fütterte. Dann hatten sie beide geseufzt und Leonie hatte den Enten weiter Krümel zugeworfen auf dem Teich, der, gleich hinter den Bahngleisen gelegen, aus ihrer Kindheit nicht wegzudenken war, und nun IBA oder IGS weichen oder nur noch gegen Bezahlung zugänglich sein würde. Mit dem versumpften, verträumten Tümpel ihrer Vergangenheit mit Oma Uschi würde er jedenfalls nichts mehr gemein haben.

Als sie jetzt einen Reiher am gegenüberliegenden Ufer entdeckte, hielt Leonie kurz inne. Für einen Augenblick schmolz der Kloß in ihrem Hals. Beschwingt waren ihre Schritte, als sie an den Mittelmeerterrassen vorbeilief. Mit Macht hielt sie ihre Gedanken an dem fröhlichen Treiben auf dem Parksee fest, um nur nicht daran denken zu müssen, warum sie überhaupt hier war. Noch einmal blieb sie stehen, ließ sich erfolgreich ablenken, als sie an das Mosaik unter der Brücke Jungiusstraße kam. Was stand da? Christo Aller Erde? Seltsam. Minutenlang beäugte Leonie die Einlegearbeit aus diversen Perspektiven, ohne schlau daraus zu werden. Gleich darauf ein Zahlenrätsel, ach, das Übliche, die Reihen waagerecht und senkrecht ergaben jeweils fünfzehn in der Summe. Kaum drei Schritte weiter eine fantastische Figur, ein schmaler bunter Kopf auf mächtig ausuferndem Rumpf, ob männlich oder weiblich war letztlich nicht zu klären, aus bunten, funkelnden Scherben und Mosaikplättchen, Pflastersteinen und Kieseln gelegt, ein Flaschengeist mit ausgestreckten Armen und einem machtvollen Grinsen im unförmigen Pflastergesicht unter rot-orange gezackter Krone, eine Königin, oder doch ein König. Leonie schaute und staunte. Als sie merkte, dass sie schon unmittelbar vor der entscheidenden Abzweigung stand, hatte sie plötzlich das sichere Gefühl, dieser Mosaikkönig auf dem Boden sei ein gutes Omen. Sie schluckte. Ging weiter, ließ den Kindergarten hinter sich, bog unmittelbar dahinter rechts ein. Ja, da lag der unheimliche Komplex schon vor ihr, hinter Mauern, einzelnen Bäumen und Sträuchern nicht wirklich verborgen.

Eine Mauer aus verwaschenem Beton mit Stacheldraht, mit Nato-Draht bekrönt, mehr als mannshoch, der Länge nach, sorgfältig ohne die kleinste Lücke, keine Chance für eine Hand, einen Fuß, geschweige denn einen ganzen Mann. Davor ein weiterer Zaun und noch eine niedrigere Mauer mitten im Park. Dahinter mehrere schmutzige, klobige Rotklinkerbauten mit Fensterluken, vergittert. Zwei ungeheure Bauten, abweisend, in der Mitte ein älteres, helleres Gebäude mit großen Fenstern. Zwischen Mauer und Gebäuden musste ein Hof liegen. Zwei Wachtürme hockten auf der Mauer in zweifellos exakt vermessenem Abstand, der eine mit silbern glänzender Jalousie gegen das Sonnenlicht, das zu dieser Jahreszeit noch kaum nennenswert war. Lächerlich. Leonie durchfuhr ein Schauer, unwillkürlich schüttelte sie sich, riss den Blick los.

Auf der Wiese standen klobige Gartenstühle, auf einem Zierhügel saß eine Gruppe Mädchen, sie lachten, kicherten. Ein Junge und ein Mädchen, kaum älter als Leonie, kauerten unter einem Baum. Der Junge zeichnete mit einem Stock flüchtige Muster in das kurz geschorene Gras zu seinen Füßen. Das Mädchen sah zum Gefängnis hinüber. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Leonie beschleunigte ihren Schritt. Weiter vorn spielte ein Pärchen Federball. Ein kleiner Junge stolperte hinter einem Ball her. „Nicht ans Wasser, Paulchen, geh nicht so dicht ans Wasser!“, kreischte eine junge Frau, die mit einer Illustrierten auf den nackten Beinen in einem der großen Gartenstühle saß. Eine junge Dogge, mit der Nase in dem schmalen Wasserlauf, sorgte für wütendes Geschnatter bei einer Entenfamilie. Die ersten Küken, freute Leonie sich. Eine ältere Frau hatte sich die Brille ins Haar geschoben und strickte. Eine Idylle, wollte es Leonie scheinen. Sie vermied den Blick nach rechts, zur Mauer, zur Rückfront des Untersuchungsgefängnisses Holstenglacis.

Da hörte sie es. Ein heiserer Schrei, ein Name vermutlich. Dreimal, viermal. Es klang wie „Tieriiisch“. Eine Antwort von jenseits der Mauer, dumpf, wie der Aufschrei eines Löwen, waidwund, getroffen vom tödlichen Schuss des Jägers. Unwillkürlich flog Leonies Kopf hoch und in Richtung dieses Urschreis. Da entdeckte sie die Gestalten an den Fenstern. Hier und dort hockte jemand hinter dem Gitter, schien im Fensterrahmen zu sitzen. Weiter oben gestikulierte einer wild. Jetzt kamen mehrere Stimmen, Männerstimmen. Leonie verstand kein Wort. Gebannt starrte sie auf die Gefängnismauer, verfolgte das unwirkliche Theater, das sich vor ihren Augen abspielte, ihr aber dennoch das Gefühl gab, sie sähe einen Film. „Tîreeeeeej! Umudunu kesmeeeee …“ Und wieder eine Antwort von einem der Fenster. Leonie hörte die Worte aus dem Park deutlich, verstand aber weder sie noch die Antwort aus dem Gefängnis. Dieses verzweifelte „Tîrej“ immerhin riss sie aus ihrer Starre. Sie drehte sich um, forschte, woher der Aufschrei gekommen sein mochte. Vor dem Wasserlauf standen zwei junge Frauen. Ja, die eine rief etwas. Die andere nahm die Ruferin wieder und wieder in die Arme, versuchte, sie mit sich fortzuziehen. Statt weiter über die Mauer zu rufen, stritten die beiden jetzt lauthals miteinander. Das war deutlich, auch wenn Leonie wieder kein Wort verstand.

Der Komplex wurde auch als Abschiebeknast genutzt, fiel ihr jetzt ein. Ja, eigentlich war es diese Eigenschaft, von der sie am häufigsten gehört hatte. Mit Wut oder Verzweiflung, nicht selten auch Hass in den Stimmen derer, die davon erzählten.

Eine Melodie klang über die Mauer. Melancholisch, Worte wie aus sonnenglühender Steppe, ohne Wasser, ohne Grün, ohne Hoffnung auf eine Oase in den nächsten tausend Jahren. Abschiebeknast, wie das wohl offiziell heißen mochte? Sie wollte nicht wissen, welchen Euphemismus sich die deutsche Bürokratie dafür ausgedacht hatte. Sie war mit ihren gerade mal sechzehn Jahren erwachsen genug, um zu wissen, was Abschiebung bedeutete. Ob die auch Burak drohte?

Als hätte jemand ihr eine kräftige Ohrfeige versetzt, glühte ihr Gesicht auf. Burak! Seinetwegen war sie hier. Hinter diesen Mauern irgendwo saß auch er. Man ließ sie nicht zu ihm. Wer war sie schon? Nicht einmal seine Freundin. Sie seufzte. Ließ den Kopf hängen, den Nachklang der Sehnsuchtsmelodie noch im Ohr, ging ziellos weiter. Noch ein wenig näher an die Mauer heran. Stacheldraht. Einmal die Mauer berühren. Vielleicht würde ihr das helfen zu begreifen, wie wirklich alles war, dass sie keineswegs irgendwo in einem Kino saß und das Schlimmste am Ende die nassen Tempos in den Hosentaschen sein würden. Beherzt bog sie auf den Sandweg ein, ging auf die Mauer zu. Da war ein Durchbruch. Metallstreben verschlossen die Öffnung. Eine Skulptur. „Wand-Lung“ stand daneben zu lesen, 1963 zur IGA angebracht. Kunst! Leonie war fast empört. War das ein Ort für Kunst? Auf den zweiten Blick sah sie, dass nicht die Mauer zum Gefängnis durchbrochen war, sondern die niedrige Vormauer, deren beide Seiten in den Park ragten. Kunst, dachte sie noch einmal abfällig, aber weniger wütend, bevor sie weiterging.

Unverrichteter Dinge umkehren und denselben Weg aus dem Park zurückgehen, das konnte sie nicht. Sie war nicht mehr dieselbe, auch wenn äußerlich nichts geschehen war. Ihr Verstand hatte ihr von Anfang an gesagt, dass sie Burak nicht sehen würde. Dennoch hatte sie nicht anders gekonnt, als ihre Verzweiflung, ihre Sehnsucht, ihre Hilflosigkeit hier in den Park zu tragen, wie so viele junge Mädchen und Frauen, deren Freunde, Männer, Söhne oder Väter dort hinter Gittern saßen, in U-Haft, schon verurteilt oder auf die Abschiebung wartend, wohin auch immer.

Sie streckte die Hand zu der niedrigen Vormauer aus. Porös und kühl leistete der Stein Widerstand. Sie drehte sich um, lehnte den Rücken an die Mauer, schloss die Augen. Die Parkszenerie verschwamm, aus dem Nebel tauchte Burak auf. Burak, wie er damals gewesen war, als sie sich in ihn verliebt hatte. Sie schluchzte auf. Das Bild verflog. Kinderstimmen, Lachen, ein Paar stritt sich um die letzte Zigarette, Motorengeräusche. Es gelang ihr nicht, die Geräusche zu einem Strom einzuschmelzen, auf dem sie ihre Gedanken hätte fließen lassen können. Das Grün des Parks war zu einem blassen Violett geworden, die störenden Geräusche durchzuckten es gelb und grell. Sie schlug die Augen auf. Keine drei Schritte vor ihr hockte eine Krähe auf den Waschbetonplatten und starrte sie mit schief gelegtem Kopf und schwarzblau schimmerndem Blick an. Leonie wischte den Rest von Gedanken und Wünschen mit einer Handbewegung weg, die Krähe flog kopfschüttelnd davon. Vielleicht sollte sie es mit Hilfe eines Baumes noch einmal in Ruhe versuchen. Gestrüpp und Gesträuch vor der Mauer waren bewusst niedrig gehalten, da floss keine Energie. Die Birke da vorn war groß genug, krumm und schief, aber sie stand ihren Baum, das spürte Leonie schon aus zehn Metern Entfernung. Sie stellte sich unter den Baum, schaute in die Krone hoch, das helle Grün der zarten Blätter steckte auf halbem Weg zwischen Frühlingsminze und Sommersatt. Mit beiden Händen berührte sie den Stamm, lächelte, als das von schwarzen Flecken durchsetzte Weiß sich ihr förmlich entgegenwölbte. Still dankte sie dem Baum, der sie annahm, sie verstand, sie unterstützen würde. Als sie den Rücken an den in dieser Höhe kräftigen Stamm lehnte, hatte sie den Park hinter und das Gefängnis vor sich. Sie schloss die Augen. Und riss sie wieder auf.

Da war ein Schild, das heißt, gleich drei: Drei weiße, metallene Plaketten. Fotos waren darauf, Namen, Daten, Texte. Leonie ging darauf zu. Bevor sie die Nase rümpfen konnte, schon wieder Kunst, völlig fehl am Platze, erkannte sie, dass es sich hier um etwas völlig anderes handelte:

fast 500 Menschen enthauptetFrauen und Männer, die sich am europäischen Widerstand gegen die deutsche Okkupation und Kriegsführung beteiligt hatten, fanden hier den Tod durch das Fallbeil

Der Kloß, der ihr noch immer irgendwo zwischen Kehle und Magen saß, füllte ihr die Brust mit gelber Galle. Aus empörter Verachtung für unangebrachte Kunst im öffentlichen Raum wurde ein Schock. Wie angewurzelt stand Leonie vor den Inschriften, las wieder und wieder, buchstabierte die Namen, lernte die Daten auswendig. Krähen, nun waren es zwei, rabenschwarz mit gewaltigen Schnäbeln, stocherten neben ihr in den Ritzen der Gehwegplatten herum, wagten sich näher und näher an ihre flachen Sohlen heran, ohne dass Leonie sie wahrgenommen hätte.

Sie mochte Stunden hier gestanden haben, so kam es ihr vor, als ein Schatten sie aus der Erstarrung riss. Der unangenehme Duft von kaltem Rauch und Alkohol stieg ihr in die Nase. Als sie den Kopf drehte, traf ihr Blick auf ein zerfurchtes Gesicht mit einem schmierigen Grinsen in einer Kapuze mit Pelzbesatz, die zu einem zerfledderten Anorak gehörte, viel zu groß für das Männchen, das darin steckte und sich neben ihr aufgebaut hatte. Als die Quelle des schlimmsten Gestanks aufklappte, nahm Leonie Reißaus, bevor der Mann noch zu Wort kam. Undeutlich hörte sie ihn hinter sich her schimpfen. Wenige Schritte weiter war sie schon an der nächsten Brücke, da war das Hinweisschild U-Bahn Messehallen. Nur raus aus dem Park, hinein ins Verkehrsgewühl der Innenstadt. Sie stürmte die Stufen zum Johannes-Brahms-Platz hoch und eilte durch die Kaiser-Wilhelm-Straße zum Gänsemarkt hinunter.

Völlig außer Atem hielt sie an, die Blicke der Leute bemerkte sie nicht, besorgt die einen, belustigt die anderen, und war schon am Jungfernstieg. Nein, jetzt in die Bahn steigen und einfach wieder über die Elbe gen Süden fahren, nach Hause, wollte sie nicht. Den Weg zum Hauptbahnhof kannte sie. Sie schob sich die Tasche vor den Bauch und begann bewusst gemächlich durch die Mönckebergstraße zu schlendern. Leute mit Dollarblick, Taschen einschlägiger Boutiquen am Arm, hey, hier gibt’s T-Shirts für 4,99 und an der Ecke wieder Sale, nur kurz reinschnuppern, wir brauchen doch für die Sitzecke noch … Kurz vor dem Hauptbahnhof drehte sie um und lief den ganzen Weg wieder zurück.

Es war nichts geblieben von der Euphorie, die sie noch beim Anblick des Mosaikkönigs im Park gespürt hatte, die sie verleitet hatte, trotz unklarer Erwartungen diese Reise in den Park, vor die Gefängnismauern, überhaupt anzutreten. Nicht, dass ihr Spontaneität abginge. Am liebsten war sie spontan, wenn ihr nüchtern und klar ein Ziel vor Augen stand. Nun aber, in dieser Sache mit Burak, war das Gegenteil der Fall. Sie musste etwas tun. Sie würde vor die Hunde gehen, wenn sie nicht endlich den Nebel durchdrang, der ihr mit klammen Händen Herz und Verstand lähmte, seit Wochen schon. Was konnte, was sollte sie tun?

Kein Frühling für Bahar. Mehr als eine Hamburger Migrationsgeschichte

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