Читать книгу Kein Frühling für Bahar. Mehr als eine Hamburger Migrationsgeschichte - Sabine Adatepe - Страница 9

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Eine Welt zerbricht

Sie war fünf, als ihre Welt zum zweiten Mal zerbrach. Prinzessin, kleine Königin in den Augen ihres Vaters war sie nie gewesen, ganz im Gegenteil. Vom ersten Tag an war sie ein Grund zur Scham für den aus Anatolien stammenden Mann gewesen, der sich für integriert hielt und das nicht zuletzt mit wechselnden deutschen Freundinnen zu beweisen versuchte. Sie war weder ein ersehnter, erwarteter und versprochener Sohn, ein Stammhalter, der den Herd am Brennen halten würde, wie man sagt, noch auch nur erwünscht. Sie war weniger als verschüttetes Wasser. Ihr Vater konnte sie nicht lieben. Er hätte sie akzeptieren können. Was er tat, war viel weniger als das: Er nahm sie hin. Sie kannte es zeitlebens nicht anders, es war für sie normal. Auch von der Mutter war sie nichts anderes gewohnt. Dass es anders hätte sein können, begann sie zu ahnen, als Burak geboren wurde. Der Bruder. Als er das Licht der Welt erblickte, zerbrach ihre. Sie war alt genug, um das Aufleuchten in den Augen ihres Vaters zu bemerken, in den wenigen Augenblicken, in denen er den Sohn auf den Arm nahm. Dass es ein mit Panik durchsetztes Flackern war, erkannte sie nicht. Ihr hatte er übers Haar gestrichen, ein, zwei Mal in diesem einen Jahr. Die eigentliche Verwandlung aber geschah mit der Mutter. Sie blühte auf, ihre Stimme klang wie die einer anderen Frau; gefärbt von Stolz und Kindesliebe, wie Bahar sie ihr in den fünf Jahren zuvor niemals hatte entlocken können.

Kaum ein Jahr zuvor war ihre Welt schon einmal auf den Kopf gestellt worden. Doch als Kind vergisst man schnell, viel zu schnell. Die ersten Jahre im Dorf waren vermutlich die glücklichsten ihres Lebens. Eine anneanne, Großmutter, die sie zärtlich liebte, ein dede, Großvater, der sie nicht minder liebte, auch wenn er das nicht so recht zeigte. Dass der Vater fehlte, ließ niemand sie spüren. Die langen Blicke von Nachbarinnen, das Seufzen von Dede bezog sie nicht auf sich, auch wenn ihr all das nicht entging. Sobald man mitbekam, dass sie den Wurm spürte, der da irgendwo in der Brust nagte, nahm man sie in den Arm.

Als sie vier war, kamen im Sommer fremde Leute ins Haus, denen sie die Hände küsste, wie allen älteren Leuten, so war es üblich, so hatte man es ihr beigebracht. Dass die beiden ebenfalls ihre Großeltern waren, realisierte sie nicht. Wie gut, dass in ihrer Muttersprache die Wörter für die Eltern der Mutter andere sind als die für die Eltern des Vaters. So kam sie gar nicht auf die Idee, dass die beiden in einem ähnlichen Verhältnis zu ihr standen wie Anneanne und Dede. Die Geschenke, die sie ihr mitgebracht hatten, nahm sie gern. Sie war ein Kind. Es war ein Abenteuer, als nach wenigen Wochen die Mutter packte und sich mit ihr gemeinsam den neuen Großeltern anschloss. Beunruhigt war sie nur, weil Anneanne zurückblieb. Sie war es gewesen, die sich am meisten um sie gekümmert hatte, viel mehr als die Mutter. Sie wurde nicht gefragt, ihr wurde nicht gesagt, wohin es ging und warum überhaupt. Was hätte es geändert, wenn jemand sich die Mühe gemacht hätte, mit dem kleinen Mädchen zu reden? Hätte sie es verstanden? Sie war nie aus dem Dorf herausgekommen. Im Dorf hatten die Frauen wenig mit den Männern zu tun. Sie als Mädchen war stets von Frauen umgeben gewesen, mit vielen anderen Mädchen zusammen. Über einen Vater wurde nicht gesprochen. Sie vermisste keinen.

Das änderte sich schlagartig mit der Ankunft in Wilhelmsburg. Natürlich wusste sie damals weder den Namen des Stadtteils noch der Stadt noch des Landes, dessen Staatsbürgerin sie schon bald wurde. Dank des Vaters, der ihr nie einer gewesen war, der auch nicht da war, als sie ankam, der aber bald schmerzlich zu fehlen begann. Denn hier gab es keine Dorfgemeinschaft, keine Gemeinschaft von Frauen, die die Mutter aufgefangen hätte, die sich von einer drallen, stoischen Dorffrau in ein tagein, tagaus von Heulen geschütteltes fremdes Wesen verwandelte. Im Dorf hatte Bahar kaum geweint, es gab immer Kinder, denen es schlechter ging. Konflikte regelten die Kinder unter sich. Leistete sich dennoch eins einen Anfall von Eigensinn oder gar eine Trotzphase Erwachsenen gegenüber, wurde dem rasch Einhalt geboten. Die Kinder waren weder glücklich noch unglücklich, ebenso wenig wie ihre Eltern. Fragen nach Glück, nach Wünschen, nach Erfüllung in den Daily Soaps wurden als ebenso realitätsfern wie ungehörig bestaunt – und abgetan.

Auf einen Schlag war nun alles auf das Verhältnis von Mutter und Tochter reduziert. Bahar leistete der Mutter bei ihren Heularien Gesellschaft, bis es ihr zu langweilig wurde. Nach wie vor hatte sie eigentlich keinen Grund zum Heulen. Sie wurde nicht schlecht behandelt, stand sogar plötzlich im Mittelpunkt des Interesses. Nur ihr Aktionsradius war eingeschränkt auf die Wohnung, parallel zu dem ihrer Mutter, aber das wurde ihr erst sehr viel später klar. Es wurde rasch langweilig. Niemand kümmerte sich ernsthaft um sie. Auch die Mutter nicht, aber das war im Dorf nicht anders gewesen. Der Mann, den sie fortan baba nannte, Vater, ließ sich kaum blicken. Die wenigen Stunden oder Tage, die er da war, verliefen in stiller Spannung oder lauter Auseinandersetzung. Anwesenheit wie Abwesenheit wurde ihm vorgeworfen. Von den neuen Großeltern hörte das kleine Mädchen Vorwürfe, die mit „deine Mutter“ begannen und mit „dein Vater“ endeten, begreifen konnte sie nicht einen.

Das änderte sich, als Burak kam. Vorwürfe gab es zunächst keine mehr, die Mutter begann, bei der täglichen Hausarbeit zu summen, was Bahar an die Oma im Dorf erinnerte. Die hatte stets inbrünstig gesungen bei der Arbeit, ob auf dem Feld oder im Haus. Die Mutter summte nicht lange und auch die Vorwürfe setzten wieder ein, der Vater wurde vom seltenen Gast zum Fremden. Trotzdem war alles anders.

Was blieb ihr anderes übrig, als Burak zu lieben? Viel, sehr viel: Sie konnte ihn ignorieren, konnte ihn hassen, konnte versuchen, ihn ebenso schnell zu beseitigen, wie er plötzlich in ihr Leben eingebrochen war. Und das tat sie, mehrfach, doch ebenso erfolglos wie wiederholt. Vielleicht wollte sie ihn nicht wirklich aus der Welt schaffen, sondern vielmehr und eigentlich mit ihren verzweifelten Anschlägen auf sein Leben Aufmerksamkeit auf sich, auf ihre Existenz, ihr Schattendasein, ihr Leben lenken. Das gelang für Augenblicke und niemals mit dem Ergebnis, das sie sich gewünscht hätte. Zunächst hielt man es für einen Unfall, „wie ungeschickt die Kleine ist“… Wieso war sie „die Kleine“ und Burak, der fünf Jahre nach ihr kam, schon „der Große“, als er noch kein Wort verstand, geschweige denn selber sprechen konnte?

Lachte er mehr, lächelte er schon aus seinen Windeln heraus, hatte sie mehr geschrien als er, war er also das stillere, pflegeleichtere, liebere Kind? Das fragte sie sich oft und fragte auch die Mutter danach. Die wischte es vom Tisch, mit einem Zipfel ihres Kopftuchs, ihres, wie der Tochter schien, stets zerknitterten T-Shirts, schon lange trug sie keine Blusen mehr, oder ihres Rocks; hätte die Pluderhose darunter einen Zipfel gehabt, hätte sie auch den zum Wegwischen benutzt. Wischte die Fragen der Tochter weg, wie sie immer alles wegwischte. Auch später. Zuhause oder in ihren zahllosen Jobs. „Reinigungskraft“ war das einzige Wort, das sie in korrekter Aussprache aus den Jahren im Deutschkurs mitbringen sollte.

Kein Frühling für Bahar. Mehr als eine Hamburger Migrationsgeschichte

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