Читать книгу Rabenauge - Sabine D. Jacob - Страница 12
4. Kapitel
ОглавлениеDie Asphaltstraße mündete in ein Rondell, das an der rechten Seite einige mit Kopfsteinpflaster befestigte Parkbuchten bereithielt. In der Mitte thronte eine blattlose Trauerbuche mit ausladendem grauen Geäst. Sie war umgeben von einem Bodendecker, der offensichtlich unter Schneckenfraß litt.
Jeremy stieg aus dem Wagen und runzelte die Stirn. Es roch leicht muffig. Er kannte diesen Geruch von früheren Besuchen auf Trinale. Damals reichten ihm die Treppenstufen in der Eingangshalle noch bis an die Knie. Seine kleinen Hände konnten die Streben des Geländers nur knapp umklammern, während er die endlos scheinende Treppe in die obere Etage erklomm. Dort hingen im Winter stockfleckenübersäte Daunendecken auf einer Leine. Sie dienten den Kindern als beliebtes Versteck. Erst als seine Hände die Holme des Geländers umfassen konnten, begriff Jeremy, dass die Bettdecken als Versteck ungeeignet waren, da zwar sein Oberkörper unsichtbar wurde, seine Beine aber unten herausschauten.
Er erinnerte sich gut daran, wie spannend es unter diesen Decken war. Er hielt das Leinen mit den Händen immer von seinem Gesicht weg und sog die Luft tief ein – gleichzeitig bemüht nicht durch die Nase zu atmen, um den Ausdünstungen zu entkommen. Die feuchte Luft war knapp unter den Daunendecken, und der muffige Geruch verstärkte den Eindruck, nicht genug Sauerstoff zu bekommen und zu ersticken. Je länger Jeremy darauf wartete, gefunden zu werden, umso schneller schlug sein Herz, umso tiefer wurde die ihn umfangende Dunkelheit und umso heißer wurde ihm. Dann kam der Moment, an dem er es nicht mehr aushielt, die verschossenen rosafarbenen Decken auseinanderschob und wie ein Taucher an der Wasseroberfläche einige tiefe Atemzüge nahm, bevor er wieder unter dem wolkigen Deckenberg verschwand.
Der Anflug eines Lächelns kräuselte kurz Jeremys Lippen, dann lenkte ihn ein weiterer Geruch ab. Unwillkürlich zog er sein Taschentuch hervor und schnäuzte sich. Der beißende Ammoniakgeruch hatte sich aber schon in seinen Schleimhäuten festgesetzt.
Irritiert schaute er sich um. Er konnte nicht erkennen, woher der Gestank kam. Jeremy schob es auf den Klärteich, der hinter dem Herrenhaus lag.
Er stieg die vier von einem Portal überdachten Steinstufen hoch, bis die große zweiflügelige Eichentür vor ihm aufragte. Sie war übersät von winzig kleinen Einkerbungen. Das war ihm vorher nie aufgefallen. Mit den Fingerkuppen strich er darüber.
Ein schmiedeeiserner Raubvogelkopf von der Größe einer Kanonenkugel war an der Tür befestigt. Ein Ring, der durch den Schnabel führte, diente als Türklopfer. Jeremy hob die Hand und wollte ihn betätigen, als die Tür einen Spalt aufgerissen wurde, eine Hand ihn am Arm packte und hereinzerrte.
Der Schreck fuhr Jeremy in alle Glieder. Die Hand zur Faust geballt schoss er herum. Im letzten Moment bremste er sich. »Du meine Güte, Nolan! Verdammt, du hast mich ganz schön erschreckt«, entfuhr es ihm.
Nolans Hand zuckte vor und presste sich auf Jeremys Mund. »Still! Nicht hier! Hier ist es nicht sicher!«, raunte er und zog den Kopf zwischen die Schultern. Sein Blick huschte hektisch durch die große Eingangshalle, die von einem breiten Treppenaufgang beherrscht und nur spärlich von eindringendem Tageslicht erhellt wurde. »Ruhig! Kein Wort mehr jetzt! Komm mit!« Hastig drehte Nolan sich um. Er zog Jeremy am Ärmel mit sich, und der stolperte halb blind nach dem Tageslicht draußen hinter ihm her.
Nolan bugsierte ihn zur Bibliothek. Hier war es ebenfalls dämmrig. Nur mühsam gewöhnten sich Jeremys Augen an das schummrige elektrische Licht, das eine grünbeschirmte Tischlampe im Raum verteilte. Deckenhohe Regale, vollgestellt mit Büchern, zogen sich an den Wänden entlang. Ledergebundene Folianten und alte Bibeln standen ganz oben. Einige waren quergestellt, weil die Höhe der Regalfächer nicht ausreichte. Weiter unten befanden sich dicht an dicht weitere Bücher mit zum Teil bereits verblasster Schrift auf den festen Einbänden. In den unteren Regalen lagen kreuz und quer Taschenbücher, daneben stapelweise GEO-Zeitschriften.
Nolan schloss leise die Tür und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Jeremy erschrak, als er ihn genauer betrachten konnte. Ihr letztes Treffen lag zwar schon ein halbes Jahr zurück, in dieser Zeitspanne schien Nolan aber um mehr als fünf Jahre gealtert zu sein. Sein unrasiertes Gesicht wirkte so fahl, als würde es das Sonnenlicht vermissen. Das ehemals blauschwarze Haar lag ungepflegt auf dem Hemdkragen auf und war von grauen Strähnen durchzogen. Seine Schultern hingen schlaff herab, und er nestelte an seinen Fingernägeln, die an vielen Stellen bereits blutig rote Ränder aufwiesen.
Nolan schüttelte langsam den Kopf und sagte verzweifelt: »Du hättest nicht kommen dürfen! Das hab ich dir doch ausdrücklich gesagt! Warum hast du nicht auf mich gehört?«
Entsetzt starrte Jeremy ihn an. War Nolan jetzt auch ein Opfer von Schwermut oder Wahnsinn geworden wie seine Frau?
Unmittelbar breitete sich in Jeremy Mitleid aus und ein Schuldgefühl, weil er sich so lange nicht gemeldet hatte.
Nolan war seit etwa einem halben Jahr verwitwet. Seine Frau Zelma, die schon als junges Mädchen nur in Schwarz herumgelaufen war, hatte sich von den Klippen gestürzt und so ihrem Leben ein Ende bereitet.
Nolan sprach von einem Fluch, der über der Familie der Verblichenen lastete. Sie war die elfte Frau verteilt über vier Generationen, die aus Schwermut ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte. Immer noch trauerte er um sie, ihre Zartheit und ihr ätherisches Wesen.
Jeremy erinnerte sich ungern an sie. Sie war ihm immer unheimlich gewesen. Leise wie ein Gespenst war sie stets plötzlich aufgetaucht, immer in Schwarz gekleidet und im Aussehen an Morticia Addams erinnernd. Leider hatte Zelma nichts von deren Humor, wohl aber die Schönheit, die bei Männern unweigerlich Beschützerinstinkte wachrief. Die mit schwarzem Kajal betonten grünen Augen waren von Wimpern umrahmt, die so lang wie die Beine einer Schnake waren. Sie wirkten in ihrem ansonsten blassen Gesicht wie unergründliche Seen. Jeremy wusste nie, was sich hinter Zelmas glatter Stirn abspielte. Das verunsicherte ihn.
Lebhaft in Erinnerung waren ihm ihre Begrüßungen. Ohne einen spürbaren Widerstand legte sie ihre zarte weiße Hand in seine. Es fühlte sich jedes Mal an, als ob er ein feuchtes Spültuch halten würde. Nach diesem körperlichen Kontakt musste er stets an sich halten, um sich nicht die Finger am Hosenbein abzuwischen.
Ansonsten wusste er von ihr nicht viel. Er freute sich nur mehr, wenn sie einen Raum verließ, als wenn sie ihn betrat.
Zelma schien gar keinen Einfluss auf ihre Umgebung nehmen zu wollen, und doch konzentrierte sich alles auf sie, sobald sie eintrat.
Der Umgang mit ihr hatte etwas von dem mit einer Schwerkranken – Gespräche wurden leiser geführt, Diskussionen sofort unterbrochen und man hüstelte kurz in die vorgehaltene Hand, um die verlegene Stimmung zu überbrücken, die zeitgleich mit ihr eintrat.
Nolan war es, der ihre Kleidung am Rand der Klippen fand. Sie selbst hatte sich dem Meer anvertraut, wie sein Cousin es nannte. Das war die Umschreibung, die sich in Zelmas Familie eingebürgert hatte, wenn sich wieder ein derartiges Unglück ereignete.
Es klang so harmlos, als ob Zelma – auf einem Felsen sitzend – dem Meer von irgendwelchen Sorgen, die sie plagten, erzählt hätte.
Für Jeremy waren diese Worte unpassend. Sie verbrämten die Tatsache, dass Zelma sich umgebracht hatte. Und sie entbanden die Menschen davon, über ihre Motive zu grübeln. Versuchte man es dennoch, führte das zwangsläufig zu einem gedanklichen Schulterzucken. Die Formulierung, dass sie sich dem Meer anvertraut hatte, verhinderte nämlich das Aufsteigen von Bildern vor dem inneren Auge, die zeigten, wie die Abscheulichkeit des Todes einen Körper deformierte und zerfraß, der leblos im Meer trieb.
Die Trauer um Zelma hatte tiefe Furchen in Nolans Gesicht gegraben. Sicherlich ging er täglich in die alte Familiengruft, in der sich der leere Sarg befand.
Nach der Beisetzung hatten sie ein kurzes Gespräch miteinander geführt. Jeremy erinnerte sich noch gut daran.
»Ich fühle mich schuldig. Ich wusste, wie sehr sie leidet. Es war mir aber nicht möglich, sie zu halten. Mit mehr Verständnis vielleicht oder einem anderen Arzt …« Nolans Schultern zuckten unter den unterdrückten Schluchzern.
»Nolan, du hast sicher alles für sie getan.« Hilflos legte Jeremy eine Hand auf seinen Rücken.
»Genau das ist der Punkt. Das habe ich nicht!«, schrie er Jeremy an. Schleimiger Speichel spritzte diesem auf das Revers.
Er reichte Nolan ein Taschentuch mit der Bitte, sich zu beruhigen, aber der packte ihn am Schlafittchen und zog sein Gesicht dicht vor seines.
»Was hat sie so weit getrieben? Die Liebe zu mir? … Nein!«, beantwortete er seine Frage selbst. »Etwas anderes stand zwischen uns.« Dann flüsterte er: »Jeremy, Schwermut ist ein hartes Los. Sie ist ansteckend. Es ist, als tauche ein Maler seinen Pinsel in Grau und ließe den Frühling und mit ihm alle Hoffnung verschwinden.«
Jeremy konnte ihm nichts entgegnen.
Die Hilflosigkeit Nolans Trauer gegenüber war es auch, die ihn seitdem von einem Kontakt abgehalten hatte.
Er schlug sich die Hand vor den Mund, während er Nolan anstarrte und versuchte, das sich ihm heute bietende Bild in Einklang zu bringen mit dem Mann, den er kannte wie einen Bruder.
Es waren nicht nur die Haare, die ungepflegt wirkten. Nolan sah aus wie jemand, der seinen Körper schon eine ganze Weile sträflich vernachlässigte.
Plötzlich nahm Jeremy auch hier den muffigen Geruch wahr, der ihm bereits draußen aufgefallen war. So hatte es damals in dem Bunker gerochen, in dem sie als Kinder gespielt hatten. Er lag ein paar Gehminuten entfernt an einem Bach im Wald, der noch zum Grundstück gehörte. Dunkel, feucht und kühl war es dort gewesen. Jeremy konnte sich gut daran erinnern, wie ängstlich sie ihn in jedem Frühjahr betraten.
Das Gruseln, das sie dort stets mit der Leichtigkeit von Spinnweben ergriff, war hier und jetzt jedoch zigmal stärker. Und es verwandelte sich in ein unterschwelliges Grauen.
Mit eingefallenen Wangen und rot geränderten Augen, die tief in den Höhlen lagen, blickte Nolan Jeremy an, bevor er in den schweren Ohrensessel sank und die Hände vor das Gesicht schlug.
Jeremy räusperte sich. Seine Kehle war ganz trocken. »Nolan!« Er trat an ihn heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sie zuckte unter verhaltenem Schluchzen. »Die Verbindung war schlecht, ich konnte kaum etwas verstehen. Dann war sie plötzlich komplett unterbrochen. Aber jetzt bin ich ja hier und alles wird gut, du wirst …«
»Nichts wird gut!«, fiel Nolan ihm ins Wort. »Gar nichts wird gut. Jetzt bist du auch ein Gefangener! Du kannst es noch nicht verstehen, aber ich werde – ja, ich muss – es dir zeigen. Es ist sowieso aussichtslos. Komm!« Er legte die Hände auf die ledernen Sessellehnen und erhob sich schwerfällig. Sein zerknittertes Hemd war verschwitzt, seine Hose viel zu weit. Er sah aus wie ein seniler, verwahrloster Mann und verströmte den scharfen Geruch von altem Schweiß.
Eine schwere Gemütserkrankung hatte ihn fest im Griff. Davon war Jeremy überzeugt. Die Trauer und die Einsamkeit schienen ihren Tribut zu fordern. Er würde ihn, sobald er seine Angelegenheiten geregelt hatte, hier herausholen und in eine gute Klinik bringen. Für den Moment würde er alles tun, was Nolan wollte, um ihn nicht unnötig aufzuregen, und einen günstigen Moment abwarten, um ihn nach dem Geld zu fragen. Dann würde er weitersehen.