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8 Zwei Bösewichter fliegen auf

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Als Leo am nächsten Tag zur Schule geht, ist es verdächtig still auf der Straße. Das liegt hauptsächlich daran, dass sie nicht den üblichen Weg nimmt. Sondern einen abgelegenen, der zwar ein bisschen länger ist, dafür aber ein geringeres Risiko aufweist, Edwin zu begegnen. Da er so ziemlich der letzte Junge auf der Welt ist, den Leonie heute sehen will, weil sie ein mächtig schlechtes Gewissen hat. Daher verspürt sie auch nur wenig Lust, in ihre Klasse zu gehen, was jedoch leider unvermeidbar ist. Sie MUSS da hinein. So leise wie möglich schleicht sich das Mädchen auf Zehenspitzen auf seinen Platz und staunt nicht schlecht, als es Moritz sieht. Der eine blaue Nase hat, genau wie Bastian und Clemens, die dicht bei ihm stehen und sich flüsternd unterhalten.

Wenn Leonie es nicht besser wüsste, würde sie sagen, dass die drei den Club der Blaunasen gegründet haben. Einzige Aufnahmebedingung: pflaumenblaue Nase. Gedankenverloren lässt sie ihren Blick schweifen, der schließlich an Edwins Gesicht hängenbleibt, dessen Nase überraschenderweise nicht blau ist. Was zwangsläufig die Frage aufwirft, ob die blauen Riechkolben der drei anderen Jungs in Zusammenhang mit Edwins unversehrtem Zinken stehen oder nicht.

Während Leo noch fieberhaft überlegt, warum Edwin entgegen allen Erwartungen noch in einem Stück existiert und wie sie in Erfahrung bringen könnte, warum das so ist, nimmt der Junge hinter ihr wortlos Platz. Fast glaubt Leo seine Blicke im Nacken zu spüren, als Moritz und seine Freunde Edwin umzingeln und ihn leise fragen leise, ob sich sein Bruder mittlerweile wieder beruhigt habe.

Leo, die nur eine Bank vor Edwin sitzt, bekommt auf einmal Riesenohren wie ein afrikanischer Elefant und lauscht angestrengt auf die Fragen der Buben hinter ihr und noch mehr auf Edwins Antworten. Obwohl nur leise gemurmelt wird, glaubt sie zu verstehen, dass es gestern Abend eine unglaubliche Verwechslung im Haus Nr. 8 gegeben hat, die drei Jungs eine Veilchennase und einem vierzehn Tage Hausarrest beschert hat.

Auch ohne viel Fantasie kann sich Leonie gut vorstellen, was gestern Abend in Haus Nr. 8 vorgefallen ist, findet jedoch immer noch keine Erklärung dafür, warum ausgerechnet Edwin ungeschoren davon gekommen ist. Nur zu gern würde sie ihn fragen, warum seine Nase nicht blau ist, dann müsste sie ihm allerdings auch gestehen, dass sie und Pauli Matthias’ Brief zerrissen und mit seinem Piratentixo geklebt haben.

„Weißt du schon das Allerneueste?“, zwitschert unverhofft ihre Banknachbarin Lena, als sie neben Leo auftaucht und sich auf ihren Platz setzt.

„Nein, aber ich gehe davon aus, dass du es gleich erzählen wirst“, erwidert Leonie, die in Gedanken noch bei Edwins nicht blauer Nase ist, obwohl sie weiß, dass Lena nicht eher ruhen wird, bis sie ihre Neuigkeiten losgeworden ist.

„Edwins großer Bruder hat gestern drei unserer Mitschüler vermöbelt“, schnattert Lena munter drauf los. „Da Matthias auf Edwin aus irgendeinem Grund ziemlich sauer war und einige Buben unserer Klasse nach dem Fußballspiel noch bei Edwin zu Hause waren, hat Matthi mehreren eine blaue Nase verpasst, immer in der Hoffnung, Edwin zu erwischen, was offensichtlich nicht ganz einfach war, da die Jungs ihre Fußballdressen getragen haben und von hinten ziemlich ähnlich aussehen, weshalb er Edwin verpasst, jedoch von seinem Papa vierzehn Tage Hausarrest erhalten hat. Weil sein Papa der Meinung ist, dass man anderen die Nasen nicht blau drehen darf. Noch dazu, wenn sie nicht Edwin heißen. Aber wenn du mich fragst, hätte Matthi Fabian ruhig auch noch einen Nasenstüber versetzen können, da er sich ständig meine Buntstifte ohne zu fragen holt und mich beim Turnen ständig gegen die Wand drängt. Dafür hätte er sich mindestens auch eine Blaunase verdient!“

Bedauerlicherweise fragt jedoch nie jemand nach Lenas Meinung.

„Woher weißt du denn das?“, schaute Leo ihrer Freundin gespannt ins Gesicht und bemüht sich möglichst unauffällig den Anschein zu wahren, von alldem keine Ahnung zu haben.

„Luzian hat es mir erzählt“, rückt Lena ihren Stuhl ein wenig näher heran und setzt sich neben Leonie.

„Luzian?“, schnappt Leo unwillkürlich nach Luft. „Lebt er noch oder schon wieder?“

„Natürlich lebt er“, bemerkte Lena mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Der Stöpsel ist raus, aber ich gehe davon aus, dass du ihn nicht wieder haben willst“, wirft sie Leo einen mitleidigen Blick zu.

„Nein, bestimmt nicht!“, entdeckt Leo den Stöpselverschlucker vorne an der Tafel, der sie genauso anstarrt, wie sie ihn. Verlegen, dass er sie dabei ertappt hat, schaut sie schnell wieder zu Lena hinüber.

„Woher weiß Luzian von den blauen Nasen?“, beißt sich Leo unbewusst auf die Unterlippe.

„Er war gestern nach dem Fußballspiel auch bei Edwin. Fast hätte sich Matthi auch auf ihn gestürzt, doch seine ebenholzbraunen Haare haben ihm das Leben gerettet. Da er selbst von hinten viel besser aussieht als Edwin“, schwärmt Lena verträumt.

Leo ist ehrlich gesagt noch nie aufgefallen, dass Luzian von hinten besser aussieht als Edwin. Was übrigens kein großes Kunststück ist, da jeder von hinten besser aussieht als Edwin. Von vorn übrigens auch. Davon abgesehen sind Luzians Haare nicht ebenholz- sondern schokoladenbraun“, geht es ihr durch den Kopf, während sie spürt, wie Lena sie am Arm zupft.

„Übrigens, ich glaub', er mag mich!“, senkt Leos Banknachbarin vertraulich ihre Stimme.

„Wer? Matthi?“, ruft Leo entsetzt.

„Nein, doch nicht Edwins älterer Bruder. Der ist dreizehn und viel zu alt für mich“, schüttelt Lena ihren Kopf. „Ich meine Luzian. Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm heute nach Hause gehen will“, winkt Lena freundlich zu dem Jungen hinüber, der doch tatsächlich zurückwinkt.

Bei dem verliebten Blick, den Lena Luzian zuwirft, verspürt Leo innerlich einen kleinen Stich. Verflixt noch mal, irgendwie störte es sie, dass Lena zu ihm hinüberwinkt, obwohl es ihr ziemlich egal sein kann, ob ihre Banknachbarin Luzian zuwinkt oder nicht, da er sie überhaupt nichts angeht. Luzian ist immerhin der Junge, der ihren Erdbeerstift auf dem Gewissen hat.

Lena, die irgendwie spürt, dass Leo etwas mächtig gegen den Strich geht, mustert ihre Freundin mit zusammengekniffenen Augen.

„Hast du was, Leo?“, will sie wissen.

„Ja, zuwenig für die heutige Mathearbeit geübt“, lächelt Leo leicht gekünstelt. „Daher hoffe ich, dass du mindestens für zwei gelernt hast.“

Obwohl Lena spürt, dass etwas Unausgesprochenes in der Luft liegt, fragt sie nicht weiter nach und erwidert Leos Lächeln.

„Oh, da bin ich leider die falsche Adresse“, schüttelte sie schnell ihren Kopf. „Falls du einen guten Rechentest schreiben willst, empfehle ich, dich eine Bank nach hinten zu Edwin dem Taschenrechner zu setzen.

Das Dumme ist nur, dass Leo neben jedem sitzen kann, nur nicht neben Edwin, dem Taschenrechner. Und Luzian, dem Stöpselverschlucker. Aber das aus ganz verschiedenen Gründen.

In der großen Pause steht Leonie nervös auf dem Gang. Sie will heute weder Gummitwist hüpfen noch Pedalo fahren, sondern wartet ungeduldig auf die Erstklässer, die wie Kaugummikugeln gedrängt aus ihren Klassen quellen, nur der eine, auf den sie wartet, ist nirgendwo zu sehen.

„Komm schon, Pauli!“, hält sie unruhig nach Edwins kleinem Bruder Ausschau, weil sie unbedingt wissen will, was gestern Abend in Haus Nr. 8 wirklich passiert ist, aber Paulchen bleibt trotz all ihrer Bemühungen unauffindbar.

Dafür erscheint ein anderer, mit dem sie jetzt wirklich nicht reden will. Leichtes Unbehagen spiegelt sich in Leos Gesicht wieder, als er aus der Kindermenge genau vor ihrem Gesicht auftaucht und dann auch noch unerwartet vor ihr stehenbleibt. LUZIAN.

Der Junge beobachtet wortlos ihr Mienenspiel und glaubt zu erkennen, dass sie nicht unbedingt erfreut ist, ihn zu sehen. Eigentlich hat er auch nichts anderes erwartet. Erstens ist er ein Junge. Zweitens hat er ihren Erdbeerstift ruiniert. Und drittens hat er überlebt. Drei triftige Gründe, weshalb sie vermutlich nichts mit ihm zu tun haben will. Befangen schauen sich die beiden Kinder an, und Leo wundert sich einmal mehr, wie jemand nur so schokoladefarbene Augen und Haare haben kann!

„Leonie“, beginnt der Junge unsicher und schaut stumm zu ihr hinüber. „Leo“, verbessert sie ihn sofort, weil sie die Langform ihres Namens nicht mag. Es vergeht eine spannungsgeladene Sekunde, und die Geräusche der anderen Kinder im Hintergrund scheinen für einen Augenblick wie ausgeblendet, da es im Augenblick für Leo nur Luzian und für Luzian nur Leo gibt.

Von dem Wunsch erfüllt, sie niemals angesprochen zu haben und dem Drang nachzugeben, sich einfach umzudrehen und davonzulaufen, schaut Luzian hilflos in Leonies Kornblumenaugen, als ob da drinnen stehen würde, was er nun sagen soll. Natürlich weiß er, was er sagen will, aber irgendwie hat er das Gefühl, dass, egal, welche Worte er wählt oder nicht wählt, sich nichts zwischen ihnen verändern wird.

„Ich möchte dir etwas geben“, nimmt der Junge vorsichtig Leos Hand und drückt einen Stift hinein.

„Der ist neu und riecht nach Zitronen. Ich wollte ... ich möchte ... dir noch sagen, dass es mir wirklich sehr leid tut, dass ich deinen ... äh ... Erdbeerstiftstöpsel versehentlich ... na ... äh ... du weißt schon“, erklärt er stockend. Völlig überrascht von dem Filzschreiber starrt Leonie wie vom Blitz getroffen auf den in ihrer Hand befindlichen Stift, während ein Ausdruck ehrlicher Verwunderung über ihre Gesichtszüge fliegt.

„Jedenfalls sollst du wissen, dass ich ihn nicht mit Absicht ge... ge... geschluckt habe“, fügt Luzian mit heißen Wangen hinzu.

Leo spürt, dass er auf eine Antwort wartet, aber es fällt ihr – verflixt und zugenäht – wieder nichts ein. So als wäre sie stumm geboren. Kein Laut kommt über ihre Lippen, und so sehr sie in ihrem Kopf auch nach Wörtern sucht, findet sie dort keine. Es ist zum Verzweifeln! Sie fühlt sich wie ein Buch ohne Seiten. Wie eine Dose ohne Kekse. Wie ein Pennal ohne Stifte. Einfach leer. Deshalb starrt sie ihm mindestens so hilflos ins Gesicht wie er ihr. Und das würde sie vermutlich noch immer tun, wenn sie nicht jemand von hinten anstupsen würde.

„Da bist du ja endlich, Leo. Ich hab dich schon überall gesucht. Kannst du nicht einmal dort sein, wo du hingehörst, nämlich in deine Klasse?“, vernimmt sie eine bekannte Stimme, die einem sechsjährigen Kobold gehört, der mindestens einen Kopf kleiner ist als sie. Schnell dreht sie sich um und entdeckt Pauli, dessen Nase auch blau ist.

„Pauli. Um Himmelswillen! Was ist denn mit deiner Nase passiert? War das Matthi?“, packt Leo den Erstklässler bei den Oberarmen und schüttelt ihn leicht. „Hat er die Sache mit dem Brief doch noch herausgefunden? Wenn er dir wehgetan hat“, zeigte das Mädchen auf Paulis Nase, „dann verbieg ich ihm seine“, kündigt sie mit grimmiger Miene an.

„Hör auf, Leo, du tust mir weh!“, jammert Paulchen und deutet auf den Stift, der unsanft gegen seinen Arm drückt.

„Tut mir leid“, entschuldigt sich Leo und erinnert sich in diesem Moment, dass diese Worte gerade eben noch zu ihr gesagt wurden. Schnell wirbelt sie herum, um sich bei Luzian für den Stift zu bedanken, doch er ist in der Menge bereits wieder verschwunden.

„Was hast du denn da?“, will Pauli wissen.

„Einen Stift, der nach Zitronen riecht“, versucht Leo den Filzschreiber in ihrer Hand schnell verschwinden zu lassen.

„Aber du magst doch gar keine Zitronen“, glaubt Pauli sich zu erinnern.

„Stimmt, aber das ist dem Stift völlig egal“, bemerkt Leo immer noch ein wenig überrascht. Pauli blinzelt kurz und versucht, sein Gehirn mit der Tatsache in den Einklang zu bringen, dass Leo einen nach Zitronen duftenden Stift besitzt, obwohl sie gar keine Zitronen mag.

„Den hat dir der Junge mit den Locken gegeben, stimmt's?“, blickt ihr Paulchen nach kurzem Überlegen neugierig ins Gesicht. „Ist er in dich verknallt?“

„Nein, nein ist er nicht. Ganz sicher nicht. Hundertprozentig nicht, was red’ ich nur, tausendprozentig. NICHT. Verknallt“, schüttelt sie vehement ihren Kopf.

„Aber warum hat er dir dann einen Stift geschenkt?“, erwägt Kleinpauli kurz alle anderen Möglichkeiten, die jetzt noch übrig bleiben, um jemanden ein Geschenk zu machen. Worauf Leo leider keine Antwort weiß. Oder vielleicht doch? Kann sie es wagen, dem Kleinen die Wahrheit zu sagen? Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit? Ja, sie kann. Beschließt sie spontan.

„Luzian hat den Stöpsel meines Erdbeerstifts verschluckt und mir deshalb einen neuen besorgt. Da ich ihm gesagt habe, dass ich Zitronen lieber mag als Erdbeeren, besitze ich jetzt einen Zitronenstift.“

„Aber du magst doch gar keine Zitronen?“

„Stimmt. Aber das ist eine andere Geschichte. Und jetzt hältst du mal den Rand, weil ich auch ein paar Fragen habe!“

„Und er hat wirklich deinen Stöpsel verschluckt?“, reibt sich Pauli verwundert das Kinn.

„Ja, hat er!“, nickt Leo schnell.

„Die spinnen, die Drittklässler!“, schüttelt Pauli seinen Kopf. „Die haben doch alle einen Sprung in der Kanzel!“

„Einige, aber nicht alle!“, versichert ihm Leo. „So, und nun will ich hören, wie du zu der da gekommen bist“, berührt sie behutsam sein Näschen. „Und wer dafür verantwortlich ist.“

Obwohl der Junge Trost aus dem Umstand bezieht, dass Leo seine Nase nicht völlig gleichgültig ist, muss er sie doch noch etwas fragen, bevor er seinerseits ihre Frage beantwortet.

„Wieso sagst du Locke, dass du lieber Zitronen hast als Erdbeeren, wenn das gar nicht stimmt?“, schaut sie Pauli leicht verwirrt an, während sich Leos Finger unbewusst fester um den Stift in ihrer Hand schließen.

Das ist eine gute Frage, muss sie im Stillen zugeben, hat jedoch keine Antwort parat. Die Stirn gerunzelt, weicht sie Paulis bohrendem Blick aus und muss kurz über die Bezeichnung Locke lächeln. So hat Luzian noch niemand genannt, aber irgendwie findet sie diesen Spitznamen recht treffend für den neuen Jungen in ihrer Klasse. Natürlich gibt es eine Erklärung dafür, warum sie gegenüber Locke bezüglich ihrer Vorlieben für Zitronenstifte ein bisschen gemogelt hat. Während Leo versucht, dies dem Kleinen verständlich zu machen, fällt ein langer Schatten auf die beiden und sie spüren, wie sie Edwin mit den Scherenhänden von hinten in eine finstere Ecke des alten Schulgebäudes zerrt, obwohl sich beide kreischend wehren. Unglücklicherweise ist Edwin ein bisschen größer und stärker als beide zusammen.

„Das. Wart. Ihr!“, fährt er seinen jüngeren Bruder und das Mädchen mit grimmiger Miene an, während er sie mit eisernem Griff festhält und gegen die harte Schulmauer drückt. Erschrocken blicken Pauli und Leo in das zornige Gesicht von Edwin dem Gnadenlosen, der sie wie Iron Man erbarmungslos in seinem Eisengriff festhält.

„Edwin sieht aus wie ein Vampir, der gleich zubeißt“, denkt Leo, während er den kleinen Pauli mehr an einen Werwolf kurz vor der Verwandlung in eine mörderische Bestie erinnert. Nur der Geifer fehlt noch. In diesem Augenblick beschleicht Leo die entsetzliche Vorahnung, dass Edwin womöglich doch noch irgendwie herausgefunden hat, warum Matthi so schlecht auf ihn zu sprechen ist. Doch bis er seinen Mund aufmacht, versucht sie sich einzureden, dass er ihr Geheimnis unmöglich entdeckt haben kann. Wie denn auch?

Seine Worte machen jedoch alle ihre Hoffnungen sofort zunichte.

Ihr habt Matthis Brief geklaut!“, spüren Pauli und Leo seinen wutschnaubenden Atem in ihrem Gesicht und drücken sich noch flacher an die Wand.

„Deshalb habt ihr gestern auch so lange im Schulhof gemauschelt, weil Pauli der Analphabet einen Komplizen zum Lesen eines Briefes brauchte, den er unverfroren von Matthias' Schreibtisch gemopst hat. Oder eine Komplizin“, wandern Edwins Unheil verkündende Augen zu Leo hinüber. „Die natürlich auch wissen wollte, was in dem Brief steht, da er an ihre Schwester gerichtet ist“, kneift Edwin seine Augen zusammen, als würde grelles Licht ihn blenden.

„Es gibt für alles eine Erklärung“, versucht Pauli zu retten, was noch zu retten ist, doch sein halbherziger Versuch wird von Edwin im Keim erstickt.

„Und dann habt ihr zwei Flachköpfe es auch noch geschafft, den Brief in zwei Teile zu zerlegen, um ihn anschließend mit meinem Tixo zu kleben, so dass der Verdacht natürlich auf mich fiel“, fährt Edwin mit seiner Anklage fort.

„Was drei Unschuldigen aus meiner Klasse eine blaue Nase einbrachte, da Matthias sie irrtümlicherweise mit mir verwechselt hat. Und ihm selbst zwei Wochen Hausarrest!“

Bei jedem seiner Worte zuckt Leo zusammen. Sie weiß nicht, was sie schlimmer finden soll, dass er ihnen auf die Schliche gekommen ist oder dass er Recht hat. Wie gern würde sie Edwin widersprechen und ihm sagen, dass es so nicht war, aber leider kann sie das nicht und die ernüchternde Wahrheit treibt ihr die Tränen in die Augen.

„Ihr zwei werdet das in Ordnung bringen und euch bei Matthi und Kathi für den zerrissenen Brief entschuldigen, sonst ...“

„Hä, hä, mir machst du keine Angst“, unterbricht ihn Pauli vorlaut, hebt trotzig sein Kinn und versucht ein weinig, von oben herabzusehen, was nicht ganz einfach ist, da ihn Edwin um gut zwei Köpfe überragt. „Meine Nase ist bereits blau“, lächelt er seinem Bruder provozierend ins Gesicht.

„Richtig, aber nur, weil du von einem Hocker gefallen bist, während du unbedingt sehen wolltest, wie Matthias Bastian an meiner Stelle die Nase blau gequetscht hat“, fühlt Edwin, wie das Blut hitzig in seine Wagen steigt.

„Aber von deiner Zwetschke im Gesicht mal abgesehen, besitzt du noch andere Körperteile, die ganz sind, noch ganz sind“, fügt er drohend hinzu, „und für deren Unversehrtheit niemand garantieren kann, wenn du Matthias den Diebstahl seines Briefes nicht gestehst. Ganz zu schweigen von deinen Keksen, deinem Federpennal, deinen Spielsachen und deiner Fernbedienung, die früher oder später alle nach Nimmerland verschwinden werden. Einschließlich deiner Nintendospiele“, fügt er wutschnaubend hinzu.

Sein Tonfall lässt den kleinen Pauli, dem das Sprachvermögen ein paar Sekunden abhandengekommen ist, kurz aufhorchen.

„So ein Grobian. Eingesperrt gehört er und der Schlüssel weggeworfen“, denkt sich der Kleine und beobachtet verbissen den fuchsteufelswilden Gesichtsausdruck seines Bruders, dessen aufgestaute Wut sich nun endgültig Bahn bricht, während er Leo und Pauli abwechselnd zornig anfunkelt.

„Ihr werdet den Briefdiebstahl zugeben, sonst könnt ihr ewas erleben!“, droht er den beiden wütend.

Auch Leonie blickt Edwin aus großen, angstgeweiteten Augen an. So kennt sie ihn überhaupt nicht. Es ist das erste Mal, dass er ihr gegenüber so einen groben Ton anschlägt. Doch bevor sie etwas sagen kann, zeigt Edwin recht ungezogen mit seinem Zeigefinger auf den Latz ihrer Hose und meint gefährlich leise: „Und falls du es nicht deiner Schwester erzählst, werde ich es tun. Wir beide kennen Kathis Wutausbrüche zur Genüge“, fügt er schnaubend hinzu. Und solltest du durch irgendein Wunder ihren Tobsuchtsanfall überleben, sind da immer noch Moritz, Bastian und Clemens, die dir ihre blauen Nasen verdanken. Mal sehen, was von dir übrig bleibt, wenn sie erfahren, wer dafür verantwortlich ist!“

Leos Lippen zittern. Sie muss ihre Zähne ganz fest zusammenbeißen, um ihren Ärger im Zaum zu halten. So eine Frechheit. Wie kann Edwin es wagen, mit ihr so zu reden. Ihr so zu drohen. Eigentlich würde sie jetzt auch gern etwas Gemeines sagen. Aber wie meistens fällt ihr nichts ein, deshalb blinzelt sie schnell mehrmals hintereinander, da sie nicht vor Edwin in Tränen ausbrechen will. Nein, sie wird jetzt nicht. WEINEN. Schnief.

Edwin, der zu spüren scheint, dass sie kurz vor einem Tränenausbruch steht, gibt einen knurrenden Laut von sich.

„Verschwindet, bevor ich mich vergesse!“, schwillt seine Stimme zu einem ungehaltenen Grollen an, während er die beiden Missetäter unverdienterweise frei gibt. Dann dreht er sich um und geht weg, ohne Leo und Pauli eines weiteren Blickes zu würdigen. Leo schaut ihm schuldbewusst nach. Das ist ja noch schlimmer, als sie ohnehin befürchtet hat.

„Edwin, Edddwiiin!“, ruft sie ihm aus ihrer Starre erwachend verzweifelt nach. Seltsamerweise fällt ihr auf, dass dies das erste Mal ist, dass sie seinen Vornamen ohne abfälligen Beinamen ausspricht. Doch Edwin dreht sich nicht zu ihr um und sie sieht, wie er in der Kindermenge des Hauptganges verschwindet.

„Wurden wir gerade angeklagt?“, flüstert der kleine Pauli noch immer unter Schock.

„Und auch schon verurteilt“, kämpft Leo gegen ihre Tränen und ihr schlechtes Gewissen.

„Das haben wir vermasselt. Gründlich“, hört sie Pauli neben sich sagen, der mühsam versucht, mit ihr Schritt zu halten.

„Kann man wohl sagen“, wischt sie schnell eine Träne aus ihrem Gesicht, damit der Erstklässler nicht sieht, wie nahe ihr die ganze Sache geht.

„Mein Schicksal ist besiegelt“, hört sie den kleinen Pauli seufzen. „Entweder bricht mir Matthi alle Knochen, wenn ich ihm sage, dass ich den Brief stibitzt habe, oder Edwin, wenn ich es nicht tue. So oder so, bin ich tot.“

„So wie ich“, wirft Leo einen vorsichtigen Blick zur Seite.

„Macht es dir was aus, wenn ich zu euch ziehe? Für den Rest meines Lebens?“, legt der kleine Pauli vertrauensvoll seine Finger in ihre, weil er jetzt unbedingt jemanden braucht, der seine Hand hält, um sich ein wenig zu beruhigen.

Leo muss wider Willen über diese Frage kurz lächeln. Dann drückt sie leicht Paulis Hand und streift sich mit der anderen Hand noch eine Träne aus dem Gesicht, während Pauli so tut, als hätte er es nicht gesehen.

„Nein, natürlich nicht. Wird aber nicht viel nützen“, räuspert sie sich verhalten und umschließt noch fester seine Hand.

„Nur damit eins klar ist, in mein Zimmer ziehst du nicht“, hüstelt sie nochmals verlegen.“

„Wo soll ich dann schlafen? Etwa bei deinen Eltern?“, will der Kleine wissen.

„Das wird sich nicht spielen. Aber wie wär's bei Kathi?“

„Bei Kathi?“, stockt Paulchen der Atem. „Geht’s noch, Leo? Bestimmt macht sie aus mir Cornflakes, wenn sie von Matthis Brief erfährt!"

„Nicht nur aus dir, Kleiner. Nicht nur aus dir. Und weißt du was?“, seufzt sie leise und wirft ihm einen freudlosen Blick zu. „Das haben wir auch verdient.“

Leo ist verknallt

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