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4 Eine unglaubliche Geschichte

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Nach der Schule ist der verschluckte Stöpsel noch immer Thema Nummer eins. Während mehrere Hosentaschen auf dem Heimweg klingeln, muss Leo die Geschichte vom armen Erdbeerstiftstöpsel noch dreimal erzählen und fühlt sich schon fast wie eine Hör-CD, die ohne Unterbrechung abgespielt wird.

„Ich hätte Luzian für reifer gehalten. Immerhin ist er acht und keine drei mehr“, ruft ihr Edwin noch schnell zu, bevor er hinter Tür Nr. 8 verschwindet. Damit liegt er nicht ganz falsch, muss ihm Leo im Stillen Recht geben, obwohl sie davon überzeugt ist, dass Luzian den Stöpsel nicht absichtlich verdrückt hat, sondern nur, weil er erschrocken ist. Aber das behält sie für sich.

Als sie ihr Haus betritt, steht ihre Mama schon hinter der Tür und schaut das Mädchen erwartungsvoll an. Ein Blick genügt, und Leo weiß, dass ihre Mama weiß, was bereits die ganze Straße hinter vorgehaltenen Händen erzählt, da die Mamabuschtrommeln in dieser Straße viel schneller Nachrichten verbreiten als irgendwo sonst auf der Welt. Natürlich will Leos Mutter die ganze Stöpselschluckgeschichte nochmals von ihrer Tochter hören, obwohl sie sämtliche Einzelheiten (die tatsächlichen und die erfundenen) durch den Filter anderer Mamaberichte bereits viel genauer kennt als ihr Mädchen. Überhaupt geht Leonie davon aus, dass ihre Mutter bereits mehr weiß, als überhaupt passiert ist. Deshalb zieht das Mädchen erst mal seine Jacke aus, schleudert die Schultasche in die nächste Ecke (obwohl Mama das unter normalen Umständen nicht durchgehen lässt) und folgt seiner Mutter ins Wohnzimmer, obwohl der Magen bereits knurrt, da nichts so hungrig macht, wie das Erzählen von Erdbeerstiftstöpselverschluckgeschichten.

Nachdem Leo ihrer Mama den ganzen Vorfall von Anfang bis Ende mit nur allen erdenklichen Details geschildert hat, ohne auch nur die geringste Kleinigkeit auszulassen, und einen Teller Penne mit Soße in sich hineingeschaufelt hat, holt sie ihre Schultasche und verschwindet in ihrem Zimmer. Nun kommt der unangenehme Teil des Nachmittags, nämlich die Erledigung der Hausaufgaben, während Mama verzweifelt versucht, auf drei Handyanrufe gleichzeitig zu antworten. Leo gibt ihr noch schnell den Tipp zu simsen, doch ihre Mama gehört zu jener vom Aussterben bedrohten Spezies, die weder simsen kann noch überhaupt weiß, was dieses Wort überhaupt bedeutet.

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube widmet sich Leo den Sachaufgaben, die ihr wie immer den Schweiß auf die Stirn treiben. Bereits die erste ist so schwierig, dass ihr die Lust auf alle weiteren vergeht. Ein Imker hat 17 kg Honig geerntet. Wie viele Gläser braucht er, wenn er in jedes Glas ein halbes Kilogramm Honig füllt?

Leonie fragt sich ernsthaft, woher sie das wissen soll, wenn es der Imker nicht weiß. Er sollte es allerdings schon wissen, denn immerhin ist es sein Honig, den er verkaufen will. Oder soll. Von irgendwas muss schließlich auch ein Imker leben. Nur ist es für sie nicht plausibel nachvollziehbar, warum ausgerechnet sie seine Honigglasabfüllprobleme lösen soll. Um sich ein wenig abzulenken, spielt sie mit dem roten Luftballon, den ihr die Verkäuferin beim Schuhe kaufen gestern im Einkaufszentrum geschenkt hat. Obwohl sie gar keine Schuhe haben wollte, sondern lieber einen Basketball. Aber den kann man seinen Füßen leider nicht anziehen, meint ihre Mama.

„Was wohl passieren würde, wenn so eine Biene einen Luftballon sticht?“, surrt es Leonie unvermittelt durch den Kopf. Wie viele Gläser man wohl mit der Luft eines einzigen Luftballons füllen könnte? Sicher nicht so viele, wie mit siebzehn Kilogramm Honig. Oder womöglich doch? Während sich Leo in hochgeistig mathematischen Überlegungen verliert, wird plötzlich die Tür zu ihrem Zimmer aufgerissen, worauf kurz darauf ihre große Schwester Katharina reinplatzt.

„Ist es wahr, dass heute deine Füllfeder verschluckt wurde?“, kommt sie ohne Umschweife zur Sache.

„Nein, sie lebt noch“, schaut Leo ernst zu ihr auf, „aber mein Erdbeerstift hat vermutlich dran glauben müssen!“

„Was heißt vermutlich?“

„Das heißt, dass mein Oberteil mit ziemlicher Sicherheit hinüber ist.“ Leo ist sich nicht ganz sicher, ob ihre Schwester das jetzt verstanden hat, da Kathi sie einen Augenblick fassungslos anstarrt und nichts sagt. „Das Unterteil lebt noch“, wird sie von Leonie aufgeklärt.

„Ein Stift hat kein Oberteil. Auch kein Unterteil.“, bemerkt Kathi wie immer besserwisserisch. „Ein Stift hat einen Stöpsel.“

„Und?“, runzelt Leo die Stirn.

„Ein Bikini hat ein Oberteil“, meint ihre große Schwester ruhig.

„Du bist jetzt aber nicht gekommen, um mir einen Vortrag über Bademode zu halten, oder?“, ärgert sich Leo und muss kurz gelangweilt gähnen.

Kathi entgeht die missmutige Gesichtsmiene ihrer kleinen Schwester keinesfalls, die immer dann besonders niedlich aussieht, wenn sie sich ärgert.

„Nein, natürlich nicht“, schenkt sie Leo ein schiefes Lächeln. „War es Edwin?“, fragt sie schnell.

„Nein, der Neue.“

„In der Pause?“, hakt Kathi atemlos nach.

„Nein. Während des Partnerdiktats.“

„Und er hat tatsächlich den ganzen Stift vor deinen Augen geschluckt?“, arbeitet sich Kathi bewundernswert systematisch durch sämtliche am Boden liegende Bücher, Plüschtiere und Spielsachen zum Schreibtisch ihrer Schwester durch und starrt neugierig in Leos Gesicht, die verblüfft ihren Blick auffängt. Niemand kann so schnell und so viel auf einmal reden wie Kathi. Und das ohne Luft zu holen. Ihre Schwester muss eine Außerirdische sein.

„Nein, nicht den ganzen. Nur den Stöpsel, was meiner Meinung auch schon ziemlich schräg ist“, entgegnet Leo und stellt sich Kathi kurz als grünes, blablaendes Marsweibchen vor.

„Mehr als schräg“, muss Kathi ihrer jüngeren Schwester Recht geben, die den seltenen Moment der Eintracht zwischen ihnen einen Moment lang sprachlos auf sich wirken lässt. Irgendwie beneidet Katharina ihre jüngere Schwester um ihre Klasse, da dort immer viel mehr los ist, als in der eigenen.

„Was hast du dann gemacht?“, fragt sie schnell.

„Dann habe ich das Diktat eben mit Edwin dem Schrecklichen und Lena der Langsamen geschrieben.

„Und der Neue?“, bemüht sich Katharina ein Lächeln zu verkneifen, da sie genau weiß, dass ihre Schwester Edwin nicht besonders mag.

„Musste zum Schularzt, vermutlich seinen Bauch aufschneiden lassen. Wie der böse Wolf im Rotkäppchen“, lehnt sich Leonie ein wenig zurück und stellt sich kurz vor, wie man Luzian ... Nein. Lieber doch nicht. „Aber was dann geschehen ist, weiß ich nicht. Mein Stöpsel ist mit Sicherheit nicht mehr zu retten, bleibt nur zu hoffen, dass Luzian mehr Glück hat“, lässt sie ihre Schwester mit einem ernsten Gesichtsausdruck wissen, so dass Kathi eine Gänsehaut bekommt. Schweigend lassen die beiden Mädchen einen Augenblick verstreichen.

„Aber erstickt ist er nicht“, fragt Kathi vorsichtshalber nach.

„Zumindest nicht in der Klasse. Und wenn es so wäre, wüsste es unsere Mama schon längst“, deutete Leo mit dem Daumen nach unten. „Jetzt musst du mich aber entschuldigen. Da gibt es doch tatsächlich einen Imker, der nicht weiß, wie viel Gläser er zum Abfüllen seines Honigs braucht.“

Aus Kathis verdutztem Gesichtsausdruck kann Leo leicht schließen, dass ihre Schwester keine Ahnung hat, wovon sie spricht.

„Das ist doch wieder mal absoluter Schwachsinn“, schüttelt Katharina ihren Kopf, die dem wirren Gestammel ihrer Schwester nicht folgen kann.

„Ganz deiner Meinung“, verzieht Leo ihre Lippen zu einem spitzbübischen Grinsen.

„Aber versuch doch mal deinem Lehrer zu erklären, dass Hausaufgaben absoluter Schwachsinn sind!“

Langsam beginnt Katharina zu begreifen. „Du sprichst von deinen Rechenaufgaben, richtig?“, hält sie kurz inne, bevor sie mit ernster Stimme fortfährt.

„Die sind kein Schwachsinn, sondern Kampfball im Kopf“, zwinkert sie ihrer kleinen Schwester zu.

„Kampfball spielt man aber im Team“, konterte Leo schlagfertig. „Deshalb darfst du gern mitspielen.“

„Das würde dir so passen. Deine Hausaufgaben machst du brav allein“, sieht Katharina keine Notwendigkeit, die Faulheit ihrer jüngeren Schwester zu unterstützen.

„Macht aber überhaupt keinen Spaß mit Imkern, die nicht wissen, wie sie ihre Honiggläser abfüllen sollen!“, jammert Leo und wirft Kathi einen flehenden Blick zu.

„Ist aber wichtig, damit du lernst, richtig zu rechnen und dein analytisches Denken zu schulen. Wenn du deine Hausaufgaben gemacht hast, rate ich dir übrigens dringend, dein Zimmer aufzuräumen“, wandert Kathis Blick leicht angewidert über den voll belegten Fußboden in Leos Zimmer, „da du sonst der nächste Fall fürs Krankenhaus bist, weil du dir entweder ein Bein oder gleich den ganzen Hals brichst“, beendete sie ihren Satz, während sie sich über einen Turm aus acht Büchern, drei Riesenstofftieren und durch eine Horde Pet-Shop-Tierchen zur Tür kämpft, was schon fast einem Hürdenlauf gleichkommt.

„Aua“, hört Leo kurz darauf Kathi schreien, als sie auf einen ihrer Elfenprin­zen tritt.

Wenn Kathi Aua schreit, wartet Leonie meistens noch ein bisschen ab, da ein Aua meistens nie lange allein bleibt. Erwartungsgemäß folgt kurz darauf eine ganze Schimpftirade über schrecklich unordentliche Schwestern, die man eigentlich gar nicht auf die Menschheit loslassen dürfte, da sie nicht nur eine Gefahr für sich selbst, sondern auch für alle anderen darstellten.

„Was war das denn?“, reibt sich Kathi ihren schmerzenden Fuß.

„Ein Elfenprinz“, murmelt Leo.

„Woraus? Aus Stahlbeton?“

„Aus Plastik“, weiß es ihre jüngere Schwester selten, aber doch besser.

„Sicher?“

„Ganz sicher.“

„Trotzdem gehören diese Dinger verboten und haben vor allem auf dem Boden nichts verloren!“

Leonie sieht das etwas differenzierter. Erstens, weil es ihr Zimmer ist, in dem ihre ältere Schwester gerade ausflippt und zweitens hat sie Kathi nicht darum gebeten, mit dem Fuß auf ihren Elfenprinzen zu treten. Deshalb sieht sie auch nicht die geringste Veranlassung, sich zu entschuldigen. Davon abgesehen, wie heißt es so schön in der Biene Maja: "Wer Augen hat wie ein Maulwurf, sollte lieber zweimal hingucken!“

Als Leo am nächsten Morgen in die Klasse kommt, ist Lena noch nicht da. Dafür wartet ihr Diktatheft schon auf sie. Auch ohne hineinzusehen, weiß Leonie, dass die Sache mit Konrad nicht gut gelaufen ist. Von Anfang an stand ihre Beziehung unter keinem guten Stern. Und ausbaden muss es jetzt ihr Erdbeerstift. Und Luzian. Der übrigens auch noch nicht da ist. Vorsichtig öffnet Leonie ihr Heft und kämpft sich mit einem üblen Gefühl in der Magengrube zu Konrad durch.

„Oh, oh, das sieht noch übler als schlecht aus!" Leonie seufzt. Der Herr Lehrer hat es tatsächlich geschafft, in fast jedem Wort einen Fehler zu entdecken. Mama wird das nicht freuen. Bedauerlicherweise hat Herr Engel auch noch „Mehr üben!“ darunter geschrieben, was übersetzt so viel wie weniger Kampfball spielen bedeutet. Schuld daran ist natürlich das blöde Krokodil. Was muss es auch Konrad heißen? Und der verrückte Luzian, der ihren Stöpsel verschluckt hat, ohne sie vorher um Erlaubnis zu fragen. Vor allem aber die komplizierte Rechtschreibung. Viel mit langem »ie« und Krokodil mit kurzem, obwohl beides lang ausgesprochen wird. Unter solchen Umständen ist es praktisch unmöglich, ein gutes oder gar fehlerloses Diktat zu schreiben. Das müssen Mama und Papa einfach einsehen.

Bedauerlicherweise muss Leonie einsehen, dass sie die Ansage verbessern muss.

"Weil es wichtig ist, aus Fehlern zu lernen", sagt der Herr Lehrer mit erhobenem Zeigefinger. Das klingt gut, findet Leo. Denn wenn man aus Fehlern lernt, ist es womöglich doch kein Fehler, ab und zu ein paar zu machen, denn wie soll man ohne Fehler aus ihnen lernen? Zufrieden nimmt Leonie ihr Heft und beginnt, den Text nochmals in ihr Heft zu schreiben, wobei sie beschließt, künftig nicht alle Fehler selbst zu machen, sondern ein paar den anderen Kindern in der Klasse übrig zu lassen. Als der Herr Lehrer erneut einen Blick in ihr Heft wirft, verdoppelt sich Leonies Herzschlag.

Konrad, das Krokodil

Konrad, das Krokodil,

schwimmt viel im Nil,

liebt Eis am Stiel

und sonst nicht viel.

Es kennt kein Spiel

und hat kein Ziel

Nur ein Gefühl,

es schläft zu viel.

Brav, Leonie!

Doch er findet keinen einzigen Fehler, was sie wirklich freut. Und noch mehr sein "Brav, Leonie!", das sie ihrer Mama nach der Schule stolz zeigen wird.

Bis zur Pause vergeht die Zeit recht schnell. Nach der Verbesserung darf Leo mit Lena am Computer ein paar Englisch-Aufgaben lösen, was sie echt cool findet. Englisch leider weniger, da die englische Sprache so viele englische Wörter hat, die sie überhaupt nicht versteht und die so seltsam geschrieben werden, dass einem regelrecht die Haare zu Berge stehen.

Anschließend dürfen die Kinder die große Pause im Freien auf dem Schulspielplatz verbringen, da die Sonne scheint und es draußen angenehm warm ist. Leonie will gerade mit Lena und Moritz Fangen spielen, als sie plötzlich jemand an ihrer Jacke zupft. Es ist Edwins kleiner Bruder Paul, ein Erstklässler, der Leo aufgeregt zur Seite zieht. Leonie findet das jetzt irgendwie nicht so toll, da sie lieber Fangen spielen will.

„Nicht jetzt, Pauli!“, nimmt sie seine Finger von ihrem Arm. Doch der Kleine zupft beharrlich weiter. Leo will schon ein ernsthaftes Wort mit dem Knirps reden, als er aufgeregt nach ihrer Hand greift, ohne zu ihr aufzuschauen.

Leo ist verknallt

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