Читать книгу Leo ist verknallt - Sabine-Franziska Weinberger - Страница 5
3 Ein Stöpsel verschwindet
Оглавление„Ja, das ist meiner“, erwiderte Leo, in sprachloser Erwartung, was Luzian wohl als nächstes tun wird.
„Also jetzt stell dir mal vor, ich wär' ein Krokodil namens Konrad und das da dein Kopf“, beginnt der Junge entschlossen und beißt – ja ist es zu fassen – vor Leos verdutztem Gesicht ihrem nach Erdbeeren duftenden Filzschreiber die Verschlusskappe ab.
Leonie beobachtet fassungslos, wie der Stöpsel in Luzians Mund verschwindet und einen Augenblick lang verschlägt es ihr doch tatsächlich die Sprache. Sie hat ja schon einiges in der Klasse erlebt (verschwundene Jacken, zusammengeklebte Hausschuhe, Kaugummi in den Haaren), aber bisher war noch niemand so verrückt, vor ihren Augen einen Stöpsel zu schlucken, ganz egal wie erdbeerig er duftet.
„Sag mal, geht's noch?“, funkelt sie ihn an, während ihre Verblüffung allmählich in Ärger umschlägt (da es immerhin ihr Stift ist) und ihr viele Gedanken gleichzeitig durch den Kopf schwirren. Natürlich hätte sie die Verschlusskappe gern wieder zurück, da der Erdbeerschreiber ihr absoluter Lieblingsstift ist, und ihr Mama ohnedies schon mehrmals angedroht hat, keine weiteren Schreiberlinge mehr zu kaufen, falls Leo nicht auf ihren aktuellen Bestand mehr Acht gäbe. Doch angesichts der Tatsache, dass sich die Verschlusskappe – IGITT – irgendwo zwischen Luzians Gaumen und Zähnen befindet, weiß sie auch nicht, was sie tun soll.
Voller Abscheu starrt sie Luzian aus zusammengekniffenen Augen an, doch er rührt sich nicht. Sein zu einem schmalen Strich geformter Mund gibt ihr wortlos zu verstehen, dass er nicht im Entferntesten daran denkt, das Ding auszuspucken. Leos Stimmung ist nicht gerade die beste. Sie fühlt sich wie nach einer Niederlage beim Kampfball – ein Gefühl, das ihr eigentlich fremd ist. Aber falls Luzian glaubt, dass sie ihren Erdbeerstift kampflos aufgeben wird, hat sich der Knabe getäuscht.
„Du spuckst jetzt sofort meinen Stöpsel aus, oder ich kau dir ein Ohr ab!“, flüstert sie warnend in seine Richtung und wartet auf seine Reaktion. Doch Luzian rührt sich nicht. Der Junge beaugäpfelt sie wortlos. Er behält sie im Visier wie ein Krokodil seine Beute, so, als würde er ihre Reaktion abwarten. Daher bleibt Leo nichts anderes übrig, als ihn wortlos verdrossen anzustarren, bis er sein störrisches Schweigen bricht und endlich den Mund aufmacht.
Natürlich könnte sie sich auf ihn stürzen und ihn so lange schütteln, bis das gewünschte Teil aus seinem Mund herauspurzelt. Oder ihn solange kitzeln, bis er lauthals lachen muss, allerdings ist sich Leo bewusst, dass dies im Unterricht nicht erlaubt ist. Davon abgesehen hat Herr Engel allen Kindern strengsten verboten, andere zu schütteln, zu schubsen oder gar mit ihnen zu raufen. Vom Stöpselverschlucken hat der Herr Lehrer zwar nichts gesagt, doch Leo ist davon überzeugt, dass auch das verboten ist.
Sie will natürlich das Richtige tun, weiß jedoch nicht, was in diesem Moment das Richtige ist. Unschlüssig und verärgert, möchte sie sich noch immer nicht damit abfinden, ihren Stöpsel aufzugeben. Aber hat sie eine andere Wahl? Sie kann das Ding ja unmöglich aus Luzian herauswürgen. Deshalb ringt sie sich schweren Herzens zu einer folgenschweren Entscheidung durch.
„Du kannst ihn behalten“, verschränkt sie demonstrativ ihre Arme, „und den Rest dazu“, schiebt sie verbittert den Stift ein wenig in Luzians Richtung.
„Um ganz ehrlich zu sein, mag ich Erdbeeren sowieso nicht so gern, sondern viel lieber Zitronen“, schwindelt sie dünn lächelnd, um ihm nicht zu zeigen, wie sehr sie der Verlust ihres Stöpsels schmerzt. Vom Stift, der ohne Verschluss praktisch wertlos ist, ganz zu schweigen.
Doch Luzian rührt sich noch immer nicht. Mit fest aufeinander gepressten Lippen bleibt sein Blick unverändert auf den ihren geheftet, und so starren sie sich gegenseitig wie zwei wütende Kampfhähne an.
„Was ist denn hier los? Hat es euch die Sprache verschlagen?“, hören die beiden plötzlich Herrn Engel fragen, der unbemerkt hinter sie getreten ist.
Als Luzian die Stimme seines Klassenlehrers vernimmt, muss er ganz schnell schlucken. Das hätte er besser nicht tun sollen, denn einen Augenblick später ist der Verschluss in seinem Mund verschwunden. Die darauffolgende Erkenntnis treibt dem Jungen die Tränen in die Augen. Das war so nicht geplant und hätte nicht passieren dürfen. Sein ängstlicher Blick und der zu einem lautlosen Schrei weit aufgerissene Mund genügen, um Leo begreiflich zu machen, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt. Sie sieht, wie Tränen in Luzians dunklen Augen schimmern. Dann begreift sie plötzlich – und presst entsetzt ihre Hand auf den Mund. Es bedarf keiner Worte mehr, um ihr zu erklären, was passiert ist. Leo hat verstanden, dass ihr Stöpsel ganz schnell Hilfe braucht. Und Luzian vermutlich auch.
„Gibt es ein Problem?“, schaut Herr Engel aufmerksam von Luzian zu Leo und wieder zurück.
„Ja. Genaugenommen zwei“, denkt sich Leo, aber noch immer verschreckt von seiner Stimme, rühren sich beide Kinder nicht und blicken sich wortlos an. Luzian weiß nicht, wie er erklären soll, dass er Leos Stöpsel geschluckt hat. Und das Mädchen sieht nur zu deutlich die Angst und Verzweiflung in seinen großen, weit aufgerissenen Schokoladeaugen.
„Du musst es ihm sagen!“, flüstert Leonie kaum hörbar und sieht, wie Luzian verängstigt seinen Blick senkt.
„Was muss er mir sagen?“, fragt Herr Engel durch das seltsame Verhalten der Kinder alarmiert. Doch beide blicken ihm nur schweigsam ins Gesicht.
Leo kann es nicht fassen, dass Luzian noch immer nicht den Mund aufmacht. Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um den heldenhaften Stöpselverschlucker zu mimen. Und die Gefahr, dass ihr nach Erdbeeren duftender Filzschreiberverschluss möglicherweise Luzians Ende bedeutet, macht es plötzlich zwingend notwendig, zu äußerst drastischen Maßnahmen zu greifen, um den Schaden, so gut es geht, in Grenzen zu halten. Sie muss Luzian bei ihrem Lehrer verpetzen. Zu seinem eigenen Schutz. Auch wenn das nicht wirklich fair ist. Weil es auf der Welt nichts Schlimmeres als Petzer gibt, abgesehen von Filzstiftstöpselvermampfern. Schließlich nimmt sie all ihren Mut zusammen.
„Er hat das Oberteil meines Erdbeerstiftes geschluckt“, hört sie sich mit bebender Stimme sagen, die in ihren Ohren ganz fremd klingt, und zeigt mit dem Zeigefinger auf den kopflosen Erdbeerstift.
„Wie bitte?“, schaut Herr Engel abermals besorgt von Luzian zu Leo, in der Hoffung, etwas Gegenteiliges zu hören.
Dann folgt, wie Leo bereits vermutet hat, eine ganze Reihe von aufgeregten Fragen des Lehrers, denen das Mädchen gern ausweichen würde, denn nun kommt zwangsläufig Konrad, das Krokodil vom Nil ins Spiel.
Nachdem sich Herr Engel aufmerksam Leos Bericht angehört hat, bittet er Luzian aufzustehen.
„Muss ich jetzt sterben?“, blickt der Junge bestürzt in das Gesicht seines Klassenlehrers.
„Nein, natürlich nicht“, versucht Herr Engel zu beruhigen. „Hast du Schmerzen?“, fragt er besorgt.
„Noch nicht“, blickt Luzian kurz auf den Zettel vor ihm, während Leo ihren nach Erdbeeren duftenden Filzstift zwischen ihren Fingern nervös hin und herdreht, ohne sich mit Farbe zu bekleckern.
„Du musst trotzdem zum Schularzt“, entscheidet Herr Engel und bittet den Jungen, seine Jacke zu holen und seine Schuhe anzuziehen. „Davor werde ich noch deine Eltern verständigen“, fügt er ruhig hinzu. Beim Anblick von Luzians unglücklicher Miene kommen Leo fast selbst die Tränen.
„Er hat es nicht mit Absicht getan“, versucht das Mädchen den Jungen zu verteidigen, und das obwohl er ihrem Stift so grausam den Kopf abgebissen hat. Seltsamerweise spielt das im Moment überhaupt keine Rolle, da es nämlich um etwas viel Wichtigeres geht als den Stift. Nämlich um Luzian.
„Es tut mir so leid, was passiert ist“, flüstert Leo ihm hinterher, als er dabei ist, die Klasse zu verlassen.
„Und mir erst“, erwidert der Junge und lächelt traurig. Dann folgt er Herrn Engel mit hängendem Kopf aus dem Klassenzimmer.
Die Tatsache, dass Luzian zum Arzt muss, lastet schwer auf Leonie und drückt ihre Laune noch mehr. Ihr ungutes Gefühl hat sie heute Morgen nicht getäuscht. Sie hätte besser im Bett bleiben sollen, dann würde ihr Erdbeerstift mit Kopfbedeckung gesund und munter in ihrem Federpennal liegen und nicht in Luzians Bauch. Was der Verschluss dort wohl gerade macht? Leonie will es lieber nicht wissen. Erwartungsgemäß muss sie in der Pause die Filzstiftstöpselverschluckgeschichte noch einmal erzählen und dann noch einmal, obwohl sie sich selbst nicht ganz sicher ist, was wirklich passiert ist.
„Der Cousin meiner Freundin Irmi hat sich mal eine Bohne ins Ohr gesteckt“, erinnert sich ihre Banknachbarin Lena, als Leo die Beschreibung des Vorfalls zum fünften Male mehr oder weniger ausführlich beendet.
„Und jetzt hat er Bohnen in den Ohren“, witzelt Edwin, was Lena überhaupt nicht komisch findet.
„So etwas kann sehr gefährlich sein“, erwidert sie empört.
„Wenn eine Bohne in die Speiseröhre gerät, kann ein Kind ersticken!“, sagt Beatrix.
„Du meinst wohl in die Luftröhre“, weiß es Edwin besser. „Denn in der Speiseröhre ist eine Bohne nicht wirklich gefährlich.“
„Seit wann befindet sich die Speiseröhre in den Ohren, hä?“, umrundet Clemens seine Schulbank und stellt sich zu Leo und den anderen Kindern.
„Ich hab nie behauptet, dass sich die Speiseröhre in den Ohren befindet!“, stellt Edwin klar. „Ich hab nur gesagt, dass eine Bohne in der Speiseröhre nicht wirklich Schaden anrichten kann, da alles, was wir essen, irgendwann dort landet.“
„Aber ganz bestimmt nicht in den Ohren“, erwidert Clemens uneinsichtig.
„Wenn sie den Darm erreicht, kann sie durchaus zur Gefahr werden - vor allem wenn sie zur Knallbohne wird“, grinst Bastian und ahmt ein berüchtigtes Geräusch nach, das die Kinder gut kennen und darauf verhalten kichern oder laut losprusten.
Nur Lena schaut pikiert. „Du bist unmöglich, Bastian, und hast überhaupt keine Manieren, weißt du das?“, blickt sie angewidert in seine Richtung.
„Was denn?“, ist sich der Junge keiner Schuld bewusst.
„Ist doch alles ganz natürlich“, verteidigt er sich. „Ich wollte damit nur sagen, dass alles, was oben rein geht, irgendwann unten wieder raus muss. Das ist übrigens nicht von mir. Sondern ein Naturgesetz.“
Klingt logisch, findet Leo. Während sie über seine Worte noch nachdenkt, unterhalten sich die übrigen Kinder eingehend über den Verbleib des verschluckten Stöpsels, wobei sie sich in zahlreichen Vermutungen ergehen und sich nicht wirklich einigen können, ob sich der Magen neben, vor, hinter, unter oder über dem Bauch befindet. Nur über eine Tatsache herrscht einstimmige Übereinstimmung, nämlich dass im Körper alles zusammenhängt, was auch ganz leicht zu beweisen ist, denn wenn man sich mit dem Popo auf einen Reißnagel setzt, so wie Edwins kleiner Bruder Pauli letzten Dienstag, kommen bei den Augen die Tränen heraus. Verständlicherweise ist dieses Thema noch lange nicht erschöpft, doch die Pausenglocke bereitet den vielen Mutmaßungen ein jähes Ende, da nun alle Kinder zurück auf ihre Plätze müssen, da nun gleich Die Kartoffelpiraten gelesen werden.
„Denn Lesen macht schlau“,
(Sagt der Herr Lehrer)