Читать книгу Leo ist verknallt - Sabine-Franziska Weinberger - Страница 7
5 Ein ungewöhnlicher Liebesbrief
Оглавление„Ich muss mit dir reden, Leo. Dringend!“, umklammert Pauli fest ihre Finger und zieht sie sanft, aber mit Nachdruck noch ein bisschen weiter von ihren Freunden weg.
„Was gibt's denn, Kleiner?“, schaut Leo kurz zu ihren Freunden hinüber und hofft, dass das Gespräch mit dem Knirps nicht allzu lange dauert. Das Mädchen spürt, wie sich der Junge anspannt. Bevor er ein Wort über seine Lippen bringen kann, stupst ihn Leo mit dem Zeigefinger an.
„Brauchst du vielleicht Hilfe?“, schaut sie dem Erstklässler entgegenkommend in seine großen, grünen Augen. „Hat dir Edwin wieder deine Lutscher geklaut oder dein Federpennal versteckt? Soll ich ihm seinen Hosenboden versohlen oder die Ohren lang ziehen? Auf Wunsch mach ich auch ein paar Knoten rein. Würde sich bei den Flügelohren deines Bruders ohne weiteres ausgehen!“
Pauli hätte über den Eifer des ansonsten eher ruhigen Mädchens beinah laut lächeln müssen, wenn die Lage nicht so dramatisch ernst gewesen wäre. Nervös stopft er seine Hände in die Hosentaschen und blickt schnell nach links und nach rechts, um sicherzugehen, dass niemand sie belauscht. Noch immer sieht ihn Leonie ungeduldig an, doch der kleine Junge rührt sich nicht. Leonie spürt, dass ihn etwas mächtig beschäftigt, hat aber keine Ahnung, wie sie es aus ihm herauskitzeln soll.
„Also, Hosenboden versohlen oder Ohren verknoten? Du hast die Wahl, Pauli. Aber nur, wenn du dich sofort entscheidest“, versucht sie das Gespräch abzukürzen, da sie noch Fangen spielen will.
„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll“, hebt Paulchen sein Kinn und sie sieht, wie er knallrot wird.
„Hast du etwas angestellt?“, beginnt sich Leo nun ernsthaft Sorgen zu machen. „Kanaldeckel gefischt oder die Geldtasche deiner Mama in der Kühltruhe versteckt?“
„Keines von beiden“, erwidert der Junge zögernd, fast schon unwillig. „Ich habe nichts verbrochen. Zumindest nichts Schlimmes. Ehrlich. Oder“, er muss kurz schlucken, „vielleicht doch ein bisschen?“
Wachsam bewegen sich Paulis Augen erneut schnell nach links und nach rechts und bleiben schließlich verlegen an Leos Gesicht hängen.
„Okay. Raus mit der Sprache!“, beugt sie Leo zu dem Kleinen hinunter und greift nach seinem Handgelenk, das sie sanft drückt. „Was hast du dieses Mal verbockt?“
„Kann ich es dir ins Ohr flüstern?“, stellt sich Pauli auf seine Zehenspitzen, um ein bisschen größer zu sein.
„In Ordnung“, ist Leo einverstanden. „Aber nur flüstern, nicht wie ein Lama spucken. Verstanden? Die sind nämlich schon gewaschen“, zeigt sie mit ihrem Zeigefinger auf ihre beiden Lauschlappen.
„Ich habe zwei Geheimnisse“, bricht Pauli schließlich wispernd sein Schweigen.
„Ich höre“, ist Leo ganz Ohr.
„Mein Vorderzahn wackelt“, murmelt der Kleine dicht an ihrer Ohrmuschel, was ein bisschen kitzelt. Ganz sanft wiegt Leonie ihren Kopf hin und her, um ein ernstes Gesicht zu wahren.
„Verstehe“, erwidert sie mit unbewegter Miene. „Das erfordert natürlich höchste Geheimstufe“, verspricht sie ihm verständnisvoll, während sie sich mit Schaudern an ihren ersten Wackelzahn erinnert. „Du kannst dich auf mich verlassen. Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben“, fährt sie mit dem Daumen und Zeigefinger über ihren Mund, um ihm zu signalisieren, dass ihre Lippen fest verschlossen sind. Dann schauen sie sich wieder eine Weile stumm an, während Leonie deutlich sehen kann, dass Pauli noch etwas beschäftigt.
„Waren es nicht zwei Geheimnisse, die du mir erzählen wolltest?“, versucht sie ihm ein wenig auf die Sprünge zu helfen.
Der kleine Junge verzieht nachdenklich sein Gesicht, dann nickt er wortlos.
„Komm schon, Pauli, mach's nicht so spannend!“
Wieder schaut der Junge schnell nach links und rechts, diesmal eher alarmiert als vorsichtig, so dass er Leos wachsende Ungeduld nicht wirklich bemerkt.
„Ich habe einen Brief gefunden. Von meinem Bruder. Einen Liebesbrief!“, fliegen seine Worte an ihrem Ohr vorbei, bevor sie beide fast gleichzeitig tomatenrot im Gesicht werden. „Stell dir vor, an deine Schwester!“
„Was? Edwin schreibt Liebesbriefe? An Kathi?“ Leo reißt die Augen ganz weit auf und schnappt kurz nach Luft, bevor sie dem Erstklässler echt schockiert ins Gesicht schaut.
„Nein, nicht Edwin, sondern Matthias!“, stellt Pauli richtig.
Matthias ist der älteste der drei Jungs von Tür Nr. 8 und soweit Leo weiß, besucht er dieselbe Schule wie ihre große Schwester. Dennoch kann sich das Mädchen beim besten Willen nicht vorstellen, dass Matthias Liebesbriefe schreibt. Schon gar nicht an ihre Schwester. Um ganz ehrlich zu sein, kann sich Leonie niemanden vorstellen, der freiwillig schreibt. Noch dazu Briefe? An ihre Schwester? Kurz blickt sie in die Sonne und blinzelt geblendet. Nein. Niemals. Ausgeschlossen. Vollkommen unmöglich. Es muss sich um einen Irrtum handeln. Mit verschlossener Miene schaut sie auf Paulchen hinunter, der aufgeregt auf seinen Fersen wippt und es offensichtlich genießt, im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit zu stehen.
„Und was willst du von mir?“, macht sie wieder einen Schritt auf den Kleinen zu und beugt sich nochmals ganz nah zu ihm hinunter.
„Ich will, dass du mir diesen Brief vorliest, weil ich noch nicht so gut lesen kann“, schaut sie Paulchen aus tellergroß grünen Augen an, während sich ein verhaltenes Lächeln in sein rundliches Gesichtchen stiehlt. Das ist genau genommen ein bisschen gemogelt, da er noch überhaupt nicht lesen kann.
„Aha. Aus dieser Ecke weht der Wind“, denkt Leo und beginnt allmählich zu verstehen.
„Und was lässt dich glauben, dass ich dir einen Brief vorlese, der nicht an dich gerichtet ist?“, neigt sie ihren Kopf noch weiter zu ihm runter und zieht ein strenges Gesicht.
„Weil wir jüngeren Geschwister zusammenhalten müssen. Und der Brief an deine Schwester gerichtet ist“, lächelt Pauli mit einem wissenden Funkeln in den Augen.
„Und weil du bestimmt auch gern wissen möchtest, was in dem Brief steht“, senkt er verschwörerisch seine Stimme und rückt noch ein bisschen näher an das Mädchen heran.
Da hat der Kleine nicht ganz Unrecht. Leonie brennt regelrecht darauf zu erfahren, was in diesem Brief steht. Um ganz ehrlich zu sein, würde sie auf ihre ganze Meerestiersammlung verzichten und darüber hinaus noch ihr Rennauto sowie ihren Drachen mit zwei Köpfen opfern, nur um einen Blick auf dieses Papier zu werfen. Falls es überhaupt existiert.
„Woher willst du denn wissen, dass es ein Liebesbrief ist, wenn du nicht so gut lesen kannst?“, fragt sie misstrauisch nach, da ihr die ganze Sache doch ein wenig merkwürdig vorkommt.
„Weil so viele Herzen darauf gemalt sind“, hält der Junge ihrem skeptischen Blick stand.
„So, so, Herzen“, runzelt das Mädchen seine Stirn. Ja, ist es denn zu fassen?
„Und wie kommt der Brief in deine Hände?“, blickt ihn Leo aus schmalen Augen an.
Pauli überlegt kurz, was er antworten soll und beschließt, es mit der Wahrheit zu versuchen.
„Ich habe ihn auf Matthias' Schreibtisch gefunden. Blöderweise bevor er ihn verloren hat, was vermutlich Ärger gibt, wenn er davon erfährt“, raunt der Junge leise. „Aber sobald wir ihn gelesen haben, lege ich ihn zurück. Sofort. Großes Indianerehrenwort!“
Leo braucht jetzt Mal ein paar Sekunden, um zu begreifen, was er ihr da gerade geflüstert hat.
„Du hast den Brief stibitzt?“, verengen sich ihre Augen zu noch schmäleren Schlitzen.
„Ausgeborgt!“, schluckt Pauli schnell sein schlechtes Gewissen hinunter.
„Doch ich werde ihn zurücklegen, sobald ich ihn gelesen habe!“, wiederholt er seine Worte mit unsicherer Stimme.
„Sobald wir ihn gelesen haben, du Langfingfang“, murmelt Leo in seine Richtung und die Entschiedenheit ihres Blickes lässt ihn erfreut seine Lippen kräuseln.
„Wir lesen ihn?“, zeigt er ein verschmitztes Lächeln, das ihren Widerstand wie Haselnusseis in der Sonne schmelzen lässt.
„Na klar!“, erwidert Leo sein Lächeln. „Du brauchst eindeutig mehr Übung und ich bin gern bereit, dich dabei zu unterstützen. Davon abgesehen, wer weiß, ob und wann wir jemals so einen Brief zu Gesicht bekommen?“
„Bei dir oder bei mir?“, will Paulchen wissen, während das Mädchen sich die Frage durch den Kopf gehen lässt.
„Wo ist es sicherer?“, wirft Leo einen wehmütigen Blick zu Moritz und Lena, wohl wissend, dass sich das Fangen in dieser Pause leider nicht mehr ausgehen wird.
„Bei dir“, flüstert der Junge. „Wenn Matthi mich mit seinem Brief erwischt, macht er aus uns Hackfleisch.“
„Damit ist zu rechnen“, nickt Leo zustimmend. „Falls Kathi uns beim Lesen ihres Briefes in meinem Zimmer ertappt, verarbeitet sie uns zu Müsli.“
„Wird sich nicht vermeiden lassen“, lächelt Pauli dünn, obwohl er sich ziemlich sicher ist, dass Leo ihre Worte nicht wirklich ernst meint.
„Also“, fragt das Mädchen vorsichtshalber nochmals nach, „wie willst du enden, als Hackfleisch oder Müsli?“ Da muss der kleine Pauli nicht lange überlegen und meint entschieden: „Als Müsli. Weil das viel gesünder ist.“
„Gut. Aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt“, streckt Leo ihre Hand aus und versetzt dem Kleinen einen liebevollen Nasenstüber.
„He, lass das, Leo!“, schiebt Pauli ihre Hand aus seinem Gesicht.
„Wann soll ich bei dir sein?“, flüstert der Kleine in ihre Richtung.
„Um fünf. Um diese Zeit ist Kathi außer Haus, da sie heute Volleyball spielt“.
„Werde pünktlich da sein“, hebt der Junge zum Abschied seine Hand und schlurft mit einem kleinen, aber zufriedenen Lächeln zurück zu seinen Klassenkameraden.
„Will ich dir geraten haben. Und wehe du vergisst den Brief, dann mache ich Müsli aus dir!“, ruft ihm Leo leise hinterher.
„Ist das eine Drohung?“, dreht sich Pauli nochmals kurz zu ihr um.
„Nein, ein Versprechen!“, grinst Leo breit und freut sich diebisch auf die Leseübung. Damit ist das geheime Geheimtreffen endgültig zu Ende. Die Pause leider auch.
Grübelnd marschiert Leo in ihre Klasse. Ob das, was Pauli auf Matthias’ Schreibtisch gefunden hat, tatsächlich ein Liebesbrief ist? Und was wohl in so einem Liebesbrief steht? Hätte ihn Pauli nicht auf dem Schreibtisch seines Bruders entdeckt, wäre es Leo bestimmt nicht aufgefallen, dass Matthi und Kathi offensichtlich etwas mehr als nur die gemeinsame Schule verbindet. Dieser Umstand verwirrt sie ein wenig. Wann will Kathi ihr denn von Matthias erzählen? Etwa bei ihrer Hochzeit? Ihre große Schwester ist ja schon immer eine noch größere Geheimniskrämerin gewesen, aber einen Liebesbriefschreiberfreund kann man der Familie doch nicht vorenthalten. Schon gar nicht der eigenen Schwester! Aber vielleicht ist ja alles nur ein Missverständnis, das sich bald in Luft auflöst.
Der Zeichenunterricht löst sich leider nicht in Luft auf und besonders die letzte halbe Stunde zieht sich.
„Das ist immer so, wenn man sich auf etwas besonders freut“, denkt Leonie an den Matthi-Kathi-Liebesbrief, während sie ihren Zug zeichnet, der überhaupt nicht wie ein Zug aussieht. Sondern eher wie eine Schlange. Eine Boa constrictor mit Fenstern. Obwohl sie noch nie eine Riesenschlange mit Fenstern gesehen hat. Lena offenbar auch nicht.
„Dein Zug sieht aus wie ein Regenwurm“, lässt sie ihre Banknachbarin unumwunden wissen.
„Vielen Dank auch“, entgegnet Leonie ein wenig gekränkt. Genau das hat ihr noch gefehlt. Eine ungebetene Meinung. Und wenn man es ganz genau nimmt, sieht Lenas Zug auch nicht viel besser aus. Der einzige Unterschied besteht darin, dass ihr Zug dampft und wo bitte gibt es heute noch Eisenbahnen, die dampfen? Wir sind hier schließlich nicht in der Badewanne.
Auf dem Nachhauseweg strapaziert Edwin wie immer Leonies Nerven. Er will unbedingt wissen, worüber sie mit Pauli in der großen Pause so lange getuschelt hat.
„Über neugierige Jungs mit zu großen Ohren“, schaut sie vergnügt lächelnd in sein Gesicht und hat große Mühe, nicht laut zu kichern.
„Dann verrät es mir eben Pauli“, brummt Edwin über ihren Scherz auf seine Kosten eingeschnappt, bevor er die Eingangstür von Nummer 8 laut hinter sich zuschlägt.
„Das glaube ich weniger“, lächelt Leonie in sich hinein. „Der Kleine wird sich hüten, mit der Wahrheit rauszurücken, da er sonst Gefahr läuft, als Getreideflockenmischung zu enden. Und das schmeckt ihm ganz bestimmt nicht
Denn wer endet schon gern fein geschrotet und in Stücken?