Читать книгу Leo ist verknallt - Sabine-Franziska Weinberger - Страница 3

1 Ein neuer Junge in der Klasse

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Da ist er. Der Neue. Luzian heißt er, glaubt sie sich zu erinnern. Er fährt auf der anderen Seite der Straße auf seinem silbernen Roller, der cool aussieht. Schnell dreht sich Leonie um und tut so, als würde sie in ein Schaufenster gucken. Dabei fällt ihr Blick auf das eigene Spiegelbild in der Glasscheibe. Flüchtig betrachtet sie ihre seitenverkehrte Doppelgängerin im Fenster: Die Turnschuhe sind vom Herumtoben auf dem Spielplatz schmutzig, die blauen Jeans von der Sonne ausgebleicht und ihre goldblonden, schulterlangen Haare vom Wind leicht zerzaust. Sie trägt zwei verschiedene Socken, die sie in der Scheibe zwar nicht sehen kann, doch ihr Kopf weiß, dass einer gelb und einer weiß ist, da morgens nicht genug Zeit war, zwei passende zu finden.

In ihrem Gesicht entdeckt sie zwei freche Grübchen, die sich noch vertiefen, wenn sie lächelt. Auch die kleinen Pünktchen rund um ihre Nase sind noch alle da, obwohl sie wünschte, sie wären weg, da sie Sommersprossen ein wenig peinlich findet. Nichts an ihr ist ungewöhnlich oder anders als sonst und doch fühlt sie sich heute irgendwie seltsam.

Sie weiß auch nicht, was mit ihr los ist, aber immer wenn sie den neuen Jungen sieht, der seit einer Woche in ihre Klasse geht, beginnt ihr Herz zu hüpfen, ihr Bauch zu kribbeln und ihre Ohren zu sausen, solange, bis sie überhaupt nicht mehr weiß, was sie weiß oder nicht weiß.

Leonie dreht sich kurz um, weil sie sich vergewissern will, ob Luzian noch da ist. Wie von einem Magneten angezogen, wandert ihr Blick auf die andere Seite der Straße und sie sieht gerade noch, wie er fröhlich um eine Ecke biegt, während seine schokoladenbraunen, lockigen Haare wie ein duftiger Vorhang hinter ihm herflattern. Das Mädchen überlegt kurz, ob es ihm etwas hinterher rufen soll, doch dann lässt Leo es lieber bleiben, weil ihr nichts einfällt.

Schnell läuft sie nach Hause, und wäre beinahe über eine leere Cola-Dose gestolpert, die jemand auf den Gehsteig hat fallen lassen. Als sie zu Hause ankommt, knallt sie – WUUMMMMS – erst mal die Eingangstür zu, damit alle wissen, dass sie vom Spielplatz zurück ist.

„Ist King Kong wieder zu Hause?“, hört sie Katharina, ihre ältere Schwester lästern.

„Nein. Karate-Kid“, kontert Leonie und will schon mit einem waghalsigen Sprung durch die Luft segeln, als sie laut die Stimme ihrer Mama vernimmt, die sie aus ihren kühnen Fluggedanken wieder auf den Boden holt.

„Bist du das, Leo-Schätzchen!“, hört sie aus der Küche rufen. „Ab ins Bad und Hände waschen!“

Einen kurzen Moment lang stellt sich Leonie einen Mama-Roboter vor, dessen einziger Wortschatz aus Hände waschen, Zimmer aufräumen und Schulaufgaben machen besteht. Da sie jedoch aus Erfahrung weiß, dass es ohne Händewaschen kein Abendbrot gibt, tut sie halt ihrem Magen den Gefallen und trottet mechanisch ins Badezimmer, um ihre schmutzigen Finger kurz unters kalte Wasser zu halten, obwohl sie überhaupt nicht versteht, wozu dieser übertriebene Mamasauberkeitswahn gut sein soll.

„Und die Seife nicht vergessen!“, steckt ihre Mama kurz den blonden Pagenkopf ins Badezimmer und beäugt ihre Tochter kritisch von Kopf bis Fuß.

„Hast du was, Häschen?“, schaut sie Leonie mit ihrem Mama-Röntgen-Blick an, so als wolle sie tief in ihr Innerstes gucken.

„Ja“, will Leo sagen, „ich will nicht ständig Schätzchen und Häschen genannt werden! Ich bin acht Jahre und kein Baby mehr“, aber das kann sie nicht in Worte fassen, ohne ihre Mama zu kränken, deshalb steht sie nur da und schüttelt wortlos den Kopf.

„Ganz sicher?“, hakt Mama nach. „Hat deine Mannschaft beim Kampfball verloren?“

„Natürlich nicht“, brummt Leonie verdrossen. Warum muss Mama auch immer vom Schlimmsten ausgehen? Leo ist die beste Kampfballspielerin ihrer Klasse. Ein begnadetes Talent. Ein aufgehender Stern am Kampfballhimmel.

„Welche Laus ist dir dann über die Leber gekrochen?“, bohrt Mama weiter.

„Eine auf zwei Rädern“, denkt Leonie, bringt jedoch kein Wort heraus. Kurz hält sie den Atem an, in Erwartung, welche Frage wohl als nächstes kommt, aber dann dreht sich ihre Mutter wortlos um und reicht ihr ein orangefarbenes Handtuch, mit dem sie sich ihre nunmehr sauberen Hände abtrocknen kann. Dann streckt sie ihre Hand aus, um das Tuch schnell wieder an seinen ursprünglichen Platz zu befördern.

„Komm essen!“, fordert sie Leonie auf, worauf ihr das Mädchen hungrig ins Speisezimmer folgt. Erfreulicherweise stehen die Teller schon auf dem Tisch. Es gibt Wurst, Käse und verschiedene Salate für all jene in der Familie, die auf ihre Figur achten müssen. Leonie gehört glücklicherweise nicht zu ihnen und greift hungrig nach einem Brötchen frisch aus dem Backofen.

„Wie war es heute beim Kampfballspielen?“, will Papa wissen.

„Hbn sbstvstndlch gwnnn“, würgt Leonie zwischen zwei großen Bissen hervor und erntet prompt einen strengen Blick von Mama, die es gar nicht mag, wenn sie mit vollem Mund spricht.

„Stimmt es, dass es in eurer Klasse einen neuen Mitschüler gibt?“, will ihre ältere Schwester Katharina wissen, während sie mit Leidensmiene in ihrem Salat herumstochert.

„Kann schon sein“, erwidert Leo kurz angebunden, da sie keine große Lust verspürt, über Luzian zu reden und schon gar nicht mit ihrer Schwester in Gegenwart der Eltern.

„Davon hast du gar nichts erzählt“, bekommt Mama ganz große Augen und blickt Leonie erwartungsvoll an.

„Weil es unwichtig ist“, erwidert das Mädchen. „Ist keine große Sache, nur ein neuer Junge in der Klasse!“

Na prima, das hat sich fast gereimt. Leonie muss sich jetzt auch ein bisschen wundern. Und zwar über sich selbst. In der Schule hat sie mit gereimten Gedichten und Elfchen immer ihre Probleme, doch wenn sie an den Neuen denkt, geht es auf einmal wie geschmiert.

„So, so“, ruht nun auch Papas Blick interessiert auf seiner Jüngsten. „Der neue Junge ist also keine große Sache“, verzieht er seine Lippen zu einem kleinen Schmunzeln, wobei Leonie nicht ganz klar ist, was ihr Papa so lustig findet.

„Nein, ist er nicht“, stellt sie klar und hofft, dass das Verhör damit beendet ist.

„Gibt es sonst noch etwas Unwichtiges zu berichten“, versucht Mama das Thema zu wechseln, da sie mit ihren feinen Antennen spürt, dass Leonie nicht so gerne über den Neuen spricht.

„Ja“, lächelt Leonie erleichtert, das sie nun endlich über etwas reden kann, das sie nicht erröten lässt.

„Wir haben ein neues Spiel gelernt!“, verkündet sie stolz.

„Ein neues Spiel?“, zieht Papa seine buschigen Augenbrauen interessiert nach oben. „Welches denn?"

„Wer ist der Mörder?“, lächelt Leonie verschmitzt und wirft einen spitzbübischen Blick in die Runde. „Und wenn ihr eure Teller aufgegessen habt, zeige ich euch, wie’s geht“, fügt sie großzügig hinzu und schnappt sich noch schnell ein Brötchen, während drei Augenpaare indigniert auf ihr ruhen.

Es gibt Tage, an denen man besser nicht aufsteht und auf den Abend wartet, bevor man die Schuhe anzieht. Der nächste Tag ist so einer und beginnt damit, dass Mama anstelle eines frischen Schokoladencroissants vom Bäcker ein Vollkornbrötchen mit Butter und Schnittlauch in Leonies Schultasche packt. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, legt sie auch noch eine geschälte Karotte und drei Apfelscheiben dazu. Das ganze nennt sie gesunde Jause, die ein normales, im Wachstum befindliches Kind niemals freiwillig zu sich nehmen würde. Leo schaut ihre Mama empört an. Dann versucht sie, das Schlimmste zu verhindern, in dem sie eine Grundsatzdiskussion über vernünftige Ernährung für Achtjährigen beginnt, doch wenn es um ihre tägliche Vitaminzufuhr geht, lässt Mama nicht mit sich verhandeln. Sie hört noch nicht einmal zu, was Leonie zu sagen hat. Anstatt dessen holt sie – OH SCHRECK GEH WEG – ein Fruchtmolkeprodukt (selbstverständlich ohne Zuckerzusatz) aus dem Kühlschrank und lässt dieses ohne den geringsten Anflug eines schlechten Gewissens ebenfalls in Leonies Schultasche verschwinden.

„Schlimmer geht nimmer“, denkt sich Leonie zerknirscht. Bleibt nur zu hoffen, dass die Mutter ihrer Banknachbarin Lena etwas mehr Besonnenheit zeigt und wenigstens ihrer Tochter etwas Essbares mitgibt, das mindestens für zwei reicht, dann sind die Karotten Geschichte und das Schnittlauchbrot Vorvergangenheit. Im Stillen hofft Leonie, dass noch ein bisschen vom selbst gebackenen Apfelstrudel, den Lena gestern dabei hatte, übrig ist, denn der schmeckt besonders köstlich.

Als Leonie die Tür öffnet, ist das Bild vom Apfelstrudel schnell verblasst, denn vor ihr steht Edwin, der Junge von Tür Nummer 8. Oder besser gesagt, die Nervensäge von nebenan. Edwin ist ein einziger Albtraum. Er rechnet wie ein Computer, malt wie ein Weltmeister, liest wie ein Staubsauger und schreibt so schnell wie ihre große Schwester Katharina, so dass sie sich schon manchmal fragt, ob die beiden nicht von einem anderen Stern kommen. Das würde auch erklären, warum sie immer so dämlich kichern, wenn sie ihre Köpfe zusammenstecken und das obwohl Edwin vier Jahre jünger ist als Kathi. Und noch dazu ein Junge. Aber brauchen Außerirdische wirklich einen Grund, um blöd zu grinsen und ihre Köpfe zusammen zu stecken? Vermutlich nicht.

„Hallo Leonie!", begrüßt Edwin sie freundlich.

„Leo", korrigiert sie ihn schnell, da sie es nicht leiden kann, mit der Langform ihres Namens angesprochen zu werden. Erstens, weil dieser Name überhaupt nicht zu ihr passt (was haben sich ihre Eltern bloß dabei gedacht, sie Leonie zu nennen) und zweitens benimmt sich Leo meistens wie ein Leon, weshalb ihr auch immer wieder von verschiedenen Seiten bestätigt wird, dass an ihr ein echter Junge verloren gegangen ist. Nichtsdestotrotz erwidert sie Edwins Gruß Kopf nickend, weil sich das so gehört (meint ihre Mama). Aber reden will sie trotzdem nicht. Nicht etwa, weil Edwin ein Junge ist, was schon mal ein triftiger Grund wäre, sondern weil sie morgens generell nicht viel zu sagen hat.

Davon abgesehen, ist sie noch nicht richtig wach. Erwartungsgemäß hält das Edwin nicht davon ab, ihr ausführlich von seinem gestrigen Besuch bei seinem Opa zu erzählen, der neben den intelligentesten Ziegen (klug wie Hunde), den größten Meerschweinchen (fast so groß wie Hasen), und gesprächigsten Wellensittichen (sprachbegabt wie Papageien) auch noch die süßesten Babykatzen der Welt besitzt. Leo, die mehr auf Haifische steht, muss jetzt mal ganz kurz gähnen, was Edwin schon ein bisschen kränkt.

„Was hältst du eigentlich von dem Neuen?", will Edwin mit einem Mal wissen und sofort ist Leo hell wach. Um ganz ehrlich zu sein, hat sie sich das auch schon gefragt, doch es fällt ihr keine passende Antwort ein. Aus unerfindlichen Gründen hat sie sich bisher noch nicht dazu durchringen können, Luzian genauso doof wie die anderen Jungs in der Klasse zu finden, was sie schon ein bisschen beunruhigt.

„Weiß nicht", zuckte sie kurz mit den Schultern. „Hab' noch nie mit ihm gesprochen." Das entspricht sogar der Wahrheit, soll sich jedoch schon bald ändern.

Leo ist verknallt

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