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Die Abgeschiedenheit von der Welt

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Als ich die Augen aufschlug, sah ich weiß getünchte Steinmauern in schummrigem Licht um mich herum. Das war also keiner meiner wüsten Träume gewesen, es war die schreckliche Wirklichkeit. Ich konnte es gar nicht fassen, dass ich noch immer hier war. Es konnte doch nicht wirklich wahr sein. Durfte nicht wahr sein. Ich war eingesperrt. Gefangen. Ich konnte hier nicht weg, war gezwungen zu bleiben, bis irgendjemand, der mich hier festhielt, Erbarmen zeigte und mich wieder frei ließ, oder eben auch nicht. Was für ein Desaster. Nichts, gar nichts konnte ich dagegen tun. Neben mir wachte der Mann auf, und als ich mich nach ihm umsah, konnte ich mit einem Blick erkennen, dass es ihm ebenso erging wie mir, auch er hatte wohl gehofft, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Ich sah auf seinem Gesicht, wie die Wirklichkeit ihn einholte. Jetzt war ich es, die ihn tröstend in den Arm nahm, denn es machte den Anschein, als sei diesmal ihm zum Weinen zumute. „Na siehst du, solange hat es doch gar nicht gedauert, bis ich auch deines Trostes bedurfte.“ Er konnte schon wieder lächeln. Dieses wunderbare Lächeln, das mir immer tiefer ans Herz ging. Vielleicht kann niemals das Lächeln eines Menschen einem anderen so viel bedeuten wie in dieser unwirklichen Situation, wo zwei auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zusammen in einem Raum eingesperrt waren.

Nichts kann wohl sonst jemals so sein wie in dieser einzigartigen Situation. Nichts ähnelt dem. Kaum ein Mensch wird solche Erfahrungen machen, solche Empfindungen durchleben. Wir hörten wieder die Tür am Ende des Flures. Gleichzeitig sprangen wir auf und rannten los, aber auch jetzt hörten wir die Tür schon wieder zufallen, als wir noch auf dem Weg waren. Da stand unser Frühstück. Irgendwie hatten wir also das Zeitgefühl doch noch nicht verloren, wir schliefen nach dem Abendessen, und wenn wir aufwachten, war es Frühstückszeit. Zumindest bildeten wir uns das ein. Es fühlte sich besser an so. Wir waren uns dennoch jederzeit der Tatsache bewusst, dass es ganz anders sein konnte, dass man uns eben das Frühstück servierte, wenn wir aufwachten, egal welche Tageszeit außerhalb dieser Räumlichkeiten gerade herrschte. Wir hatten keine Möglichkeit, das nachzuprüfen. Also nahmen wir es hin und lebten in unserem ganz eigenen Rhythmus, unabhängig davon, ob dieser den tatsächlichen Zeitabläufen entsprach, oder nicht.

Es war ja im Grunde auch vollkommen gleichgültig für uns hier im Keller, ob nun Tag oder Nacht war, ob wir das mitbekamen oder nicht. Es spielte für unser aktuelles Leben keinerlei Rolle. Immerhin stimmte mein Rhythmus mit seinem und sein Rhythmus mit meinem überein. So konnte er doch nicht ganz falsch sein. Nicht für uns jedenfalls. Und was gab es denn anderes als uns. Wir beide waren hier in einem einzigen Raum eingesperrt, wir waren Tag und Nacht zusammen, ob wir wollten oder nicht, konnten uns nicht aus dem Weg gehen, oder uns ablenken. Keine Zeitung, kein Buch, kein Fernseher oder Radio. Nur wir beide. Aufeinander konzentriert. Noch mehr als Liebende es je sein können. Kein Mensch kann jemals so konzentriert auf einen anderen sein, wie wir beide es hier in unserem Gewölbe waren. Draußen in der Welt wäre das so gar nicht möglich gewesen. Wir jedoch waren hier auf einer kleinen Insel, wie Schiffbrüchige, wo wiederum nichts anderes möglich war, als sich aufeinander zu konzentrieren, weil eben einfach nichts anderes vorhanden war. Nur er und ich.

Gefangen

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