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Der fremde Mann

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„Wo bin ich?“ hörte ich eine schwache Stimme sagen. Der Mann war wohl von meinem Befreiungsgelächter aufgewacht. Ich hatte ihm gegenüber ein ziemlich mulmiges Gefühl. Mit einem mir völlig unbekannten Mann an einem mir völlig unbekannten Ort ganz allein zu sein, war unheimlich. Er war sicherlich stärker als ich, und hätte sonst was mit mir machen können. Was er wollte, konnte er mit mir machen, hier würde mir ja niemand helfen können. Ich dachte an meine anfängliche Benommenheit, als ich selbst gerade aufgewacht war. Es war doch sehr wahrscheinlich, dass er sich jetzt genauso fühlte, also noch schwach war. Diese Schwäche wollte ich jetzt ausnutzen, um so viel wie möglich über ihn zu erfahren, solange sie noch anhielt. Ich ging also zu ihm hin. Wie er so dalag, benommen und verwirrt, hätte ich ihn am liebsten sofort in den Arm genommen, so hilfebedürftig sah er aus. Man konnte ihm deutlich ansehen, wie elend er sich fühlte. Er war mir ja auch durchaus sympathisch, und, wie gesagt, sogar attraktiv. Mein Misstrauen ließ sich davon aber nicht besänftigen. Noch immer befand ich mich schließlich in einer Situation, die ich überhaupt nicht einordnen konnte, genauso wenig wie ich diesen fremden Menschen einschätzen konnte. Ich stand jetzt vor ihm, er lag flach auf dem Bett und ich konnte annehmen, dass er sich genauso fühlte, wie ich mich gefühlt hatte, bleischwer und bewegungsunfähig. Das musste wohl bedeuten, dass wir beide bewusstlos gewesen waren. Was aber hatte das wiederum zu bedeuten? Jetzt sah er mich aus schönen braunen Augen an. Und von einem Moment auf den anderen hatte ich keine Angst mehr vor ihm, nicht vor diesen Augen, wundervollen Augen, die Wärme und Güte ausstrahlten. „Wer bist du?“ fragte ich ihn. Warum ich ihn duzte, wusste ich nicht. Noch nie zuvor war ich in solch einer Lage gewesen, woher sollte ich wissen welches hier die adäquate Anrede gewesen wäre? Ich wusste es. Jedenfalls duzte er mich wieder, also schien es wohl angebracht. „Und wer bist du?“ fragte er zurück. „Ich habe zuerst gefragt.“ Er nannte mir seinen Namen, daraufhin sagte ich auch meinen. Keiner von uns beiden wusste dadurch aber mehr als vorher. In dieser Situation war es eigentlich vollkommen sinnlos sich mit Namen vorzustellen. Aber was konnte in so einer Situation schon sinnvoll sein?

Er schien mich also genauso wenig zu kennen, wie ich ihn. Ich musste an den Spruch denken „Namen sind nur Schall und Rauch“. In unserem Fall traf der uneingeschränkt zu. Fast kam mir die Situation grotesk und lächerlich vor. Wenn das alles nicht so beängstigend gewesen wäre, hätte man vielleicht darüber lachen können, so abartig war diese Geschichte, die uns hier passierte. Der Mann richtete sich auf und ich bemerkte, wie schwindelig ihm dabei wurde. Ich setzte mich neben ihn. „Du scheinst dich genauso benommen zu fühlen wie ich, als ich vorhin aufgewacht bin.“ sagte ich und er nickte. Er war noch nicht ganz da und versuchte offenbar angestrengt nachzudenken. „Aber warum?“ fragte er mich und sah so verwirrt aus, wie ich es zuvor gewesen war. „Ich weiß es nicht.“ Weniger verwirrt war ich, jetzt da ich wacher war, eigentlich auch nicht. Er sah mich ungläubig an. Auch er konnte mir natürlich nicht so ohne weiteres vertrauen. Mein Gott, hat dieser Mann schöne Augen, dachte ich, trotzdem sie noch immer etwas müde dreinschauten. Jetzt war ich plötzlich heilfroh, dass ich nicht alleine hier war, ihn an meiner Seite hatte. „Aber wo sind wir hier?“ fragte er weiter. „Auch das weiß ich nicht.“ Jetzt sah er noch erschütterter aus als vorher schon. „Ich bin hier vorhin wie du total benommen aus einer Art Ohnmacht aufgewacht, ohne zu wissen wie es dazu gekommen ist. Ich weiß weder wo ich bin, noch wer du bist und was das alles hier soll. Das einzige, was ich dir sagen kann, ist, dass sich da hinter dieser Tür ein Badezimmer befindet. Da vorne ist ein langer dunkler Gang, den habe ich mir noch nicht angeschaut, ich habe es nicht gewagt. Ich musste schon für das Badezimmer meinen ganzen Mut aufbringen.“ Er sah zuerst zur Badezimmertür, dann in Richtung Flur. Fragend schaute er mich an. „Die Situation ist wirklich merkwürdig, irgendwie unheimlich. Lass uns den Flur gemeinsam erforschen!“ schlug er vor. Er versuchte aufzustehen, schwankte aber und kam sogleich wieder auf dem Bett zu sitzen. Hilfesuchend sah er mich mit seinen schönen Augen an, so dass ich gar nicht anders konnte, als ihm aufzuhelfen. Ich war ja in meiner Erholung schon etwas weiter fortgeschritten und so zumindest ein bisschen sicherer auf den Beinen als er.

Zur gegenseitigen Unterstützung gingen wir Arm in Arm auf den Flur zu. Das war sehr angenehm, ein wenig menschliche Wärme und Nähe wirkte sehr tröstlich in dieser Lage, und mein Misstrauen war erst einmal beschwichtigt. Auf diese Weise kam mir der Flur nun schon etwas weniger angsteinflössend vor als die Badezimmertür, obwohl es sich nach wie vor um einen langen dunklen Korridor, ein unheimliches schwarzes Loch handelte. Es fiel fast gar kein Licht hinein, etwas Helligkeit kam nur von unserer Seite her, vor uns im Loch herrschte vollkommene Finsternis. Man konnte eigentlich nur sehen, dass es sich um den Beginn eines Ganges handelte, ein Ende war nicht zu erkennen. Wir beide hielten uns noch fester und gingen gemeinsam in die Dunkelheit hinein. Wir gelangten schließlich zu einer schweren Eisentür. Eine einfache Badezimmertür war das diesmal nicht. Der Mann war ganz offensichtlich mutiger als ich und versuchte sofort und ohne zu zögern, die Tür zu öffnen. Mein Herz raste schon wieder wie wild, als würde es gleich explodieren, doch vergebens, die Tür war verschlossen. So beruhigte sich mein Herzschlag relativ schnell wieder. „Hast du hier noch eine andere Tür entdecken können?“ fragte mich der Mann. „Nein, nur die Badezimmertür, sonst gibt es hier nichts als steinerne Wände, nicht mal ein Fenster.“ Sein Blick wurde irgendwie leer, als er sagte: „Dann sind wir hier eingesperrt.“ Mit Entsetzen wurde mir klar, dass er Recht hatte. Darüber hatte ich bisher noch gar nicht nachgedacht. Eingesperrt, dieses Wort hatte einen so grauenhaften Klang, dass ich es in meinen Gedanken noch nicht formuliert hatte. Jetzt hatte er es ausgesprochen und mir blieb nichts anderes übrig als zu realisieren, dass es die bittere, erschreckende Wahrheit war.

Gefangen

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