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Annäherung an einen Fremden

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Dieser Mann gefiel mir immer besser. Ich spürte eine seltsame Zuneigung, wenn ich ihn ansah. Fast war er mir schon vertraut, ich hatte mich irgendwie bereits an seine ständige Anwesenheit gewöhnt. So etwas wie ein Gefühl der Kumpanei stellte sich zwischen uns ein, allein durch unser gemeinsames Schicksal. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass zwischen zwei völlig fremden Menschen innerhalb so kurzer Zeit so eine Art von tiefer Vertrautheit aufkommen könnte, ich war normalerweise eher zurückhaltend gegenüber anderen, allerdings war ich ja auch vorher noch niemals in einer solch außergewöhnlichen Situation gewesen. Wenn man so etwas nicht selbst erlebt, kann man sich das wohl gar nicht vorstellen. So was stellt sich ja auch niemand vor, wer würde denn denken, dass er jemals in eine solche Lage kommen könnte?

Der Mann lächelte noch immer. Er sah aus, als versuche er zu erraten, was ich denke. „Erzähl mir von dem Seminar, das du besuchen wolltest.“ sagte er. Wir stellten jetzt schnell fest, dass wir dasselbe Seminar hatten besuchen wollen, und auch Zimmer im gleichen Hotel gebucht hatten. In unseren Zimmern waren wir jedoch beide nicht angekommen, so viel zumindest wussten wir nun. Langsam tasteten wir uns gemeinsam an die letzte Erinnerung vor der Bewusstlosigkeit heran. Das gestaltete sich schwierig, denn wir waren beide noch immer etwas benommen und unsere Erinnerungen entsprechend nebulös. Sie endeten schließlich in der Tiefgarage des Hotels. Immerhin war es zu zweit leichter, den Pfad der Erinnerungen zurückzuverfolgen, da dem Zuhörenden meist ein neues Bruchstück einfiel, wenn einer von uns beiden erzählte, an was er sich selbst erinnern konnte. So kamen wir peu à peu einem Gesamtbild der Geschehnisse ein bisschen näher. Ganz klar wurde uns die Geschichte dadurch aber leider auch nicht. Von einer Erklärung für die Ereignisse, die uns zusammen hierher gebracht hatten, waren wir unerreichbar weit entfernt. Nichts in unseren Erinnerungen konnte uns auch nur die Spur einer Erhellung des Geschehenen einbringen.

Ich beobachtete ihn, während er mir von seinen Seminarvorbereitungen, seiner Autofahrt, seiner Ankunft im Hotel erzählte. Ich hatte Glück, dachte ich bei mir, ebenso hätte ich hier mit einem ganz fürchterlichen Menschen eingesperrt sein können, der mich ängstigt, anstatt mich zu beruhigen, wie er. Ein anderer Mann hätte vielleicht die Situation ausgenutzt, mich vergewaltigt oder mir sonst was angetan, die Möglichkeit der Machtausübung war ihm hier ja durchaus gegeben. Er war mir an körperlicher Kraft überlegen und es gab weder eine Fluchtmöglichkeit, noch war weit und breit jemand, der mir hätte helfen können. Ich hatte mit ihm wirklich Glück im Unglück gehabt. Ich sah ihn an und er wirkte so sympathisch auf mich, so ausgleichend und beruhigend, er half mir allein durch seine Art und Ausstrahlung, diese Situation zu ertragen, fast fühlte ich mich mit ihm zusammengeschweißt durch die gemeinsame Gefangenschaft. Zusammengeschweißt auf eine angenehme, vertraute Weise. Wir hatten etwas gemeinsam, was sonst kaum zwei Menschen auf der Welt teilen können. So etwas würde ja auch an und für sich niemand teilen wollen, aber da es nun einmal so war, kam es mir durch seine Einzigartigkeit unendlich kostbar vor.

Dieses gemeinsame Schicksal nahm uns jede Fremdheit, obwohl wir uns doch erst seit ein paar Stunden kannten, wenn hier von kennen überhaupt die Rede sein konnte. Wir wussten gar nichts voneinander, außer dass wir beide dasselbe Seminar hatten besuchen wollen. Wir mussten aber auch gar nichts voneinander wissen, alles, was wir voneinander hätten wissen können, wäre hier und jetzt ohnehin völlig unbedeutend gewesen. Die Dimensionen verschwammen in diesem Gewölbekeller, Bedeutungen verschoben sich. Dieser unklare Zustand schaffte eine eigenartige Anziehung zwischen uns beiden, eben eine Art Kumpanei, die man wahrscheinlich niemandem erklären kann, der sie nicht erlebt hat. Und wer erlebt schon so etwas wie wir beide zusammen erlebt haben. Ich war jedenfalls unendlich glücklich darüber, dass gerade er es war, der jetzt hier bei mir saß.

Wir sprachen weiter über unsere letzten Erinnerungen vor der Bewusstlosigkeit, forschten in den entlegensten Winkeln unserer Gehirne nach den unbedeutendsten Details, die wir nur irgendwie hervorkramen konnten, um vielleicht eine winzige Kleinigkeit zu entdecken, die zur Aufklärung der Geschehnisse hätte beitragen können. Auf keinen Fall wollten wir irgendetwas übersehen in unseren Überlegungen, außerdem hatten wir ja alle Zeit dieser Welt uns mit den Vorgängen in der Tiefgarage zu beschäftigen. Und diese Nachforschungen lenkten uns wenigstens ein bisschen ab von der Ausweglosigkeit unserer Lage. Durch die Beschäftigung damit mussten wir nicht sofort der Tatsache ins Auge sehen, dass es sowieso keine Rolle spielte, wie und warum wir hierher gekommen waren, dass uns keine Erkenntnis der Welt unter diesen Umständen wirklich würde helfen können.

Gefangen

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