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Hunger

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Plötzlich gab es hinten am Ende des Ganges ein Geräusch, als wenn eine Tür aufginge. Wir sprangen beide auf und rannten in Richtung dunkler Flur. Schon auf dem Weg dorthin hörten wir das gleiche Geräusch noch einmal. Das konnte nur bedeuten, dass die Tür wieder geschlossen worden war. Wir hielten inne und lauschten. War dort jemand eingetreten? Außer unseren Atemgeräuschen, die durch das plötzliche Aufspringen und Losrennen deutlich zu hören waren, gab es nichts. Nichts. Wie sonst auch hier drinnen, herrschte eine absolute Stille. Wir sahen uns verzweifelt an, ein winziger Hoffnungsschimmer war durch uns beide hindurchgehuscht und im selben Augenblick wieder entschwunden. Langsam gingen wir auf die Tür am Ende des Flures zu. Dort stand etwas, was vorher noch nicht da gewesen war. Neben der Tür gab es einen Absatz in der Mauer, darauf war irgendetwas abgestellt worden, das man in der Dunkelheit nicht genau erkennen konnte. Beim näher kommen sahen wir ein Tablett. Zwei Teller mit Speisen darauf, Gläser, Servietten, alles recht nett angerichtet, eine Flasche Wein.

Dieser Anblick trieb mir die blanke Panik mit einem tiefen Stich ins Herz. „Die wollen uns hier länger festhalten!“ schrie ich verzweifelt und fing an zu schluchzen. Das pure Entsetzen ergriff Besitz von mir bei diesem Gedanken. Der Mann nahm mich wieder beruhigend in den Arm. In diesem Moment wurde mir klar, dass er ja schon gar nichts anderes mehr zu tun hatte, als mich zu trösten, obwohl er schließlich in derselben ausweglosen Situation war wie ich, und auch die gleichen Gründe zum Verzweifeln hatte. Also beherrschte ich mich, und bat ihn um Entschuldigung für meinen erneuten Ausbruch. „Hey, wenn du dich an diesem Ort und in dieser Situation nicht gehen lassen kannst, wann denn, verdammt nochmal, wann denn dann?“ Beschwörend hielt er meinen Kopf zwischen seinen Händen und sah mich mit unendlicher Wärme und Güte an. Wir umarmten uns. Meine Verzweiflung war durch ihn wieder mal weitestgehend gewichen. Ich konnte nicht begreifen wie dieser mir vollkommen fremde Mensch es immer wieder schaffte, mich an diesem furchtbaren Ort mit so einer Leichtigkeit zu beruhigen. Aber er schaffte es. Ich fragte mich, was ich tun würde, wenn er jetzt nicht da wäre. Wenn ich ganz alleine in diesem schrecklichen Keller wäre. Schnell verdrängte ich diesen Gedanken, um nicht wieder in Panik zu verfallen und weinen zu müssen.

Irgendwie war ich ganz schön mit den Nerven runter. Wie konnte er nur so souverän und ruhig bleiben? „Warum lässt du dich dann nicht auch gehen?“ fragte ich ihn spontan. „Und wer sollte dich dann trösten?“ Er lächelte. „Vielleicht könnte ich ja dann zur Abwechslung mal dich trösten.“ lächelte ich zurück. „Falls wir tatsächlich länger hier drinnen sein sollten, wirst du diese Gelegenheit bestimmt noch bekommen. Aber lass uns doch jetzt erst mal was essen. Das sieht doch alles ganz appetitlich und einladend aus, komm.“ Er nahm das Tablett, gab mir die Flasche Wein, und ich folgte ihm. Wir setzten uns aufs Bett, denn eine andere Sitzgelegenheit gab es in dem Raum ja nicht. Eine seltsame Situation, so auf dem Bett zu sitzen, zu essen, Wein zu trinken. Eigentlich würde nur ein romantisches Liebespaar auf eine solche Idee kommen. Und romantisch war das alles hier ja nun wirklich nicht, alles andere als romantisch.

Das Essen war köstlich, jetzt erst merkten wir, dass wir beide hungrig waren, seit Stunden schon hatten wir nichts mehr zu uns genommen. Der Wein tat gut, nahm mir ein wenig die Anspannung. Wir plauderten übers Essen und Trinken, fast wie bei einem ganz normalen Abendessen. Abendessen? War das überhaupt ein Abendessen? Ich bemerkte, dass ich gar kein Zeitgefühl hatte und wollte auf meine Uhr sehen, die ich normalerweise stets am linken Handgelenk trug. Sie war nicht da. Ich fragte den Mann nach der Uhrzeit, aber auch seine Armbanduhr war verschwunden. Ein Reisewecker, den ich im Koffer gehabt hatte, war auch nicht mehr da. Eine unheimliche Stimmung kam auf, wir hatten beide keine Ahnung, wie spät es war, welche Tageszeit, wir konnten nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob es Tag oder Nacht war, denn hier herrschte ja dieses immer gleiche schummrige Licht, und Fenster gab es keine. Das war ein außergewöhnliches Gefühl des gesteigerten Kontrollverlustes.

Automatisch nahm mich der Mann wieder tröstend in den Arm, noch bevor ich eine neuerliche Panikreaktion zeigen konnte, denn er spürte intuitiv, was der Zeitverlust bei mir auslöste. Ich war so glücklich, dass er bei mir war, denn dieses ohnmächtige Ausgeliefertsein ängstigte mich ganz furchtbar. Was würden sie nur mit uns tun? Sie konnten alles mit uns tun, was sie wollten, es lag ganz allein in ihrer Macht, was mit uns geschehen würde. Sie konnten uns für immer hier lassen, uns töten, uns hier uns selbst überlassen, bis wir verhungern und verdursten würden. Und wir konnten nichts, aber auch gar nichts dagegen tun. Wie er ganz richtig gesagt hatte, blieb uns nichts anderes übrig als zu warten. Und uns zu umarmen. Das immerhin konnten wir. Uns gegenseitig stützen. Das war es jetzt, ein gegenseitiges Stützen, denn ich konnte spüren, dass die Entdeckung unserer Zeitlosigkeit auch an ihm nicht spurlos vorüber gegangen war. Noch nie hatte ich mich einem Menschen so nahe gefühlt, eine so starke Gemeinsamkeit gespürt, die sich als Einheit bemerkbar machte. Wir fühlten uns noch immer leicht benebelt, und der rote Wein tat sein übriges. So fielen wir gleich nach dem Essen wieder in einen bleiernen Schlaf. Diesmal hatte ich wilde Alpträume von Verfolgungsjagden und üblen Verbrechern, die mir böses wollten. Immer wieder wachte ich auf und wälzte mich ruhelos hin und her. Bis ich des Mannes gewahr wurde, der ruhig atmend und im tiefen Schlaf neben mir lag. Sofort wurde auch ich da ruhiger, kuschelte mich an ihn und konnte wieder einschlafen. Endlich fiel ich in einen traumlosen ruhigeren Schlaf, der mir etwas Erholung brachte.

Gefangen

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