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Angelo

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Ein Jahr, nachdem Thomas Deutschland verlassen hatte, kroch etliche Kilometer südlich der Alpen die Feuchtigkeit noch tiefer ins Gebälk und nagte an den Ziegeln.

„Geh aufs Dach, Angelo! Sieh nach, ob du etwas machen kannst“, bat die Mamma und schleppte sich zu ihm hin.

Das war ein Befehl und duldete keinerlei Widerspruch.

„Womit soll ich denn abdichten? Es hält nicht. Ich bin kein Handwerker“, protestierte er trotzdem, allerdings so leise, dass man ihn nicht hören konnte.

Bloß konnte die Mamma von den Lippen lesen. „Geh! Handwerker kosten Geld, und woher bitte soll ich das nehmen?“

Er verzog den Mund. Warum traf es immer ihn und nie Roberto oder Marcello? Schließlich hatten nicht sie den Babbo gefunden und seitdem Albträume. Beide Brüder waren kräftiger als er und schwindelfrei, jedoch auch übermütiger, besonders Marcello. Fürchtete die Mamma um ihr Leben und um seines nicht? Außerdem, was hieß hier: „Geh!“? Es müsste heißen: „Erklimm, und zwar hoch empor!“

„Ich habe sonst niemanden. Deine Brüder sind nun mal in der Schule. Du sagst doch immer, wenigstens sie müssten regelmäßig hingehen. Ich könnte sie hier viel besser gebrauchen, und für dich wäre dann ebenfalls vieles leichter. Ich jedoch habe auf dich gehört. Wirf mir das jetzt ja nicht vor!“ Die Mamma seufzte.

Das mit der Schule stimmte. Trotzdem. Er hasste es, irgendwo hinaufzuklettern. Er blickte nach oben, sah, wie sich der Himmel über ihm drehte, taumelte und war noch nicht einmal auf die Leiter gestiegen. Irgendwann würde er vom Dach in die Tiefe fallen wie der Babbo. Es war nur eine Frage der Zeit. Dabei träumte er von der Höhe, vom Fliegen, hatte etwas versprochen. Er kniff die Augen zusammen und starrte in die Wolken. Wolkenvögel zogen am Himmel vorbei mit Schwingen, die ihn davontragen könnten.

„Beim nächsten Regenguss wird es innen dennoch nass, egal, was ich tue. Wir sollten umziehen“, sagte Angelo und sah zu Boden.

Dort im Sand zeichneten sich Engelsflügel ab, genau wie damals. Er zitterte.

„Ohne dich kommt es schlimmer!“

Nein, wollte er schreien, krächzte jedoch nur.

„Die Miete hier ist gerade noch bezahlbar. Finde du uns doch etwas Billigeres.“

Die Gleichgültigkeit hatte sich längst in ihre Stimme und den Blick geschlichen und raubte ihren Augen noch den letzten Rest Farbe.

„Es gibt Dörfer mit günstigeren Mietpreisen“, entgegnete er trotzig.

Sie schwieg.

Nie würde sie dem Friedhof und dem Granatapfelbaum den Rücken kehren. Das verstand er nur zu gut.

Schrei mich an, tu es!

Die Stille erdrückte ihn bald.

„Wie lange willst du mich noch warten lassen? Das Dach flickt sich nicht von selbst. Zum Glück regnet es hier nicht allzu oft, und nur wenige kalte Wintertage quälen uns. Schnee kennst du nicht. Sei froh! Denn Geld zum Heizen haben wir ebenfalls nicht, das weißt du so gut wie ich.“ Mammas Blick durchbohrte ihn erbarmungslos.

Er schrak zusammen und erwiderte nichts. Ihrem Willen konnte er sich nicht länger entziehen der letzte frostige Wintertag griff gerade nach ihm. Schritt für Schritt kletterte er die Leiter hinauf aufs Dach und vermied es, hinunterzusehen. Die dünne Sprossenstiege ächzte.

Als er den höchsten Punkt erreicht hatte, läuteten die Kirchenglocken, und der Blick der Mamma verlor sich in der Ferne. Der letzte Glockenschlag erklang lauter als die vorherigen und fuhr ihm in die Glieder. Vor Schreck taumelte er über den Dachfirst, rutschte ab und glitt über die Ziegel. Nun segelte er gleich, ähnlich wie der Babbo, mit ausgebreiteten Armen vom Dach. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Sein letztes? So musste es geschehen sein: Tod durch Glockenschlag!

Er rutschte und rutschte. Die Haut an seinen Beinen brannte, an einigen Stellen löste sie sich ab, das Fleisch darunter brannte noch mehr. Erst spät gewann er das Gleichgewicht zurück. Die Mamma schien nichts gesehen zu haben, dabei sah sie ansonsten sogar voraus, wer im entferntesten Winkel des Dorfes unerwartet zu Tode kommen oder verletzt werden würde. Zitternd stieg er die Leiter hinab.

Sie fasste an sein Knie, als er schwer atmend wieder auf ebener Erde stand, und sagte gelassen: „Mit ein bisschen Jod kommt das wieder in Ordnung.“

Er schrie auf.

„Werde Padre wie deine Brüder. Tretet alle drei ein in den Dienst der Mutter Kirche! Dann seid ihr gut versorgt und müsst nicht frieren.“

Trotzig fixierte er den Boden. Sie fasste ihn am Kinn und hob seinen Kopf, sodass er sie ansehen musste, denn die Augen zu schließen getraute er sich nicht.

„Tag für Tag bete ich für euch. Ich erwarte dafür keinen Dank. Nur vergiss nicht, Schimmel gibt es an den Kirchenwänden keinen und aufs Kirchendach klettern musst du auch nicht.“ Sie verstummte, blickte erst verträumt in Richtung Gotteshaus und schließlich mit verhärteten Gesichtszügen wieder zu ihm hin.

„Nein, nein, nein, niemals“, entgegnete er und schwankte noch leicht, hielt ihrem Blick jedoch stand.

Sie kniff die Lider zusammen, funkelte ihn wie eine Katze durch die Schlitze an und zischte: „Du wirst tun, was ich sage! Du tust immer, was ich sage. Aufs Dach geklettert bist du ja auch, und so schwierig war es doch gar nicht. Heul bloß nicht wegen deiner Knie. Das passiert dir oft genug. Wenn es nicht auf dem Dach geschieht, stellst du dich deswegen nicht so an.“

Er reckte das Kinn vor, trat ihr einen Schritt entgegen, musterte sie und schüttelte den Kopf. „Es reicht!“ Kurz sah er sie zusammenzucken. Das gab ihm Mut. Bevor sie etwas entgegnen konnte, fuhr er fort: „Mich kriegt die Kirche nicht. Mich nicht, auch wenn Roberto und Marcello sich beide weihen lassen. Zwei sind genug, ich bin anders!“ Er atmete kräftig aus und setzte hinzu: „Mir ist es da zwischen den Kirchenbänken und Kerzen zu eng.“

Jetzt war es heraus. Aber nicht nur in der Kirche war es ihm zu eng. Die Mamma würde das schnell begreifen.

„Leider! Du gleichst deinem Babbo und träumst dich ebenfalls noch um dein Leben. Und was soll das heißen, eng? Du hast noch keine Ahnung von den Mühsalen des Lebens! Weißt du, wie ich mich und euch durchbringen musste, und was es mich gekostet hat? Gebettelt habe ich um Geld und um Aufträge als Wäscherin. Die Schönheit meiner Hände habe ich verloren und unzählige Demütigungen ertragen, nur für euch. Er hat dir nur ein nutzloses Heft hinterlassen, sonst nichts, gar nichts. Und wenn du noch so lange hineinstarrst, es bleibt unnütz.“ Sie atmete hörbar aus und flüsterte: „Und mir bleibt nicht einmal das.“

Die Mamma hatte recht. Er schwieg und starrte ins Leere. Die Brüder würden sich nicht wehren. Sie verrieten die Mamma nie. Zudem war gegen eine kirchliche Laufbahn wahrhaftig nichts einzuwenden. Beide konnten gut lesen und schreiben und einiges mehr. Sie könnten es in der Kirchenhierarchie weit bringen. Er sah den besonnenen Roberto bereits als Kardinal. Trotzdem wollte er dieses Los nicht teilen, auf keinen Fall. Nein, nein und nochmals nein. Dabei liebte er den Duft von Weihrauch und die Gemeinde, wenn sie gemeinsam und voller Andacht betete. Dieses Bild der Verschmelzung liebte er, aber nicht Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr um Jahr.

Er trat in die Hütte, nahm eine Mandarine aus der Olivenholzschale und schälte sie. Aus dem Fruchtfleisch quoll Saft und verklebte die Finger. Die Frucht verströmte diesen eindringlichen, süßsauren Duft. Er biss hinein. Saft rann am Kinn hinab, die Kerne spuckte er in den Spülstein.

Die Mamma griff nach einem Lappen und säuberte ihn damit. „O ja, du bist wahrhaftig anders! Nicht einmal essen kannst du ordentlich! Du isst noch wie ein Kind, schaffst es nicht, ohne zu kleckern.“

Schweigend und mit giftigem Blick trat er einige Schritte zurück. Diese Mandarinen waren die saftigsten Früchte der Gegend. Kaum jemandem gelang es, sie zu essen, ohne etwas zu verschmutzen, und jeder wusste das. Die Mamma humpelte auf ihn zu und fasste ihn am Arm.

„Du willst Mutter Kirche also nicht dienen? Das sagst du jetzt im Sommer. Da kannst du leicht reden. Zu dieser Jahreszeit fällt es nicht schwer, die Mütter mit Füßen zu treten. Warte nur, bis du frierst. Auch hier gibt es bisweilen erbarmungslose Winter. Du kannst dich bloß nicht erinnern. Du warst zu klein und hattest eine Mamma, die dich wärmte. Aber mir fehlt inzwischen die Kraft. Wenn dir erst die Fingerspitzen und Zehen abfrieren, denkst du anders, dann bleibt dir keine Wahl. Uns bleibt keine Wahl. Wie soll ich euch weiterhin versorgen? Das Laufen fällt mir von Tag zu Tag schwerer. Und dein Babbo, der Träumer, ist tot. Begreife das endlich, wenn du ihm nicht früh nachfolgen willst! Ich meine es gut. Jemand muss für euch Männer denken. Wir erfrieren und verhungern im Winter ohne Mutter Kirche. Womöglich schon im nächsten! Träume sind teuer, wir können sie uns nicht leisten!“ Sie schniefte, ihre Augen tränten.

Er hielt sich die Ohren zu, konnte jedoch den Blick nicht abwenden, und sah ihr krankes Bein, das mahnend unter dem Rock hervorlugte und an kalten Tagen einem Holzbein ähnelte. Als kleiner Junge war sie seine Heldin gewesen, die Heldin in Babbos Geschichten von Amazonen- und Piratenköniginnen. Von dem Bild der Piratenkönigin war nur das Holzbein geblieben. Eine Behandlung bei einem guten Arzt würde sie sich nie leisten können, nicht einmal bei einem schlechten. Konnte er etwas dafür? Wäre er besser nicht zur Welt gekommen? Warum beschimpfte sie den toten Babbo? Sie hatte ihn doch geliebt! Hatte sie? Er erinnerte sich an den Tränenfluss, mit dem sie das Grab begossen hatte. Derartig viele feuerrote Blüten wie in dem Jahr der Tränen hatte der Granatapfelbaum nie wieder hervorgebracht. Wieso ist die Mamma plötzlich nicht mehr schön? Der Babbo hat ihre Schönheit mit ins Grab genommen, dachte er damals. Danach hatte sie sich in eine harte Frau verwandelt, die kaum noch weinte und nicht davon ablassen konnte, ihm und den Brüdern das Leben schwer zu machen. Ihm besonders.

Angelo zupfte sich am Ohrläppchen. Er wollte fort, schon lange. Nur raus hier, raus aus der Enge! Waren zwei Söhne nicht genug in der winzigen Wohnung? Er lauschte. Die Mamma schwieg. Endlich.

„Ich gehe fort, weit weg, dein Geld brauche ich nicht! Vergiss mich! Ich komme allein zurecht und werde dir nicht länger zur Last fallen“, schrie er lauter als beabsichtigt und trat gegen den Tisch.

„Wie oft nur hast du damit gedroht? Zehnmal, zwanzigmal oder noch öfter? Nach zwei Tagen kommst du wieder angekrochen, wie immer. Du gleichst tatsächlich deinem Babbo. Werde erst einmal erwachsen, Jungchen!“

Er fühlte, dass er rot anlief. Was hieß hier Jungchen? Er arbeitete längst so hart wie ein Mann. Ohne ihn würde die Mamma bald in Schwierigkeiten ertrinken.

„Ich …“, begann er und verstummte.

Hatten Babbos Träume der Familie geschadet?

„Geh doch!“

Die Gleichgültigkeit in ihren Augen und ihrem Tonfall ließ ihn frösteln. Der Tisch wackelte noch, er schlug mit der Faust auf die Platte und durchschlug sie. Erschrocken starrte er auf die verletzte Hand. Blut tropfte aus der Wunde. Die Mamma wischte es ohne einen Laut des Protests weg. Der Boden glänzte danach sauber, die Verletzung beachtete sie nicht, sie war ihr nicht einmal einen Tropfen Jod wert.

Sie schwieg eine Weile und erhob dann die Stimme: „Jetzt reicht es! Geh mir aus den Augen.“ Sie presste die Lippen aufeinander und wandte sich ab.

„Gut, ich verschwinde. Aber diesmal für immer und ich verlasse das Land.“ Er hob einen Fuß an, stampfte auf und wartete auf die Reaktion.

Doch die Mamma regte sich nicht.

„Ich ziehe nach Deutschland, dort brauchen sie Bahnarbeiter. Das weiß ich von unserem Padre. Die Deutschen sollen gut zahlen.“

„Und wie kommst du dorthin? Die Bahn ist teuer und im Norden des Landes voll mit deinesgleichen. Nicht wenige holen sich das Geld lieber von den eigenen Landsleuten. Hat dir der Padre auch das erzählt?“

Er hatte Mühe, sie zu verstehen, wenn sie ihn nicht ansah.

„Ich gehe zu Fuß!“, brüllte er.

Die Mamma schwieg und drehte sich auch jetzt nicht zu ihm um.

„Falls Roberto Abate oder Bischof wird oder mit Glück Kardinal, bist du ja gut versorgt“, setzte er hinzu und drückte sich an ihr vorbei.

Dabei berührte er ihren Rücken und verharrte einen Moment länger als notwendig. Er spürte ihre Wärme und sog den Duft nach billigem Parfüm ein, das die Ausdunstung der täglichen Mühsal übertünchen sollte. Sie drehte sich nicht zu ihm um, gab ihm keine guten Wünsche mit, keinen Segen, ja nicht einmal einen Fluch oder eine bissige Bemerkung.

Er knallte die Tür zu und ging im Zorn, mit Groll auf die Mamma und ihren letzten Worten in den Ohren. Ihre Verwünschungen pflegten zu wirken. Dem war er wenigstens entgangen – noch. Er dachte an den Nachbarn, der, nachdem sie ihn verflucht hatte, auf völlig trockenem Boden ausgerutscht war und sich das Nasenbein gebrochen hatte. Seitdem trug er eine krumme Nase zur Schau.

Angelos Empörung nagte, sie nagte sich bis ins Blut. Die Wut erfasste zudem den toten Babbo, den Regen, die Kälte, die Kirche, ja alles, sogar die Brüder. Vor allem aber wollte er der Enge entfliehen. Die Mamma musste mit den zwei jüngeren Brüdern auch ohne ihn genug ums Überleben kämpfen. Als er daran dachte, schnürte der Abschiedsschmerz sein Herz zusammen.

Geh mir aus den Augen, geh mir aus den Augen, hallte es in den Ohren nach.

Nicht durch die Tür, sondern wie ein Einbrecher durchs Fenster kehrte er kurz darauf in die Hütte zurück. Er hatte die Mamma zuvor hinausgehen sehen.

Im Handumdrehen packte er seine Sachen zusammen, viel war es nicht. Zuletzt nahm er das legendäre Notizbuch in die Hand und sah hinein in Babbos letztes Geschenk. Ein Blatt hatte sich gelöst und flatterte heraus. Er klappte das Heft auf und klebte es wieder ein. Anschließend starrte er auf die absonderliche Zeichnung von einem Fluggerät aus Holz und Straußenfedern und schüttelte den Kopf.

„Babbo, du warst wahrhaftig ein Träumer“, murmelte er. „Menschen werden niemals fliegen können, sie gehören auf den Erdboden!“

Mamma hatte recht. Sie hatte immer recht, Träume brachten nichts ein, höchstens Unannehmlichkeiten. Er wollte das Heft in den Hausmüll werfen, besann sich jedoch, strich mit den Fingern die Seite glatt, riss sich endlich vom Anblick des Fluggeräts los und steckte das Büchlein zu den anderen Dingen in den Rucksack.

„Das ist alles, was mir von dir geblieben ist“, flüsterte er.

Von wem sollte er sich verabschieden? Es gab niemanden, zumindest nicht hier und jetzt. Ein Andenken an die Brüder konnte er auch nicht mitnehmen. Sie besaßen nichts. Selbst wenn, er würde sie nicht bestehlen.

Die namenlose Hauskatze schlich um seine Beine und schnurrte so laut und eindringlich, als wollte sie ihm ein Geheimnis verraten. Gedankenverloren streichelte er sie und lief anschließend rastlos durch die Wohnung. Jeden Fleck und jeden Riss in der Wand prägte er sich ein und kam an der Haushaltskasse, einer Pappdose, vorbei. Seine verletzte Hand zitterte, die Katze miaute.

Unschlüssig blieb er stehen. Die Finger zitterten noch immer und bluteten noch ein wenig, die Katze miaute lauter. Er vermisste sie schon jetzt. Plötzlich zuckte die Hand und griff wie von selbst in die Dose.

Er spürte eine Erregung wie bei der Selbstbefleckung, als er die Scheine und Münzen berührte, das Blutgeld. Nein, den Segen der Brüder verdiente er nicht, nicht einmal einen Abschiedsgruß.

Du bist ein Stück Dreck, die Priesterrobe nicht wert, hörte er Robertos Stimme.

Falls Berto tatsächlich Bischof oder Höheres werden sollte, würde er ihm dann wohl die Absolution verweigern? Nur gelang die Flucht leider nicht ohne Geld, ohne Geld funktionierte gar nichts. Auch da hatte die Mamma recht, wie immer.

Die Münzen brannten sich in die Handfläche. Erregt und angeekelt steckte er die Hand in die Jackentasche und schüttelte sie aus. Die Scheine raschelten unheilvoll. Der runde Brandfleck auf der Haut blieb. Irgendwann wusch er sich rein und zahlte alles zurück, mit Zins und Zinseszins. Irgendwann.

Er floh aus dem Hüttchen, ohne zu wissen wohin. Nur eins wusste er, er musste mehr Geld beschaffen, er musste! Und irgendwann musste er so viel Geld verdienen, dass er der Mamma und den Brüdern ein gutes Leben bereiten konnte. Die Schuld drückte, lastete wie eine Verwünschung auf Schultern und Rücken, als ob die Mamma ihn doch verflucht hätte. Womöglich tat sie das noch. Gebeugt ging er deshalb nicht. Ihn zwang nichts so schnell in die Knie, selbst wenn er sich Nasen- und Steißbein brechen sollte, und er war zu fast allem bereit. In der Fremde ließ sich mehr verdienen, und er würde das tun, was sich am meisten lohnte, alles, egal was.

Einen kleinen Betrag des Diebesgeldes verwendete er für Bücher. Er wollte Deutsch lernen, gutes Deutsch, wollte Eindruck schinden. Er war kein dummer Junge! Der Babbo hatte keineswegs nur geträumt, sondern mit Leidenschaft an der Volksschule gelehrt und ihm die Liebe zur Muttersprache vermittelt. Die neue Sprache würde er ebenfalls lieben lernen. Leider hatte er die Dorfschule nur selten besucht. Seit Babbos Tod gab es immer etwas zu tun, was wichtiger war als der Unterricht. Die Brüder gingen trotzdem hin, und das war gut so.

Nun studierte er die Bücher jede freie Minute bei Tageslicht und abends bei Kerzenschein in einem ausrangierten Waggon am Ortsrand. Natürlich sprach sich Derartiges immer herum. Diesen bewohnte außer ihm lediglich eine Spinnengroßfamilie. Im Stillen hoffte er, dass die Mamma oder die Brüder bei ihm vorbeischauen würden. Er ließe sich durchaus überreden, sein Vorhaben aufzugeben.

Aber kein Mensch kam. Ab und an besuchten ihn ein paar Spatzen und eine streunende Katze, die ihn an das namenlose Tier der Mamma erinnerte. Sie wuchs ihm ans Herz.

„Auch dich werde ich nie wiedersehen“, murmelte er und streichelte sie.

Er verdiente sich etwas Geld im Nachbarort, sodass es ihm nicht notwendig schien, allzu schnell fortzugehen. Hätte er damals doch nur erfahren, dass sein Bruder Marcello sterbenskrank im Bett lag. Der Mamma fehlte das Geld für Medikamente. Ihn verdächtigte sie nicht, er war ein braver Junge. Sie lieh sich das Geld von der Kirche. Hätte Angelo von diesem Leid erfahren, hätte er augenblicklich auf die Reisepläne verzichtet.

Nach einigen Wochen entdeckte ihn jemand, und zwar ein Nachbar der Mamma. Es war ein bloßer Zufall, dass er vorbeikam, und Angelo lud ihn in den Waggon ein.

Nach diesem Gespräch bedrückte ihn tiefe Schwermut. Er dachte an das, was er nun alles aufgeben musste. Da gab es unter anderem Sofia, die nachts noch immer durch seine Träume huschte. Vermutlich hatte sie längst einen anderen. Davon wollte er nichts wissen.

Ein letztes Mal streichelte er die Katze und füllte das Milchschälchen. Anschließend sah er in den Rasierspiegel und strich mit dem Rasiermesser über den Schnauzbart. Den hatte er sich stehen lassen, weil er älter wirken wollte. Ein Fremder blickte ihm entgegen und lachte ihn aus. Er ließ den Spiegel sinken. Aber wer würde ihn schon als Arbeiter beschäftigen, solange er wie ein Junge aussah? Er nahm den Rasierspiegel wieder auf, sah nochmals hinein und lachte zufrieden.

Danach verließ er den Wagen für immer und näherte sich in kleinen Schritten seiner zukünftigen Frau.

Ikarus fliegt noch

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