Читать книгу Ikarus fliegt noch - Sabine Kampermann - Страница 9
Frida
ОглавлениеVier Jahre später auf der anderen Seite der Alpen schritt meine Urgroßmutter Frida wie jeden Sonntagmorgen neben den Eltern her.
„Eins und zwei und eins und zwei …“, zählte sie monoton vor sich hin. Im Backfischalter musste sie angemessen schreiten, vor allem auf dem Weg zum Gottesdienst. Bloß dann, wenn der gestrenge Vater nicht hinsah, erlaubte sie sich einen kleinen Hopser, und weiß Gott, nur einen unbeträchtlichen.
In der Martinskirche setzte sich die Familie in eine der vorderen Reihen in gleichmäßigem Abstand nebeneinander und lauschte der schnarrenden Stimme des Pfarrers.
Frida unterdrückte ein Gähnen und betete: „Bitte, lieber Gott, mach, dass etwas geschieht! Egal was und möglichst bald bitte, bevor ich hier erstarre.“
Nur ein klein wenig rutschte sie zur Seite, sodass der Abstand zu ihren Sitznachbarn ungleich ausfiel. Demnächst würde sie versteinern, oder sie erstickte, es sei denn, Gott befreite sie endlich aus der Eintönigkeit des Dorflebens.
Indessen leierte der Pfarrer irgendwelche Bibelstellen herunter: „Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie über den Mann Herr sei, sondern sie sei still. Denn Adam wurde zuerst gemacht, danach Eva. Und Adam wurde nicht verführt, die Frau aber hat sich zur Übertretung verführen lassen ...“
Bla, bla, bla, dachte Frida. Diese alten Märchen mochte sie nicht, sie verströmten abgestandenen Mief. In der Kirche roch es nach Bewegungslosigkeit und Gefangenschaft, sie unterdrückte den Hustenreiz. Während der Predigt hob sie den Kopf nicht und starrte die Ameisen auf dem Boden an. Zweifellos wirkte sie ergriffen und fromm, dabei wollte sie nur den Pfarrer nicht ansehen müssen, sein glattes Gesicht und diese wintergrauen Augen. Womöglich bildete sie sich die Kälte der Augen nur ein, doch wenn sie ihn ansah, fror sie.
Lautlos zählte sie die Tage bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Ab tausend Tagen wollte sie eine Strichliste führen. Aber bis zu diesem Zeitpunkt war es noch lange hin, über tausend Tage, zusammen über zweitausend, fünfundsiebzig Monate, mehr als dreihundert Wochen. Bis dahin musste sie die Mutter bei den jüngeren Geschwistern noch mindestens hundertmal vertreten. Ihr ältester Bruder Thomas zeigte sich auch diese Woche nicht im Gottesdienst.
Frida spürte Vaters warmen Atem im Nacken, drehte sich zu ihm um und fuhr zusammen. Sein Blick ließ sie frösteln. Weshalb verstand er sich mit dem Lieblingsbruder nicht? Die grauschwarze Wolke wollte sich nicht heben und umhüllte die Beziehung von Vater und Sohn. Thomas betete oft im Gotteshaus außerhalb der Andachten. War er wegen Vater nicht mitgekommen? Sie sackte zusammen und rutschte fast von der Bank.
Die älteste Schwester stieß sie in die Seite. „Setz dich ordentlich hin! Du bist doch wohl kein Blaustrumpf wie diese Elsi und willst gegen jede Regel rebellieren? Deine seltsame Freundin meidet übrigens mal wieder den Gottesdienst. Auch solltest du dir züchtigere Kleider nähen, obwohl Vater dir alles durchgehen lässt. Pass bloß auf, sonst bist du sein Liebling gewesen“, flüsterte sie.
War das Neid? Für einen Blaustrumpf war Elsi eindeutig zu hübsch. Außerdem fand die Schwester die Predigten selbst oft langweilig, und ihre Nähversuche hatten bisher nur zu Putzlumpen geführt. Frida hingegen konnte mit ihren vierzehn Jahren keineswegs nur nähen und schneidern. Doch da ihr die höhere Schulbildung im Gegensatz zur Freundin verwehrt wurde, beschäftigte sie sich am liebsten mit Näharbeiten, leider viel zu selten. Auch konnte sie die selbstgefertigten Kunstwerke nur zu wenigen Gelegenheiten anziehen. So verführerisch wie Elsi war sie auch in dem weinroten Kleid nicht, das sie nun im Gottesdienst trug. Die zu klein geratenen Brüste überspielte die Nähkunst nicht ganz, die Beine waren ein wenig zu kurz geraten, die Taille nicht schlank genug, die Lippen zu blass.
Endlich läuteten die Glocken den Gottesdienst aus. Die Gemeinde strömte zum Ausgang.
„Frevlerin, du stinkst nach Sünde! Du Metze! Du solltest dich schämen, ein solches Kleid zu tragen, und das in so jungen Jahren!“, schrie die alte Berte, als Frida die Kirche gerade verließ.
Die aufgebrachte Frau erstickte fast, rang nach Luft und japste. Die gesamte Dorfgemeinschaft drehte sich im selben Moment zu Frida um und starrte sie und ihr Kleid mit offenen Mündern an. Sie blickte in lauter schwarze Löcher. Jemand kicherte und hielt die Hand vor den Mund.
Die Geschwister blieben stumm bis auf die älteste Schwester, die nuschelte: „Hab ich es dir nicht gesagt?“
Nicht einmal der Vater verteidigte sie. In Tübingen oder vermutlich schon im nächsten Dorf hätte sie kein Aufsehen erregt. Ein wenig hatte sie sich das sogar gewünscht, nur das Ausmaß unterschätzt. Jetzt wanderte die Einsamkeit direkt in ihre Seele und nistete sich ein. Sie würde diesen Tag nie wieder vergessen. Im Augenblick wünschte sie sich, der Boden würde sich auftun, und sie in ein tiefes Loch fallen, das sich über ihr schloss. Denn auch wenn sie niemand sonst beschimpfte und die alte Berte als nicht ganz richtig im Kopf galt, würde jeder, der in Neckartailfingen wohnte, in Kürze von dieser Sache erfahren. Solche Geschichten klopften an jede Haustür. Wie Stechmücken verbreiteten sie sich und drangen bis in die engsten Gässchen.
Frida wünschte sich weit fort und faltete im Stehen die Hände. Die Fingernägel krallte sie dabei so fest in die Handrücken, dass sich kleine rote Halbkreise abzeichneten. Sie betete oft, nur war Gott wohl zu beschäftigt, um sie zu hören.
Mit gesenktem Kopf ließ sie sich im Strom treiben und spazierte stoisch neben den Eltern und Geschwistern her, nun ohne Hopser. Diesmal entdeckte sie keine Ameisen, stattdessen beobachtete sie die Spiegelbilder in den Pfützen.
Zu Hause setzte sie sich sofort an die Nähmaschine. Die Tür flog auf.
„Frida, nähst du mir die Knöpfe an?“ Die älteste Schwester warf eine Bluse auf den Nähtisch und verschwand, ohne die Antwort abzuwarten.
Der Tag verging wie unzählige andere zuvor. Vertraute Laute drangen zu ihr. Die jüngeren Geschwister zankten sich, spielten im nächsten Augenblick wieder miteinander und verrichteten zwischendurch kleinere Hausarbeiten. Müßiggang wurde schließlich nicht geduldet.
Die Tür zu ihrer Kammer flog ein weiteres Mal auf, die jüngste Schwester Johanna sprang herein, umarmte sie und drückte ihr fast die Luft ab. Frida spürte ihren warmen Atem und ihr weiches Haar. Nur widerstrebend löste sie sich aus den Armen des Mädchens.
„Kannst du mir die Schuhe binden?“, bat die Kleine.
Sie lächelte und bückte sich. Die Gänse schnatterten im Hintergrund. Ansonsten war es ruhig auf dem Hof und eintönig wie immer. Sie wartete, bis die Schwester wieder verschwunden war, begutachtete die Näharbeit und ging danach zeitig zu Bett.
Am nächsten Morgen erwachte sie früh. Die ersten Schneeflocken fielen, obwohl es erst Anfang November war. Sie betrachtete die Schneekristalle an der Fensterscheibe und hauchte von innen dagegen. Ihr Atem färbte die Scheibe weiß. Anschließend zog sie sich warm an.
„Bald ist Martinstag, hurra“, krähte der jüngste Bruder.
Ein Festtag für alle außer ihr! Betrübt nahm sie einen mit Blättern gefüllten Jutesack, in dem sie eine Weinflasche und ein Glas versteckte, und trieb die Gänse hinaus. Jede nannte sie dabei beim Namen. Die Tiere tauchten in das kalte Flusswasser ein und schwammen die gewohnten Bahnen. Frida setzte sich am Neckarufer auf den Sack und träumte vor sich hin. Diese Stunden der Muße genoss sie trotz des drohenden Martinstags.
„Du solltest ihnen keine Namen geben. Wie willst du eine Gans verspeisen, die Erika heißt?“
„Gänsefleisch werde ich niemals essen“, antwortete sie, drehte sich um, warf den letzten Rest der Niedergeschlagenheit ab und strahlte.
„Du weißt gar nicht, was dir entgeht.“
„Schade, dass du mein Bruder bist. In dich könnte ich mich verlieben, Thomas.“ Sie umarmte ihn. „Wie hast du mich gefunden?“
Er grinste sie an. Neben seinem kräftigen, dunklen Körper wirkte sie klein und bleich. Obwohl seine Volljährigkeit nahte und er groß vor ihr aufragte, sah er noch aus wie ein Junge, vor allem, wenn er dieses Grinsen aufsetzte. Das geschah allerdings immer seltener und nur noch, wenn sie mit ihm allein war.
„Die Gänse schnattern nicht eben leise“, sagte er, machte sich los und half ihr, die Tiere zu besänftigen. „Du wirst schon einen passenden Mann finden. Außerdem willst du doch eine angesehene Schneiderin werden.“ Freundlich zwinkerte er ihr zu.
Sie wuschelte ihm durch die schwarzen Haare. Er meinte ernst, was er sagte.
„Möchtest du etwas trinken?“, fragte sie, zog den Rotwein aus dem Sack und schenkte Thomas ein.
Die Flasche stammte aus dem Weinkeller des Vaters, und sie versteckte sie am Flussufer. Sie trank, damit überhaupt etwas geschah, und auch nur kleine Gläser.
Den ersten Schluck hatte ihr Elsi angeboten. Er hatte furchtbar geschmeckt. Elsi liebte Verbotenes. Für Frida war Wein zu trinken fast das einzig Unerlaubte, das sie sich zu tun traute, und es erschien ihr wahrhaftig gewagt. Normalerweise bediente sie sich am Mostfass. Niemand kontrollierte den Stand des selbstgegorenen Apfelmosts. Sie konnte sich so viele Krüge abfüllen, wie sie wollte. Es war vollkommen ungefährlich, für diesen Tag zu harmlos.
Thomas nippte nur und gab ihr das Glas zurück.
„Lass dich bloß nicht erwischen und trink nicht zu viel! Nicht, dass du die Beherrschung verlierst, du zitterst jetzt schon“, sagte er und zwinkerte ihr abermals zu.
Er umarmte sie wieder und verabschiedete sich viel zu früh. Sie blickte ihm nach. Er sollte fortgehen, bevor er vertrocknete. Was bot sich Thomas denn hier im Dorf schon für eine Zukunft? Aber er machte bereits einem Mädchen aus der Nachbarschaft den Hof. Von Verlobung war die Rede. Er sollte es lassen und diesem Ort endlich den Rücken kehren. Sie betete täglich für ihn. Für ihre Gebete brauchte sie keine Kirche.
Kaum war sie wieder zu Hause, wurde ihr inbrünstigstes Gebet erhört. Sie setzte sich in ihrem Zimmer aufs Bett und sah hinaus in die Wolken. Über den Dächern ballten sie sich zusammen, leuchteten rot in der Abendsonne. Sie kündigten ein Gewitter an. Die Stimmung weckte Fridas Neugier. Jetzt musste etwas geschehen! Sie sah es. Gott hatte sie erhört.
Noch immer war es still, sie genoss die Ruhe und beobachtete das Schauspiel der Natur. Die Luft knisterte seltsam, und die schweren Wolken türmten sich einer Festung ähnelnd über ihr auf.
Plötzlich vernahm sie die Stimme des Vaters aus dem Keller: „Thomas, du Faulpelz! Ich werde dich noch lehren zu arbeiten. Wird’s bald!“
Erschrocken sprang sie auf und rannte zur Kellertreppe. In gebührendem Abstand blieb sie auf der untersten Stufe stehen und starrte in das blau angelaufene Gesicht des Vaters.
Warum? Thomas schleppte täglich so viel Holz und Wasser wie die anderen Brüder und Schwestern zusammen. Der Schweiß in den Achselhöhlen bildete stets Ränder auf den Hemden, die sie auswaschen musste. Seine Schultern hingen herunter, und der Rücken krümmte sich bereits jetzt.
Frida hörte den Vater erneut brüllen und fröstelte. Wieder ein blitzartiger Wutausbruch, und wieder entlud er sich ausschließlich über Thomas. Sie schwieg mit einem Kloß im Hals, ebenso der Bruder, dessen Gesicht bleich schimmerte. Der Vater war fort oder hatte sich in einen anderen Menschen verwandelt. Einen Menschen? Zumindest würde er Thomas nicht mehr schlagen, dafür war der inzwischen zu alt. Oder zu kräftig? Vor Kurzem hatte er sich gewehrt. Nun leuchtete das linke Auge des Vaters blau als böses Omen und klagte den Jungen an.
Es donnerte, und sie schrak zusammen, nicht wegen des Gewitters. Der Bruder warf ihr von Weitem einen flüchtigen Blick zu und blätterte wortlos in seinem Buch.
Mittlerweile hatte sich die restliche Familie auf der Kellertreppe eingefunden. Die Stille kroch schlagartig zwischen sie, legte sich auf die Schultern und drückte sie nach unten. In den Augen der Mutter flackerte es nervös.
Der Vater schrie: „Nichtsnutziger Bursche! Was kannst du überhaupt? Bücher lesen! Schwitzen sollst du, Faulpelz! Buch weg! Benutze die Hände! Arbeite endlich etwas Anständiges!“ Er verengte die Augen zu zwei Schlitzen, Falten formten sich auf der Stirn. Sein Blick durchbohrte den Jungen und hinterließ Löcher in dessen Leib.
Frida sah Thomas zusammenzucken. Dann erhob er sich jedoch, näherte sich dem Vater mit schweren Schritten und packte ihn an den Schultern. Er schüttelte ihn, schob ihn aus dem Raum und schlug ihm die Kellertür vor der Nase zu.
Die Geschwister flohen mit der Mutter nach oben und löschten das Licht, Frida folgte ihnen. Ihr letzter Rest Speichel schmeckte nach Bittermandeln.
Der Vater versetzte der Tür einen Tritt, bollerte mit den Fäusten dagegen und schrie. Frida verstand die Worte nicht, die Wut ebenso wenig. Sie zitterte am ganzen Körper. Schritt für Schritt stieg sie die Treppe wieder hinunter, näherte sich dem Vater und lauschte. Der Bruder antwortete nicht, zumindest hörte sie nichts.
Zögernd schlich sie die Treppe weiter hinab und drehte sich etliche Male um, obwohl sie im Halbdunkel kaum etwas sehen konnte.
Wieder brüllte der Vater: „Drecksbücher! Vergiss den Buchladen! Kapiert? Morgen hilfst du mir! Verstanden?!“ Er senkte die Stimme und betonte Wort für Wort: „Das gehört zu deinen Pflichten, Junge. Du sollst Vater und Mutter ehren! Das gilt immer! Auch für dich! Den Worten des Pfarrers magst du entgehen, da du zur eigenen Schande den Gottesdienst meidest. Doch nützt dir das nichts, der Herrgott sieht es. Was für Blicke mir der Pfarrer deinetwegen zuwirft! Beschämend! Aber mir wirst du Respekt entgegenbringen. Den bringe ich dir bei! Hörst du? Unterschätze meine Möglichkeiten nicht!“
Sie spitzte die Ohren, vernahm jedoch noch immer keinen Laut vom Bruder. Der Vater entfernte sich von der Tür. Sie atmete auf, schlich die Treppe wieder hinauf und drückte sich im Schutz der Dunkelheit in eine Nische. Der Vater lief an ihr vorbei, ohne auf sie zu reagieren. Sie hörte Atemzüge und lauschte dem Klang der Schritte.
Erst, als er außer Hörweite war, verließ sie das Versteck und begegnete der Mutter, deren Gesicht sich kaum von der weißen Wand abhob. Frida wollte etwas Tröstendes sagen, brachte jedoch kein Wort heraus, der Hals war zu trocken. Auch das Bittere schmeckte sie nicht mehr, nein, gar nichts. Den Bruder sah sie an diesem Abend nicht mehr.
Mit Magenschmerzen ging sie zu Bett. Irgendetwas nagte an ihr. Bald ereignete sich etwas, das ihre bisherige Welt verändern könnte! Sie spürte es. Aber es würde nicht das sein, worum sie in jedem Gottesdienst und unter freiem Himmel gebetet hatte. Sie faltete die Hände, nur fiel ihr kein Gebet ein.
Regentropfen prasselten gegen die milchige Fensterscheibe und rannen am Glas hinab. Sie sah durch die Wasserspuren hinaus in rote Wolkentürme. Sie bluteten, natürlich. So mussten sie aussehen, das passte. Es donnerte nicht mehr. Gott erschien ihr im Himmel weit entfernt, zu weit weg. Niemand hatte so große Ohren, um so weit zu hören. Sie bettete den Kopf auf ihr Daunenkissen und wälzte sich hin und her. Schließlich schlief sie ein, fand jedoch auch im Schlaf keine Ruhe. Albträume peinigten sie die ganze Nacht. Sie hörte es wispern:
„Du wirst es erleben: Irgendwann erschlägt einer von beiden den anderen.“
Am nächsten Morgen weckte sie die Stimme des Vaters Stunden vor Sonnenaufgang. Diesen Klang hatte sie noch nie vernommen, er ähnelte dem Knurren eines wilden Tieres. Schweißnass richtete sie sich auf und lauschte. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus, als sie ihn Thomas‘ Namen rufen hörte. Die Stimme hallte durch die Flure. Es folgte keine Antwort. Erst drangen leise Schritte zu ihr, danach knallte die Tür von Thomas‘ Zimmer ins Schloss.
Sie stand auf und trat auf den Flur. Die Mutter kam hinzu, ging zu Thomas ins Zimmer, ließ die Tür einen Spalt offen stehen und redete auf den Vater ein. Er erwiderte nur ein Wort: „Verschwinde!“ Unverzüglich verstummte sie und eilte aus dem Zimmer an ihr vorbei. Er nahm den Bruder mit zur Arbeit. Thomas wehrte sich nicht. Frida hörte auch jetzt keine Silbe von ihm. Das Schweigen bedrückte sie umso mehr.
Ihre Magenschmerzen verschlimmerten sich. Sie würgte über dem Spülbecken. Vergeblich. Dennoch hätte sie den Vater gern begleitet. Er besserte Fassaden aus, und das mit Hingabe als Bester seiner Zunft. Seine Arbeit liebte er, gewiss mehr als den Sohn. Was hatte ihm Thomas angetan? Aber bald würde der Vater für seinen Beruf zu alt werden, er war mehr als zwei Jahrzehnte älter als die Mutter. Wegen Thomas stritten sich die Eltern oft lautstark oder hatten es früher zumindest getan.
Damals hatte der Vater länger mit dem Stock auf den Jungen eingeprügelt, wenn er sich vordem allzu laut mit der Mutter gestritten hatte. Mit den Jahren war sie deshalb immer leiser geworden. Nur diesmal …
Bereitwillig hatte Thomas einen Großteil des im Buchladen verdienten Geldes zu Hause abgegeben, um bloß nicht an den Fassaden hinaufklettern zu müssen und jeder, wahrhaftig jeder kannte den Grund: Thomas schauderte vor der Höhe. Die Mutter wusste das, der Vater ebenfalls. Er wusste es ganz genau und fürchtete sich gleichermaßen vor den schiefen Mauern des Martinsturms.
Frida atmete tief ein. Thomas verdiente im Laden nicht schlecht. Der Vater hatte sich nie bedankt, lediglich gemurmelt: „Manche Menschen haben wohl zu viel Geld, wenn sie ein bisschen Bücherordnen so gut vergüten können.“
Sie fröstelte, als sie das Haus im Morgengrauen verließ, um die Gänse zu hüten. Das Zittern ließ nicht nach. Schreckensbilder verwischten ihre Sicht und nicht der Morgennebel. Ein Arbeiter war die Woche zuvor vom Turm hinab in den Tod gestürzt. Das stand groß in den Lokalnachrichten. Der Vater hatte sie auch gelesen und den Artikel zur Seite gelegt. Reglos lag der Mann auf dem Foto auf dem Boden. Sie sah das Bild vor sich. Den Bruder sah sie ebenfalls fallen. Erschrocken wischte sie den Tagtraum fort.
Als sie den Holzverschlag öffnete, watschelten ihr die Gänse sogleich entgegen. Sie trieb sie vor sich her. Am Flussufer angelangt, hockte sie sich ins Gras, während die Gänse in den Fluss purzelten.
Sie holte die Weinflasche aus dem Versteck, leerte den Rest in einem Zug und hustete. Gerne wäre sie an der Fassade des Turms hinaufgeklettert, sie kannte keine Höhenangst. Aber sie war ein Mädchen. Der Vater würde sie niemals darum bitten, ihm bei seiner Arbeit zu helfen, geschweige denn es ihr überhaupt erlauben.
Der Tag schlich dahin. Mehrere Stunden vor Einbruch der Dämmerung trieb sie die Gänse in den Verschlag und kehrte ins Haus zurück.
Als sie am Abend laute Schritte, mehrere Rufe und die donnernde Stimme des Vaters vernahm, atmete sie auf, ließ die Töpfe stehen, den Herd brennen und rannte hinaus, den Männern entgegen. Sie hatte ihn zu Unrecht verdächtigt! Jetzt wollte sie sich dem Vater an den Hals werfen, dabei stolperte sie über die eigenen Füße. Außerdem freute sie sich darauf, den Bruder gesund und munter an sich zu drücken.
„Thomas“, murmelte sie.
Doch sie hatte sich bei den Schritten verhört, auch die Rufe hatten sie getäuscht. Thomas‘ Stimme war nicht dabei gewesen. Sie schloss keinen gesunden und munteren Bruder in die Arme, sie umarmte ihn gar nicht und wusste nicht, ob sie es jemals wieder tun könnte.
Der Vater trat allein ein, warf die Tür zu, sah sich kurz um und ging wortlos an ihnen vorbei. Die Mutter starrte ihm ein Loch in den Rücken und wagte nicht, ihn anzusprechen. Fridas Herz raste. Wo steckte der Bruder? Sie wartete, trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, lauschte und ertrug die Stille kaum mehr.
Jemand klopfte. Endlich. Sie schlich zur Tür. Und öffnete. Gott sei Dank!
Thomas humpelte. Die Kleidung hing in Fetzen an ihm herunter. Sein Blick war starr zu Boden gerichtet, ähnlich leer wie der der Mutter. Frida lief auf ihn zu, flüsterte mehrmals seinen Namen und wollte ihn an sich drücken. Er winkte ab und vermied jegliche Art der Berührung. Auch die Mutter ließ er nicht an sich heran. Wortlos flüchtete er in sein Zimmer. Seinen Blick würde Frida nie vergessen, den Blick des Vaters ebenso wenig. Sie eilte in die Küche zurück, damit nicht auch noch das Abendessen anbrannte. Johanna kauerte dort auf einem Hocker und weinte.
„Demnächst bringt er ihn um“, nuschelte sie unter Tränen. „Hast du den Hass in seinen Augen gesehen? Was ist das für ein Vater?“
„Nein, nein, das darfst du nicht sagen, nicht einmal denken. Es ist kein Hass, er will bloß einen Mann aus ihm machen. Er meint es gut und wollte etwas Gemeinsames mit ihm schaffen, etwas Ewiges, Wunderbares. Natürlich meint er es gut. Väter sind so, Thomas ist sein Sohn. Mit den Söhnen meinen sie es immer gut und müssen zum eigenen Leid hart sein, um etwas aus ihnen zu formen. Es war ein Unfall!“
„Glaubst du?“
„Ja. Er liebt uns alle. Du weißt doch, er kann sehr aufmerksam sein und liebevoll. Niemals werde ich vergessen, wie stolz er mir die Nähmaschine überreicht hat, eine echte Singer, seine Augen haben feucht geglänzt. Die muss ihn ein Vermögen gekostet haben. Sie war das schönste Geschenk meines Lebens.“
Johanna schniefte und wischte sich die Tränen ab. „Aber Thomas hat er keine Nähmaschine geschenkt.“
„Nein, aber kannst du dich noch daran erinnern, als Vater ihm dieses Buch mitbrachte? Fünf Wochen im Ballon. Es ist wunderbar illustriert. Thomas hat danach nicht mehr aufgehört zu lesen.“
„Dann ist ja Vater selbst daran schuld, dass Thomas Bücher mag. Und wenn er aus Liebe tötet?“
„Schweig endlich!“, brüllte Frida nun und hielt sich die Ohren zu.
Johanna verließ eilig die Küche. Frida starrte ihr nach.
Den Vater liebte sie trotz allem und vertrug kein böses Wort gegen ihn. Tag für Tag strich sie mit den Fingern zärtlich über den Nähfuß. Das hatte sie auch an den Tagen getan, an denen Thomas den Stock mit dem roten Knauf zu spüren bekommen hatte. Alle Familienangehörigen, auch sie, hatten dann stets vorgegeben, beschäftigt zu sein und nichts zu hören. Es war so einfach gewesen, die Ohren zu verschließen, und doch unmöglich, tatsächlich taub zu sein.
Sie ging in ihre Kammer und kuschelte sich in die Bettdecke. Eine Stunde später lag sie immer noch wach und dachte an die blutenden Wolkentürme am Abend zuvor. Gott hatte ihr Gebet erhört. Draußen war es stockfinster. Nur ein paar einzelne Sterne flimmerten. Sie gähnte. Langsam drang die Müdigkeit in alle Glieder und machte sie schwer. Sie sollte das Beten lassen. Wehmütig blickte sie abermals zum sternenlosen Nachthimmel und tauchte ein ins Nichts der Finsternis.
Anschließend ließ sie den Kopf ins Kissen sinken und hoffte, ohne Albträume schlafen zu können.