Читать книгу Ikarus fliegt noch - Sabine Kampermann - Страница 7
Christine
ОглавлениеAm Tag, als Angelo Lombardi starb und Walter Rathenau erschossen wurde, verdorrte südlich der Alpen auf dem Grab von Angelos Babbo der steinalte Granatapfelbaum. Seine einzige Frucht löste sich vom Zweig, fiel zu Boden, platzte auf und färbte die Erde rot.
Angelos Mamma betete dort täglich für das Seelenheil ihrer Söhne. Als sie nun Gott neben der Grabstätte anflehte, entdeckte sie blutende Sandkörner.
Ich starre auf das Papier und lese noch die beiden folgenden Sätze: Starb Angelo an gebrochenem Herzen, oder wurde er wie der jüdische Außenminister ermordet?
Der letzte Satz ist rot unterstrichen: Wenn Mord, wer trägt die Schuld daran?
Aus Versehen zerknittere ich den Papierfetzen mit meinen zittrigen Fingern. Der Zettel ist aus dem Familienalbum gefallen, als ich es aus dem hintersten Winkel des Regals gezogen habe.
Wer hat diese sechs Sätze hingekritzelt? Sie klingen wie ein Romananfang.
Ich glätte den Fetzen und betrachte die verschnörkelte Schrift. Sie gehört einer Frau, nehme ich an, und sie kommt mir vertraut vor, aber ich bin keine Expertin für Handschriften. Zudem ist das Papier alt und die Tinte verblichen.
Ich schnuppere daran, suche den Duft von Papier, doch er ist verschwunden. Die Staubschicht auf dem Fotoalbum hat ihn geschluckt. Ich wische das Album ab und blättere darin. Neben dem Kaiserreich und der Weimarer Republik enthält es Zeugnisse zweier Weltkriege und mindestens einer großen Liebe. Weniger die Kriege erkenne ich in den Bildern, mehr die Liebe. Das Album ist dick, zerfleddert und die Fotos bereits vergilbt. Ein Bild fällt aus den Seiten, ohne Klebstoff auf der Rückseite.
„Mädle, was suchst du bloß in dem alten Kruscht? Wie oft willst du deine Nase da noch hineinstecken?“, ruft meine Mutter in ihrem üblichen gequälten Hochdeutsch aus der Küche.
„Das letzte Mal ist schon lange her“, erwidere ich.
Ein Mädle mit fünfzig Jahren? Nun ja.
„Kannst du nichts Vernünftiges schaffen, Chrischtine?“
Ihre Stimme durchfährt mich wie ein Messer. „Könntest du meinen Namen endlich richtig aussprechen?“, zische ich vor mich hin.
Die Namen meiner Geschwister verschwäbelt sie nicht. Wohl, weil meiner nicht Christian lautet, Michael oder Thomas. Wieder nur ein Mädle, hat meine Mutter bei der Geburt meiner zweiten Tochter gewiss gedacht. Wenigstens hat sie es nicht mit Worten ausgedrückt, nur mit den Augen.
Sie kommt ins Wohnzimmer und nimmt mir gegenüber Platz. „Nutz deine Arbeitslosigkeit und kümmre dich mehr um deine Familie!“
„Ich bin nicht entlassen worden, sondern nehme ein Sabbatjahr“, entgegne ich so ruhig wie möglich.
„Sicher, das hab ich auch gar nicht behauptet und schrei mich nicht an! Empfindlich, wie du eben bist. Ich mein es doch gut.“
Schweigend balle ich hinter meinem Rücken die Hände zu Fäusten.
„Betracht es positiv! Du hast beide Töchter vernachlässigt. Denk nur an die Wochen, die du in der Klinik zugebracht hast. Michael musste sich allein um eure Kinder kümmern. Dein Mann hat wirklich Großes geleistet. Jetzt hast du Zeit für die Familie. Nutz das! Lara ist zu kräftig und Julia zu dünn.“
Die Entgegnung bleibt auf meiner Zunge kleben.
„Es ist doch wahr! Lara isst wie ein Müllschlucker und Julia wie eine sterbende Schlange.“
Ich zucke zusammen und schrumpfe von der erfahrenen Ärztin zu einem kleinen Mädchen. Meine Worte wollen nicht heraus, vergiftet von Mutters seltsamen Bildern. Warum nur habe ich keine Normkinder bekommen? Nach was genormt? Nach Schuhgröße, Umfang, Intellekt, Anzahl der Sommersprossen oder Zeckenbisse? Weiß sie es selbst?
„Du solltest dich im Spiegel sehen, Mädle, deinen Blick, die Stirnfalten. Dabei hab ich dir nichts getan, ich sag halt, was ich denk.“ Sie geht wieder in die Küche.
Ich atme auf. Lara hat wegen der Medikamente zugenommen.
„Chrischtine!“
Nein, nein, nein, ich brauche Ruhe und möchte nicht gestört werden, schon gar nicht von Mutter. Weshalb zerrt sie stets an meinen Nerven? Dabei meint sie es doch immer gut! Wieso fühle ich das nicht, trotz meiner Psychotherapie- und Hypnosesitzungen? Sie hat uns geliebt, liebt uns, uns alle fünf. Mich bringen zwei Kinder bereits an die Grenzen. Aus welchem Grund zittere ich in Mutters Gegenwart? Als ob sie mich als Säugling ersticken wollte. Das träume ich oft. Doch es sind bloß Träume.
„Mein Apfelkuchen ist fertig“, ruft Mutter und läuft zum Ofen.
Ich höre die Schritte, sie ist noch gut zu Fuß für ihr Alter. Der Kuchen duftet verführerisch süß nach warmen Äpfeln und Zimt mit dem bitteren Hauch leicht angebrannter Rosinen. Sie hat ihn extra für mich gebacken, weil ich Bratäpfel liebe. Ein Wasserfall strömt über meinen Gaumen. Ich kann es kaum erwarten, bis das Gebäck abgekühlt ist.
Kurz sehe ich durch den Türspalt zu ihr hinüber, erkenne den lichten Haarschopf und die Sorgenfalten. Ja, selbst sie ist vom Leben gezeichnet, so wie die ganze Familie. Nur hat sie es verdient!
Wieder streiche ich über das Album. Die Staubschicht ist fort. Ich habe das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, ja etwas zu stehlen. Mutter wendet sich nun der Strickarbeit zu. Etwas Vernünftigem! Ich trage diese kratzigen Strickpullis nicht gerne, doch die Motten lieben sie.
Warum bewahrt Mutter die Fotoalben im hintersten Regal auf? Den Zettel verstecke ich in der Hosentasche. Das Foto hebe ich auf, drehe es um und betrachte es. Urgroßmutter Frida lächelt scheu in die Boxkamera, den Kopf geneigt, das blonde Haar hochgesteckt. Schüchtern soll sie sonst nicht gewesen sein, sondern widerspenstig und aufmüpfig, das schwarze Schaf der Familie.
Ich mustere die hellen, wachen Augen. Topasblau! Das weiß ich aus Erzählungen, das Schwarz-Weiß-Bild verrät es nicht. Sie schimmern wie Wasser und zwinkern mir zu, bloß eine Sinnestäuschung, trotzdem zwinkere ich zurück.
Die Farbe des Kleids kann ich nur erahnen. Noch wird geschnürt, die Brust raus- und der Bauch reingedrückt. Sie aber brauchte Luft zum Atmen. Wie ich. Deshalb zeichnet sich ein kleiner Bauchansatz unter dem Kleid ab – oder weil sie auf dem Bild schwanger ist? Falls dieses Foto sie als Siebzehnjährige zeigt.
Ich betrachte die anderen Familienbilder. Auf den Fotos wirken die Abgebildeten stets älter, Kinder wie Kindergreise. Ich blättere zu dem Bild von Frida zurück. Das Kleid hatte sie wohl selbst geschneidert und sich dabei von dem berühmten Modekünstler Charles Frederick Worth inspirieren lassen. Sie trägt kein Korsett, zeigt auf dem Foto aber trotzdem eine schmale Taille und mehr Busen, als sie in Wahrheit gehabt haben soll. Ihr Schnitt betont beides. Doch wer wusste ihr Geschick in einem engen schwäbischen Dorf zu würdigen?
Ich fixiere das Foto, die Hälfte fehlt, ist amputiert worden. Mit der rechten Hand umklammert Frida eine andere Hand, die eines Mannes, meines Uropas wahrscheinlich. Jemand hat Angelo abgeschnitten. Wer? Wer ermordet ein Foto? Das Warum kann ich mir denken. Wer hat das Bild gemacht und wer in das Album gesteckt und weshalb? Wird zwischen den Blättern ein Mord dokumentiert, und ich erkenne es nicht? Bin ich blind?
Hochzeitsbilder von Frida und Angelo finde ich keine. Ich weiß, wieso. Niemand hat sie entfernt. Es gibt sie nicht. Geheiratet haben sie im Verborgenen, allein mit den Trauzeugen.
„Wie romantisch“, habe ich gesagt und verträumt geseufzt, als ich nach meiner ersten unglücklichen Beziehung von der Liebe meiner Urgroßeltern hörte.
Dabei wurde mir diese Geschichte bereits an der Wiege eingeträufelt. Nur sollte sie mir zur Abschreckung dienen. Frida, die Dorfmatratze, hätten Kinder und Kindeskinder getuschelt. Die Nachbarn damals haben gewiss andere Ausdrücke benutzt, aber das Gleiche gemeint. Neid, nichts als Neid! Ich finde Frida und Angelo doch romantisch.
„Romantisch? Was denkst du da? Zwei uneheliche Kinder, beschämend ist das“, entgegneten meine Eltern einstimmig, als ich es aussprach. Sonst waren sie sich selten einig.
Abgesehen davon hatte Frida nur ein uneheliches Kind!
„Sie hat die gesamte Familie dem Gespött der Leute preisgegeben und etwas in Gang gesetzt, das sich nicht mehr hat aufhalten lassen. Es setzte sich über Generationen hin fort.“ Meine Mutter lächelte vielsagend und traurig zugleich.
„Eine furchtbare Schmach! Er hätte gehen sollen, dann wär alles anders gekommen“, pflichtete ihr mein Vater bei.
Beide funkelten mich an.
Ja, gewiss: Ich wäre nicht geboren worden, meine Mutter ebenso wenig. Sie haben Frida die Schande nie verziehen. Woher kam diese Wut? Die Oma liebt man doch!
Das lose Foto lege ich auf den Tisch, blättere im Fotoalbum und sehe mir die anderen Bilder genau an. Drei von Fridas vier Töchtern entdecke ich zwischen den Kindern und Ehemännern. Von Urgroßvater Angelo als jungem Mann gibt es in diesem Album kein Foto, nur Großvaterbilder mit silbrigen Haaren, Stirnfurchen und einem Jungengesicht. Aber er muss früher gut ausgesehen haben mit diesen dunklen, brennenden Augen. Sie sahen, ebenso wie die seiner drei Töchter, aus wie mit Kajal umrandet. Die vierte Tochter finde ich nicht, aber ich gehe davon aus, dass auch sie dieses Erbe teilt. Es macht den Blick sinnlich. Seine Augen wirken auch auf den Großvaterbildern ungewöhnlich. Eins dieser Fotos halte ich mir dicht vors Gesicht und versuche, in seinem Blick etwas über sein Leben zu entdecken. Ich schüttle den Kopf.
Wenn Mord, wer trägt die Schuld daran? Ich lese diesen Satz noch einmal und starre auf den roten Strich darunter. Welch seltsame Formulierung. Hat ihn tatsächlich jemand ermordet?
Der Zettel brennt zwischen den Fingern. Schon lange wollte ich die Geschichte der beiden Liebenden aufzeichnen und bin nie dazu gekommen. Jetzt habe ich Zeit, zwangsweise, dank meines Nervenzusammenbruchs vor Kurzem. Zuvor, nun ja ... Ich weiß es nicht. Mein Sabbatjahr wurde jedenfalls gewünscht, nicht von mir.
Mit den Fotos und Erzählungen der Kinder und Kindeskinder werde ich die Suche beginnen. Ich muss die Verwandten aufsuchen und fragen, auch meine Mutter. Sie sitzt noch immer im Raum nebenan und strickt. Mit ihr könnte ich beginnen. Ich müsste nur die Tür öffnen. Ich will nicht, noch nicht. Es gibt andere Möglichkeiten.