Читать книгу Ikarus fliegt noch - Sabine Kampermann - Страница 8
Angelo
Оглавление„Noch dämmerte es. Dein Urgroßvater Angelo saß wie jede Woche neben seinem Vater, dem Babbo, auf dem Felsvorsprung mit der besten Aussicht. Dort wollte er dem Gluckern des Bachs und Babbos Geschichten lauschen. Bis zum Schulgong blieben ihnen noch einige Stunden“, beginnt meine Mutter.
Diese Quelle ist mir trotz allem am vertrautesten und sprudelt je nach Thema und Tagesverfassung gerne und ausgiebig. Deshalb habe ich meine Hemmungen im Moment überwunden und höre Mutter genau zu.
Nun filtere ich das Quellwasser und erzähle mit eigenen Worten:
Diesmal jedoch schwieg der Babbo, und auch der Bach war versiegt. Die Waldesruhe störten allein die Koloratur-Arien der Nachtigallen. Angelo bedrückte die Stille, außerdem erwartete er eine spannende Erzählung. Nur dafür stand er so früh auf.
Für seine Geschichten war der Babbo im ganzen Dorf berühmt. Am liebsten hörte Angelo etwas über die Flüge des Ikarus. Wenn der Babbo erzählte, konnte er die knorrigen Olivenbäume ganz klein unter sich zusammenschrumpfen sehen. Außerdem spürte er den Wind seine dichten Haare zerzausen, als wäre er selbst Ikarus, ein ganz besonderer Junge. Allerdings hatte er inzwischen Lesen und Schreiben gelernt und kannte diesen Mythos nun auch aus dem Schulbuch.
„Babbo, du irrst dich“, begann er, als er die Stille nicht länger ertrug. „Ikarus fliegt nicht mehr und ist nicht so viel und nie so weit geflogen, wie du behauptest. Weil er zu hoch aufgestiegen ist, hat er die Götter erzürnt und seinem Babbo das Herz gebrochen. Er stürzte ziemlich jung ab und starb. Das steht im Buch!“
Müde entgegnete der Babbo: „Das alles hat sich vor langer, langer Zeit ereignet. Niemand kann sich genau daran erinnern, was sich damals tatsächlich zugetragen hat. Und wer bitte, sag mir, kennt den Willen der Götter?“
„Aber was sagst du da! Der Padre kennt Gott und seine Gebote sehr gut.“
„Ich spreche von den alten Göttern. Jeder Mensch stürzt irgendwann ab und stirbt. Denk nicht zu viel darüber nach! Du bist noch jung, genieße das Leben. Ich habe übrigens etwas für dich dabei. Für deine Brüder wollte ich auch etwas Ähnliches anfertigen, aber ...“ Seufzend reichte ihm der Babbo ein dünnes, handgebundenes Buch.
Er nahm es und schlug es auf. Gebannt starrte er auf die Zeichnung einer Flugmaschine aus Holz und Federn, Zahnrädern und Drähten. Vorsichtig blätterte er die Seite um und sah ein anderes, ebenso ausgefallenes Luftfahrzeug aus Metall und Glas. Das ganze Buch war voll von Entwürfen ungewöhnlicher Flugmaschinen.
„Hast du die gezeichnet?“, flüsterte er, und seine Stimme vibrierte vor Ehrfurcht.
„Skizziert ja, erfunden haben sie größere Künstler als ich. Meine eigenen Pläne eignen sich nicht für unsere Welt. Niemand würde meine Luftfahrzeuge zum Fliegen bringen.“ Der Babbo blätterte im Buch und zeigte auf einige Bilder. „Dieses Fluggerät stammt von Leonardo da Vinci, auch einem Italiener, und ist schon etwa vierhundert Jahre alt. Dieses hier hat Jules Verne entwickelt, ein Franzose. Keine dieser Konstruktionen verleiht jedoch solche Kräfte wie die Flügel des Ikarus. Vergiss das nicht! Egal, was im Schulbuch steht. Schulbücher haben ihre Schwächen. Schließlich bin ich Lehrer und weiß das nur zu gut.“ Sanft strich er über die Seiten wie über die Haut eines Säuglings. „Ich wünsche mir etwas von dir, mein Sohn.“
Erwartungsvoll blickte ihm Angelo in die samtbraunen Augen.
„Nun, mir wird es nicht mehr gelingen, leider. Aber du musst irgendwann fliegen. Es ist deine Pflicht! Versprichst du mir das?“
Verwirrt nickte er und betrachtete nochmals die Skizzen. Auch er strich zärtlich über das Papier.
Später nahm er das Buch mit zur Schule. Abends, als seine beiden Brüder bereits schliefen, schlich er sich ins gemeinsame Schlafzimmer. Das Skizzenbuch bettete er neben sich und deckte es liebevoll zu.
Am nächsten Morgen saß die Familie schweigend am großen, runden Holztisch in der ordentlich ausgestatteten Wohnküche. Das Haus war hell und freundlich, klein aber solide. Nirgends regnete es hinein, und die Eltern hatten ein eigenes Schlafzimmer. Das gute Leben verdankten sie Babbos festem Einkommen. Die Mamma arbeitete nur unregelmäßig als Näherin und Wäscherin.
Marcello, der Jüngste, sollte sich erholen und schlief noch. Er fieberte und hustete. Roberto, der mittlere Bruder, gähnte und rieb sich die Augen. Normalerweise maulte er morgens, weil der Unterricht zu früh begann. Er besuchte die Schule erst seit einigen Wochen. An diesem Morgen aß er sein Brot schweigend.
Die Mamma schien etwas zu hören, lauschte und stand auf. Angelo bewunderte ihre schwarzen Locken und ihren wiegenden Gang. Er betrachtete sie gerne. Als sie ihn anlächelte, schien für ihn die Sonne. Dies war in den vergangenen Wochen selten geschehen. Ein strenger Zug hatte sich um ihren Mund eingeschlichen, und ihre Augen, schwarz wie reife Oliven, hatten an Glanz verloren. Angelo half ihr, so gut er konnte, aber auch er brachte das Strahlen der Augen nicht zurück. Sie verließ die Küche, um nach Marcello zu sehen.
Das Buch mit den Flugmaschinen hatte er in die Schultasche gepackt, obwohl er es den Mitschülern nicht zeigen wollte, nicht an diesem Tag und auch nicht später. Sie könnten es ihm wegnehmen und zerstören. Denn keiner von ihnen besaß etwas Vergleichbares.
Zum Unterricht ging er gern. Vor allem das Lesen gefiel ihm, wenn auch nicht so sehr, wie dem Babbo zu lauschen. Er war stets eine Weile unterwegs bis zum Schulhaus, fast eine Stunde. Bei allzu schlechtem Wetter durfte er nicht hin, damit er sich keine Lungenentzündung zuzog. Oft schlenderten er und sein Bruder neben dem Babbo her, der die beiden ältesten Klassen unterrichtete, die ein Klassenzimmer für sich hatten. An diesem Tag aber hatte der Babbo frei. Die Sonne schien, und die Jungen liefen allein los, blieben allerdings hinter der nächsten Biegung stehen, sahen den Krähen nach und verfielen dann in Trödelei. Steine in den Bach zu werfen, sodass sie mehrfach von der Wasseroberfläche abprallten und in die Luft sprangen wie Frösche, erschien ihnen so viel interessanter, als dem Lehrer zu lauschen.
Angelo schaffte es gerade noch rechtzeitig zum Schulgong. Roberto schlich sich etwas zu spät ins gemeinsame Klassenzimmer und wurde nicht erwischt. Die höheren Klassen saßen vorn, Roberto als Neuling ganz hinten.
Die Erstklässler hatten an diesem Tag länger Unterricht, deshalb bummelte Angelo allein nach Hause. Nach der halben Strecke setzte er sich auf einen Baumstamm und blätterte in Babbos Skizzenbuch. Er fand immer neue Details und vergaß darüber die Zeit.
Er sollte fliegen lernen. Das wünschte sich der Babbo von ihm, und diesen Wunsch konnte er nicht abschlagen. Welches Fluggerät wäre wohl das beste? Das mit den Federn? Nein, es erschien ihm zwar schwerelos, aber kaum stabil genug. Nun, bis er fliegen lernen konnte, würde viel Zeit vergehen. Noch war er ein Schuljunge. Zuerst musste er erwachsen werden und der Mamma und den Brüdern helfen. Die Sonne verschwand hinter einer Wolke, schlagartig wurde es dunkler. Er blickte zum Himmel. Regen kündigte sich an. Sehnsüchtig warf er einen letzten Blick in das Buch, klappte es langsam und vorsichtig zu, strich über den Einband, packte es ein und verweilte doch noch einige Minuten in Gedanken.
Ein Käuzchen rief, und das am Tag. Erschrocken fuhr er auf und sah nach dem Stand der Sonne, die sich gerade aus den Wolkenschlieren kämpfte. Da er nicht wusste, wie viel Zeit er vertrödelt hatte, rannte er das letzte Stück nach Hause.
Ein Schrei durchschnitt die Stille. Er ähnelte dem Heulen eines Wolfes mit der Stimme der Mamma. Außer Atem hielt er inne, stand still und spähte zum Häuschen hin. Die Nackenhaare stellten sich auf. Er erkannte etwas, einen Umriss, etwas Düsteres, einen dunklen Engel.
Wie betäubt ging er weiter, erkannte ihn und erkannte ihn nicht. Er wollte ihn nicht sehen, aber wegsehen war nicht mehr möglich. Der dunkle Engel lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, die Arme wie Flügel ausgestreckt. Schweigend kniete er sich neben ihn und berührte diese seltsamen Schwingen. Die Mamma kauerte auf der anderen Seite des vertrauten Mannes, der nun zu einem Fremden geworden war, und starrte Angelo in die Augen.
„Das hat er nun von seinen Flugübungen.“ In ihrer Stimme schwang neben unendlichem Leid ein gewisser Groll mit.
Angelo hörte Marcello husten. Die Mamma stand auf, wischte sich die Tränen ab und schlurfte ins Haus. Er blieb neben dem Babbo und gewahrte erstmalig, wie klein und schmächtig der war. Bisher war er ihm groß und stark erschienen, dabei hatte seine Haut schon länger fahl und verbraucht ausgesehen und krank. Angelo berührte die blasse Hand, sie war kalt und starr. Krank darf man nicht fliegen, dachte er. Der Babbo hatte ihm erzählt, dass Ikarus die Flügel nur gebrauchte, wenn es ihm gut ging. Schließlich wollte er nicht riskieren, abzustürzen.
Angelo merkte nicht, wie die Zeit verstrich. Sein Schmerz quälte unermesslich. Er nahm ansonsten nichts mehr wahr, konnte sich kaum rühren und auch nicht sagen, wie lange er inzwischen neben dem reglosen Mann verharrte. Irgendwann tropfte es vom Himmel, die Mamma kam und zerrte ihn weg. Sie nahm ihn in die Arme, trug ihn ins Schlafzimmer und legte ihn neben sich ins Bett. Das Skizzenbuch blieb draußen.
„Deine Stirn ist heiß“, sagte sie. „Dir geht es schlechter als Marcello.“
Als er am nächsten Morgen erwachte, regnete es noch immer. Trotzdem zog er sich eilig an, schlich aus dem Zimmer und trat vor die Tür. Das Buch lag noch da, mit triefenden Seiten. Der Babbo war weg. Ihn musste der Regen fortgeschwemmt haben.
Sieben Jahre später begleitete Angelo die Mamma wie jede Woche zu Babbos Grab. Die ersten Sonnenstrahlen erhellten die Waldesruhe und beleuchteten die Gräber. Über dem schlichtesten Grabstein und dem verwitterten Holzkreuz erhob sich wie ein Ehrenmal der dorfälteste Granatapfelbaum und warf einen endlosen Schatten.
Angelo streckte sich und bog einen Ast nach unten. Einen überreifen Granatapfel vom Vorjahr pflückte er ab und reichte der Mamma die rote Frucht. Sie nahm sie nicht und drehte den Kopf einmal nach links und einmal nach rechts.
„Dein Babbo“, sie hielt inne und seufzte, „der Baum trinkt täglich von seinem Blut. Bloß damit reifen diese Äpfel.“ Anschließend stampfte sie mit dem Fuß auf und wandte den Blick ab.
Er brach die harte Frucht auf, die den Winter nur durch ein Wunder überstanden hatte. Die blutummantelten Kerne kratzte er mit den Fingern aus dem Fruchtfleisch und steckte sie in den Mund. Die Mäntel saugte er aus, spürte, wie der süßsaure Saft den Gaumen zusammenzog, und spuckte die hellen Kerne in den Sand.
„Lass das! Dein Babbo hat schon genug davon verteilt, anstatt den Arzt aufzusuchen. Damals hätten wir uns einen Arztbesuch durchaus leisten können.“
Verwirrt hob er den Blick und musterte sie.
„Hier wachsen zu viele Granatapfelbäume, und jeder einzelne erinnert mich an ihn, als hätte er hundert Gräber.“ Die Mamma betrachtete die Samen, pulte sie schließlich aus dem Sand und zählte sie. Allerdings verzählte sie sich und begann nochmals von vorn. Einige Minuten später gab sie auf und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich weiß auch so, wie viele es sind.“
„Ach ja?“
„613 Samen enthält jeder Apfel.“
„Oh! Bist du sicher?“
„Natürlich. Das ist Gottes Wille, muss es sein. Ebenso viele Gesetze gibt es im Alten Testament. Bestimmt kein seltsamer Zufall. Trotzdem wurden die Granatapfelbäume den alten Göttern zugeschrieben, den Göttern der Unterwelt, Proserpina und Pluto. Weißt du das?“
Er nickte.
„Ja, nicht nur dein Babbo hat viel gelesen. Dieser Granatapfelbaum hier ist uralt, älter als unsere Dorfkirche.“
Etwas in dieser Art erzählte sie ihm bei jedem Grabbesuch. Er betrachtete den Baum. Sein Holz wirkte wahrhaftig uralt und runzlig. Ob er tatsächlich tausend Jahre zählte, wussten bloß die Götter. Welche? Wie auch immer, jedenfalls verwandelte der Baum, dessen Form fast einer Kugel glich, dieses Grab dank der Früchte und feuerfarbenen Blüten in eine ansehnliche Ruhestätte. Ansonsten verliehen nur die ehemals einheitlichen Holzkreuze dem verwilderten Friedhof etwas Ähnliches wie eine Struktur.
Angelo mochte klare Strukturen. Für die Struktur des Gemeindelebens liebte er die Kirche. Die Gemeinde verschmolz zu etwas Einförmigem, wenn sie während der Predigt gehorsam die Köpfe senkte. Aus einer bestimmten Entfernung ähnelte die Kirchengemeinschaft Mammas Nadelkissen, denn sie steckte die Nadeln alle im gleichen Winkel in den Stoff.
Der kalte Wind fuhr durch die Zweige und zerzauste Angelos Haar. Er fröstelte und überblickte die ihm am nächsten stehende Linie aus Holzkreuzen. Die Verwitterung hatte dort nicht einheitlich zugeschlagen. Tanzten da etwa einige Kreuze aus der Reihe? Von irgendwoher rief ein Käuzchen, einmal, zweimal. Er schrak zusammen. Seltsam, so früh am Morgen hört man diese Vögel sonst kaum. Das letzte Mal ...
„Liegt jemand im Sterben?“, flüsterte er, zitterte und spähte zur Mamma hin.
Sie schien ein wenig zu frösteln und zog ihren zerschlissenen Umhang enger um sich.
„Nicht, dass ich wüsste. Freilich weiß ich nicht alles. Aber nicht immer kündigen Eulen einen Todesfall an. Zuweilen begrüßen sie auch ein neues Leben.“
Er berührte den dicksten Stamm des Granatapfelbaums, der ebenso wie die dünneren fast im Buschwerk der Zweige und Blätter verschwand. Alle Stämme, ob dick oder dünn, ob lang oder kurz, zählten gleich viel. Dieser Baum flößte ihm Kraft ein, da ihn kein Hauptstamm auszeichnete, der den anderen Stämmen seinen Willen aufdrücken konnte.
Ein dritter Eulenruf drang durch das Geäst. Angelo lauschte, nun jedoch blieb es still. Leben oder Tod?, dachte er. Er würde es mit einem Käuzchen aufnehmen und hörte auf zu zittern. Besonnen hob er den Kopf und überblickte das ganze Olivenhaintal. Vom Anfang des Himmels erstreckte es sich bis zum Fuß der Berge, mit Olivenbäumen so alt wie das Tal. Zwischen den eigenwilligen Bäumen leuchteten Mohnblumen in einer ähnlichen Farbe wie die der Granatapfelblüten. Doch kein Ölbaum konnte sich mit dem Blattwerk des Granatapfelbaums messen.
Verborgen in den Zweigen kauerte zwischen Spatzen und Zikaden Babbos Seele. Er hatte das Dorf Vinegàta zu sehr geliebt, um es ganz zu verlassen. Jeder hier wusste das, noch immer erzählte man Geschichten über ihn.
Ein Eichhörnchen steckte den Kopf durch das Blätterdach, entblößte die nadelspitzen Zähne und grinste Angelo an. Er scheuchte es fort, nahm die Wasserkanne, goss damit den Baum und entfernte das tote Holz. Das brachte ihm einen giftigen Blick der Mamma ein. Doch dank der sorgsamen Pflege würde der Baum hoffentlich auch dieses Jahr neue, pralle Granatäpfel tragen, die man noch fern vom Grab leuchten sehen konnte. Der Babbo hatte diese Früchte geliebt.
Er hörte die Mamma etwas vor sich hin murmeln. Sie richtete den Blick wie gewöhnlich an diesem geheiligten Ort gen Boden und kratzte mit den Fingernägeln das Moos vom Grabstein. Bloß ab und an hob sie den Kopf, lauschte und hoffte wohl, eine Antwort zu erhalten. Er beobachtete sie genau. Plötzlich wandte sie sich ihm zu und musterte ihn.
„Traurigkeit liegt über dem Tal. Siehst du sie?“ Sie fasste ihn am Kopf und drehte ihn, sodass er das Tal überblicken konnte.
Zaghaft nickte er.
„Wir sollten dem Herrn nachher eine Kerze der Freude anzünden. Damit können wir der Schwermut entkommen“, sagte sie, bückte sich und machte sich wieder daran, das Grab zu säubern.
Er schwieg, diese Sitte mochte er nicht. Nachdem die Mamma den Stein auch von der letzten Moosspore befreit hatte, winkte sie ihm zu. Das war ihr Zeichen. Nun ist alles Notwendige vollbracht, und wir könnten den Heimweg einschlagen. Vielleicht lässt sich der Kirchgang ja vermeiden, dachte er. Schnurstracks nahm er den direkten Weg. Sie folgte ihm jedoch hurtig, packte ihn am Ärmel und hielt ihn zurück.
„Lass uns zuvor noch in die Kirche gehen und die Kerze anzünden“, bat sie mit nun weinerlicher Stimme.
Lustlos aber ergeben stimmte er zu. Dabei fühlte er sich in der Kirche geborgen. Sie war fest im Dorf verwurzelt, aus den gleichen, kargen Steinen erbaut wie die Häuser und Hütten ringsum, schlicht, mit Ziegeldach und nicht übermäßig groß für ein Gotteshaus. Trotzdem blieb sie das respektabelste Bauwerk des Ortes mit intaktem Mauerwerk, ordentlich verputzt und ohne Ritzen und Scharten, die der Regen nutzen konnte. Der Kirchturm überragte sogar den höchsten Baum Vinegàtas und warf im Licht der aufgehenden Sonne stets einen gigantischen Schatten.
„Komm!“, flüsterte die Mamma und zog ihn mit sich.
„Hm“, entgegnete er und machte sich los.
Mit gesenktem Kopf trat sie unter dem Torbogen hindurch, an dem sie sich auch aufrecht nicht gestoßen hätte. Angelo betrachtete die kleine Frau, die seit dem Tod des Vaters schlecht hörte und nach Greisin roch. Der Anblick schmerzte ihm in der Seele. Das graue Haar trug sie längst wie eine alte Frau zu einem Dutt gesteckt und verbarg es nicht überzeugend unter einem zerfransten Kopftuch. Einst war sie größer gewesen, um einen Kopf bestimmt, und schön, sofern er den Fotos glauben konnte. Erinnern konnte er sich nur verschwommen, und war die Mamma für kleine Jungen nicht immer schön? Wenn sie weiterhin schrumpfte und der Tradition gemäß hochbetagt wurde, musste er irgendwann gewiss darauf achten, sie nicht zu zertreten. Die Gesichtshaut war vom Wetter gegerbt; rau und ungeschminkt und stellenweise gerötet trotzte sie jedem Gewitter. Ihre ausgeblichenen und altmodischen Kleider würde die Mamma tragen, bis sie zerfielen. Für neue Kleidung reichte das Geld nicht. Er starrte auf das Flickwerk, das den ausgemergelten Körper mehr verunstaltete als kleidete. Wie viele Jahre musste er noch warten, bis er endlich eigenes Geld verdiente? Wann konnte er der Mamma Kleider kaufen, die mehr aus Stoff bestanden statt aus Löchern und Flicken?
Er blinzelte, das Sonnenlicht fiel durch die Kirchenfenster und blendete ihn. Die Mamma schlurfte neben ihm über den Steinboden. Sie war erst Mitte dreißig, ihr Gang sagte allerdings siebzig, ebenso die Falten. Wie Ackerfurchen gruben sie sich um den Mund und in die Stirn und umspielten vor allem die kleinen Augen. Nicht erst seit Tagen lagen diese tief in den Höhlen und verloren die Farbe. Nur hier in der Kirche leuchteten sie lebhaft auf. Bloß konnte er nicht mehr sagen ob meerblau, moosgrün, erdbraun, rußschwarz oder mehrfarbig.
Sie neigte sich über den Altar und spendete als gute Christin wie alle Frauen des Dorfes trotz des Notstands gleich mehrere Kerzen.
„Komm her ins Licht“, sagte sie.
Er trat an den Opfertisch heran und sah zu, wie sie die dritte Kerze anzündete und im Schein lächelte. Kerzenlicht mochte er, es strahlte etwas Heiliges aus.
Zuerst sah er zu der Madonna hin. Sie lächelte verklärt. Angelo wusste nicht, ob glücklich oder traurig oder beides zugleich. Er mochte sie, seine Schutzheilige.
Danach blickte er zu dem gekreuzigten Jesus auf. Der Bildhauer hatte ihn abgezehrt gestaltet, mit leidendem Gesichtsausdruck, bunt bemalt und mit echten Nägeln an das Holzkreuz geschlagen. Die Augen der Figur blickten gebrochen und leer auf die Gemeinde herab. Angelo fühlte sich nicht wohl unter diesem Blick, der nichts und alles wahrzunehmen schien. Nein, dem Blick dieses Augenpaars wollte er sich nicht allzu oft aussetzen.
„Er hat gruselige Augen“, sagte er.
„Du hast ein schlechtes Gewissen“, entgegnete die Mamma.
„Weshalb denn?“
„Was fragst du mich? Ich kann dir das nicht sagen. Aber du wirst es schon wissen.“
Jeden Sonntag ging sie zur Beichte, ließ sich von Nichtigkeiten lossprechen und erwartete von ihm und den Brüdern das Gleiche. Er weigerte sich oft, sie zu begleiten, nicht allein wegen der Jesusfigur, sondern weil sie sich eine Belohnung im Jenseits erhoffte, wenn sie der Kirche und dem Padre dort nicht nur drei Kerzen schenkte, sondern auch drei Söhne. Das sah er ihr an, auch wenn er nicht sagen konnte, weshalb.
Grollend trat er gegen eine Säule und zischte: „Ich bin keine Spende.“
Der Padre sollte bloß die Finger von ihm lassen. Er mochte den schlaffen Händedruck des Kirchenmannes nicht und mied ihn, soweit möglich. Aber dessen durchdringender Stimme konnte sich niemand entziehen. Ihr Nachhall ließ ihn erzittern. Dem sollte er die Sünden beichten? Welche denn? Bei all den Aufgaben, die er für die Familie erledigen musste, blieb ihm kaum Zeit zum Sündigen. Die Fälle von Selbstbefleckung könnte er offenbaren, vor allem, seit er die wunderschöne Sofia kannte, von der er regelmäßig träumte. Nur … einmal reichte! Außerdem hatte dieses Schuldbekenntnis nichts genutzt.
Vater unser im Himmel ... Diese Worte schwirrten in seinem Kopf herum, ohne dass er darüber nachdenken musste, und ebenso: Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.
Was bedeutete dieses gebenedeit? Dass Maria verführerisch war? Natürlich. Hätte Gott sie sonst erwählt? Er war schließlich ein Mann. Die Mutter Jesu musste überirdisch schön sein. Keine der unzähligen Heiligen konnte ihr das Weihwasser reichen. Sie hatte gewiss eine kurvenreiche Figur und volle Brüste. Nachts stellte er sie sich oft genug vor, manchmal nackt, mal schlank, mal füllig. Er schüttelte den Kopf. Die Rosenkränze machten aber auch gar nichts besser. Im Gegenteil, er musste währenddessen immer an sie denken und an ihren heiligen, entblößten Körper. Dabei rann ihm der Schweiß über die Stirn, und laut wiederholen wollte er das Bekenntnis auf keinen Fall. Allein deshalb nicht, weil er dann das Gesicht des Padres vor sich sähe ‒ trotz des Vorhangs.
In diesem Moment erblickte Angelo die Jungfrau. Sie schwebte über dem Altar und war keineswegs klein und unscheinbar wie die Madonna, die heilige Barbara oder die heilige Bernadette. Es musste ein gutes Zeichen sein, dass sie sich ihm zeigte. Der Schemen verschwand so schnell er erschienen war. Angelo starrte noch eine Weile hin, doch die Erscheinung blieb verschwunden.
Beichten würde er das auf keinen Fall. Der Padre ließe sich gewiss kein Wort entgehen, betete vielmehr jedes einzelne nach, rollte es auf der Zunge und saugte zugleich seine Gedanken auf. Immerhin hatte Angelo dank Onan, dem Kommunionsunterricht und der Vorliebe des Padres für lateinische Ausdrücke erfahren, was der Coitus interruptus verhindern könnte. Nur fehlte es ihm leider an Gelegenheiten, das Gelernte in die Tat umzusetzen.
Endlich hatte die Mamma dem Wachs lange genug beim Herunterlaufen zugesehen und wandte sich zum Gehen.
„Komm“, sagte sie und zog ihn mit sich.
Sie liefen nicht lange zu dem baufälligen Zwei-Raum-Hüttchen, in dem sie inzwischen zusammen mit seinen beiden Brüdern lebten. Vielmehr überlebten. Das Häuschen, in dem er die Kindheit verbracht hatte, hatte sich die Mamma nach Babbos Tod nicht länger leisten können. Das Geld für den Erlös war mit den Jahren zusammengeschmolzen. Ohne den Babbo reichte es vorne und hinten nicht, er war viel zu jung gestorben.
Alt wurden die Männer in dieser Sippe nie, keine fünfzig, das verlangte die Tradition. Die Frauen hingegen lebten meist so lange, dass die Angehörigen über kurz oder lang nicht mehr mit ihrem Ableben rechneten. Der Allmächtige, glaubten sie, hätte die Greisinnen schlichtweg vergessen. Angelos Urgroßmutter war mit etwa hundertzwanzig Jahren einfach verschwunden, hatte sich in Luft aufgelöst und war womöglich direkt in den Himmel gefahren. Gefahren oder geflogen? Fahren dauerte zu lang, sogar mit solch einem neumodischen Automobil. Er hatte bisher nur zwei dieser Fahrzeuge gesehen und noch nie in einem gesessen.
„Beeile dich“, rief die Mamma, „wir haben noch viel zu tun.“ Dabei lief er vor ihr her.
Vor ihrer Unterkunft wartete er auf sie und betrachtete die Wäscheleine vor der Eingangstür. Die immer gleichen grauen Wäschefetzen schaukelten im Wind. Kam man öfter hier vorbei, musste man annehmen: Die Wäschestücke würden nie gewechselt werden.
Schwalben flogen hin und her und begannen über der Tür mit dem Nestbau. Von der Fassade der winzigen Heimstatt blätterte der Putz ab, und nackte Mauersteine lugten hervor. Das Hüttchen war derartig unscheinbar, dass sich nicht einmal Angelo merken konnte, wie es aussah. Ab und an hatte er deshalb an der falschen Tür geklopft. Allerdings wusste er genau, wie es sich darin anfühlte. Insekten, Spinnen und Würmer, aber vor allem der Regen drangen durch die Mauerritzen und machten es sich bequem. Die Feuchtigkeit nistete sich ein ins Mauerwerk, blieb auch dann, wenn die Sonne schien, und hinterließ nicht allein ihren Geruch – Schimmel malte orakelhafte Muster auf die Wände.
Er trat ein und starrte diese Muster an. Vor seinen Augen verschwammen sie zu Bildern von Monstern mit Klauen so scharf wie Babbos Rasiermesser.
Im Schlaf krallten sie sich ihn.