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Frida

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An dem Tag, als sich Thomas nach Amerika einschiffte, sagte der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Bernhard von Bülow, in einer Rede im Reichstag: „Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“

Meine Urgroßmutter Frida ahnte nichts davon. Sie kümmerte sich wenig um Politik, träumte aber ebenfalls von einem Platz an der Sonne. Während sich mein Urgroßvater Angelo von seiner Mamma entfernte und sich in winzigen Schritten Neckartailfingen näherte, wartete sie auf die Post, und das sehr lange.

Am Morgen nach Thomas‘ Flucht erlebte sie ihren Vater zum ersten Mal verkatert. Er musste in der Nacht torkelnd nach Hause gekommen sein und hatte sich im Spülstein übergeben. Stunden später erfüllte der Geruch den Raum noch immer.

Die Mutter sah nach der Post. Dabei wusste sie, dass ein Brief aus Amerika Zeit brauchte. Diese Briefe reisten per Schiff, Automobil, Postkutsche und zu Fuß per Postbote und brauchten lange nach Deutschland, viel zu lange. Kein Wunder!

Zu Hause wagte niemand, Thomas‘ Namen in Gegenwart des Vaters zu erwähnen, nicht einmal die Mutter. Von Tag zu Tag wurde sie schweigsamer, die Mahlzeiten nahm sie wortlos ein. Thomas war trotzdem überall präsent.

Endlich erreichte sein erster Brief sein Ziel. Die Mutter las die wenigen Zeilen wieder und wieder, als sie sich unbeobachtet glaubte. Frida sah, wie sie sich beim Lesen über die Augen wischte und den Brief anschließend versteckte. Leise zog sie sich zurück.

Später lauschte sie an der Tür.

„Frida, wo bist du?“ Schritte wurden laut und verklangen.

Als sie nichts mehr hörte, holte sie den Brief aus dem Versteck. Das Papier hatte die Feuchtigkeit von Mutters Fingern und Augen aufgesaugt. Sie erkannte Salzränder. Auch sie hatte die knappen Zeilen bereits gelesen. Doch sie befingerte das Papier und inhalierte jedes einzelne Wort, bis sie den Text auswendig konnte.

Thomas hatte sich anheuern lassen, sich die Überfahrt verdient und etwas Geld zurücklegen können. Amerika gefiel ihm, die Weite, die Möglichkeiten, die Unabhängigkeit. Wenigstens etwas. Natürlich träumte er davon, sich hochzuarbeiten und reich zu werden, träumte den Traum so vieler junger Männer. Nur erfuhr man von den gescheiterten Träumern meist nichts mehr.

Wenigstens hatte der Bruder sich im Buchladen für seinen Traum jahrelang weitergebildet. Seit einigen Wochen arbeitete er als Praktikant in einer Anwaltskanzlei und wollte Jura studieren. Mit dem Studienabschluss wollte er dann für die Unterdrückten eintreten. Für Unfreie, die unter ihren strengen Vätern litten, dachte sie. Den Vater erwähnte er mit keinem Wort und grüßte ihn nicht, seine ehemalige Verlobte genauso wenig.

Natürlich kannte Frida die junge Frau und hatte ihre geschwollenen Lider und die schwarzen Augenringe wahrgenommen. Angesprochen hatte sie sie nicht. Trost spenden konnte sie schließlich nicht. Allerdings hatte sich das Mädchen nach wenigen Monaten Arm in Arm mit einem anderen Burschen gezeigt.

Frida strich noch einmal über das Papier, danach faltete sie es zusammen und legte den Brief zurück an seinen Platz.

„Ein Studium“, murmelte sie. „Ja, du schaffst das.“

Der Vater hatte ihn stark gemacht und an- und fortgetrieben. Das stimmte, auch wenn Thomas es nicht wahrhaben wollte. Sie blinzelte und verscheuchte eine Fliege. Sie wäre mit weit weniger zufrieden. Ein Handwerksberuf wäre schön, einfache Schneiderin – Modeschöpferin würde sie sich nicht nennen.

Der Vater musste die Aufregung und das Getuschel im Haus bemerkt haben. Er tat jedoch so, als gäbe es den Brief des geflüchteten Sohnes nicht, lief aber wie eine Ameise im Haus hin und her und betrank sich heftig. Eine Fahne roch Frida zum ersten Mal an ihm. Die Mutter ging ihm aus dem Weg. Viel teilten die Eltern nicht miteinander, lediglich die regelmäßigen Mahlzeiten und die Gottesdienste. Trotzdem hielt sie ein unsichtbares Band zusammen. Allmählich löste sich dieses Band allerdings in Luft auf. Worte tauschten sie kaum noch, und während der Mahlzeiten verbreiteten beide eine Stille, die Fridas Arme mit einer Gänsehaut bedeckte.

Sie vermisste Thomas. Die Einsamkeit nagte an ihr trotz der vielen Geschwister. Am nächsten standen ihr nun die Gänse, die den Martinstag dieses Jahr überlebten. Sie genoss deren Gesellschaft, ließ die Tiere im Neckar schwimmen und passte auf, dass keins entwischte.

„Erika, komm zurück!“, rief sie und lockte die Gans mit einem Kanten Brot.

Schließlich setzte sie sich ans Ufer und las: Die Geschichte von Kalif Storch. Zugleich beobachtete sie die Gänse aus den Augenwinkeln.

„Warum kann ich mich nicht in eine Gans verwandeln und davonfliegen“, wisperte sie. Die Menschen unter ihr nähmen dann die Größe harmloser Stecknadelköpfe an.

Allen Gänsen gab sie neue Namen wie nach einer Wiedergeburt, sie kannte die Eigenheiten jeder einzelnen. Ihr Geschnatter beruhigte sie.

Elsi trat zwischen den Bäumen hervor, setzte sich neben sie und sagte: „Was machst du hier? Du verbringst mehr Zeit mit diesen Viechern als mit mir oder deinen Verehrern.“

„Diese Vögel gefallen mir eben besser“, entgegnete sie.

„Als ich?“

„Nein.“

„Einige sind gar nicht so übel.“

Elsi meinte damit die Männer und nicht die Gänse, aber Frida hörte bei diesem Thema nie zu und sah da auch kaum einen Unterschied.

Elsi schüttelte den Kopf. „Was ist nur mit dir los?“ Eine Weile wartete die Freundin vergeblich auf eine Antwort, spielte währenddessen mit ihren Haaren und verabschiedete sich schließlich. Frida blickte nicht einmal auf.

Nachdem sie die Gänse zurück in den Verschlag gebracht hatte, trat die Mutter auf sie zu, lächelte sie an und sagte: „Du bist ein hübsches und geschicktes Mädchen, Frida. Um deine Heiratschancen musst du dich gewiss nicht sorgen. Für dich sind durchaus ein paar gute Partien dabei.“

Dieses Thema wurde allzu oft angeschnitten. Frida wollte nichts von diesen Partien wissen, obwohl sie wusste, wie die meisten Ehen im Dorf geschlossen wurden.

„Ich will vor der Heirat Schneiderin werden“, erwiderte sie.

„Trotz, nichts als backfischhaftes Aufbegehren. Doch das wird sich bald ändern. Du wirst schon sehen! Wenn du meinen Rat hören willst: Nimm den Anwalt, dann bist du gut versorgt. Falls der dich will! Wenn nicht, der Matthias nimmt dich bestimmt. Du wirst schon nicht als alte Jungfer enden.“

Anwalt, Jura … sie musste an Thomas und seine Träume denken und daran, dass ihr zukünftiger Mann ihm ähneln sollte. Dem Anwalt, den ihr die Mutter ans Herz legen wollte, fielen bereits die Haare aus. Aber nicht deshalb mied sie ihn.

Junge Männer waren zurzeit rar. Außerdem hatte der eine Pickel, der andere roch aus dem Mund, einen weiteren Kandidaten hielt sie für arrogant. Den Matthias vom Nachbarhof hingegen mochte sie. Bloß heiraten? Sie waren zusammen aufgewachsen. Sie hatte ihm Frösche in die Schuhe gesetzt, er ihr den zweiten Schluck Wein spendiert, heimlich natürlich, unter der Sandsteinbrücke. Damals hatte ihr der Wein nicht geschmeckt, genauso wenig wie beim ersten Versuch. Sie hatte den teuren Tropfen ausgespuckt und sich danach mit Wasser den Mund ausgespült. Das Tanzen hatte Matthias ihr auch beigebracht. In der Scheune hatten sie gemeinsam die Schritte geübt.

„Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei“, hatte er gezählt und versucht, ihr das Gefühl für den Rhythmus zu vermitteln. Niemandem sonst hätte sie Frösche in die Schuhe gesteckt, dazu hatte ihr der Mut gefehlt. Matthias war ein weiterer Bruder für sie. Die bloße Vorstellung, ihn zu heiraten, erschien ihr grotesk.

„Aber küssen könntest du ihn wenigstens. Er sieht schließlich gut aus. Oder willst du lieber mit Pickelkurt oder dem kahlen Karl üben?“, fragte Elsi während einem ihrer gemeinsamen Sonntagnachmittage. „Dein Thomas ist zu weit und zu lange weg und sowieso ungeeignet. Wie viele Jahre nun schon?“

Frida fühlte, dass sie errötete. Sie sah auf die kostbare Wanduhr in Elsis Zimmer.

„Ich muss gehen“, sagte sie und hoffte, dass die Freundin das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkte.

„O ja“, erwiderte Elsi, „wie immer bei diesem Thema.“

Jetzt zitterte nicht nur ihre Stimme. „Ich, ich …“

„Schon gut.“ Elsi legte ihr die Hand auf die Schulter. „Dann bis nächsten Sonntag.“

Frida machte sich auf den Heimweg, dabei wäre sie gerne noch geblieben. Sie ging langsam, Schritt für Schritt, ohne Hopser. Warum war sie nicht in die Familie der Freundin hineingeboren worden?

Elsis Vater besitzt jetzt nicht nur eins der größten und prächtigsten Häuser im Dorf, sondern sogar ein Automobil. Einen Benz. Stellt euch das vor! Sie erinnerte sich noch deutlich an die Worte der alten Berte.

Da Herr Schweitzer selbst wegen starker Kurzsichtigkeit nicht fahren konnte, beschäftigte er einen Chauffeur, der sein einziges Kind zur Schule fuhr. Frida bot sich eine andere Welt, eine Welt mit Dienstboten, Klavierstunden und Theaterstücken. Sie war schon ins Tübinger Theater mitgenommen worden.

„Kannst du dir keine andere Freundin suchen? Ausgerechnet solch ein Fräulein Hochwohlgeboren. Das sieht doch auf dich herab“, sagte der Vater, als sie zu Hause ankam.

Nur wegen der Mutter untersagte er ihr den Kontakt nicht, musterte Elsi jedoch stets voller Argwohn und heuchelte Freundlichkeit. Herr Schweitzer hingegen war stets höflich zu ihr, und sein Lachen wirkte echt. Oder behandelte er jedermann zuvorkommend, dachte aber ganz anders?

Als sie abends im Bett lag, grübelte sie über beide Familien nach. Elsi besuchte das Königin-Olga-Stift in Stuttgart. Sie hingegen hatte die Volksschule inzwischen abgeschlossen, arbeitete auf dem Hof und beneidete die Freundin um ihr gepflegtes Hochdeutsch und die Klavierstunden offen und oft.

Die Glocken schlugen Mitternacht, als sie endlich einschlief.

Elsi sah sie verwundert an, als sie sich wiedertrafen und sie dieses Thema ansprach, und erwiderte: „Was hast du denn? Deine Mutter stammt doch auch aus einer reichen und angesehenen Familie.“

Sie nickte stumm. Die Mutter war in Tübingen aufgewachsen und erst dem Ehemann zuliebe nach Neckartailfingen gezogen. Seit ihrer Heirat besuchte sie ihre Schwestern jedoch kaum noch, seit dem frühen Tod der Eltern gar nicht mehr. Seltsam.

Eine Woche später saß Frida vor dem Gottesdienst am Frühstückstisch und beobachtete die Mutter, die schweigend ihr Frühstücksei löffelte. Die Falten auf ihrer Stirn hatten sich vertieft. Warum? Weshalb wusste sie so wenig und kannte die eigene Mutter kaum? Wieso wurde so vieles totgeschwiegen? Oder wagte sie nur nicht zu fragen?

Brüder hatte die Mutter nicht, deshalb war das Elternhaus damals an sie, die älteste Tochter, gefallen. Sie hatte es verkauft und mit dem Erlös den Hof erworben. Das Vieh hatte sie inzwischen mit Ausnahme der Gänse und einer Milchkuh für den Eigenbedarf verkauft. Denn der Vater besserte mit Hingabe Fassaden aus und wollte nicht zusätzlich Viehwirtschaft betreiben.

Frida kannte ihre Tanten nicht. Wenn sie nach dem Grund fragte, erhielt sie jedes Mal eine ausweichende Antwort. Herr und Frau Schweitzer hingegen besuchten ihre Verwandten mütterlicherseits regelmäßig. Die beiden Familien verflocht ein Band über mehrere Generationen. Es war dick und stark. Früher hielt es die Mütter und jetzt auch die Töchter zusammen.

Frida und Elsi hatten sich im Alter von acht und neun Jahren kennengelernt. Damals wären die Schweitzers wegen der Erbschaft nach Neckartailfingen zurückgezogen, hieß es.

„Jetzt wo sie reich sind, werden sie ihre alten Nachbarn kaum noch kennen“, hatte die alte Berte überall herumerzählt.

Frau Schweitzer jedoch hatte Fridas Mutter besucht und das alte Band zwischen den Familien gestärkt. Seitdem traf Frida Elsi sonntags nach dem Gottesdienst.

Heute hielt ein neuer Pfarrer die Predigt, und sie hörte aufmerksam zu. Trotzdem freute sie sich, als die Glocken das Ende einläuteten. Zu Hause erwartete sie die Freundin voller Ungeduld.

Fridas Vater öffnete die Tür. „Ach, Fräulein Elsi. Es ist stets erfreulich, Sie gesund und munter anzutreffen und immer so adrett gekleidet. Gehen Sie mal hin zu der Frida ins Zimmer.“ In Gegenwart der vornehmen Elsi drückte er sich stets so korrekt aus, wie ihm nur möglich war, und achtete darauf, dass ihm die Freundlichkeit fast aus den Mundwinkeln triefte.

Elsi nickte zwar höflich, schlug ihm Fridas Zimmertür aber geschwind vor der Nase zu und wandte sich an Frida: „Warum gehst du so selten zu den Dorffesten? Du tanzt doch passabel und gerne. Manche Burschen können es auch ganz gut und sind gar nicht so übel.“

Frida warf ihr einen argwöhnischen Blick zu.

Elsi ließ sich nicht beirren. „Ich verstehe nicht, was dich stört. Also der Matthias sieht dich immer so treuherzig an und er sieht wahrlich gut aus. Der ist aufrichtig in dich verliebt und täte alles für dich“, sagte sie und seufzte verträumt.

Schon wieder dieses Thema! Frida antwortete nicht und zwar, weil die Freundin recht hatte.

„Nun, wenn er dir nicht gefällt, es gibt noch andere. Schmucke Männer sind hier keine Seltenheit.“

„Ja, ja, der kahle Karl“, entgegnete sie.

Elsi grinste. Frida schüttelte den Kopf. Sie hasste jede Art der Zudringlichkeit.

„Mädle, du bist selbst schuld, so wie du dich kleidest! Dein Aufzug gehört sich nicht für eine anständige Frau.“ Etwas in der Art würde sie hören, egal, wem sie ihr Herz ausschüttete, und egal, was sie trug.

„Was ist?“ Elsi ließ nicht locker und durchbohrte sie mit ihrem Blick.

„Du weißt doch, was meinetwegen vor über zwei Jahren vor der Kirche vorgefallen ist. Vergessen wird so etwas schließlich nicht“, murmelte sie.

Elsi lachte. „Ja, leider ist das nicht mir passiert. Berte, die alte Jungfer, ist vor Neid bestimmt gelb angelaufen. Ihren Gesichtsausdruck hätte ich zu gern gesehen. Die ist bestimmt schon alt zur Welt gekommen.“ Die Freundin berührte ihre Schulter, erhaschte mit leuchtenden Augen einen Blick auf den Stoff und murmelte: „Wunderschön.“

Das Schwungrad sauste im Kreis, während Frida die Nähmaschine bediente.

Auch sie lachte. Trotzdem biss der Schmerz, wenn sie an die alte Berte dachte. Das Nähen beruhigte sie. Gleichmäßig schwang das Schiffchen hin und her, sie trat das Pedal im Takt. Die monotonen Bewegungen ihres Fußes entspannten sie. Die Last fiel von ihr ab, das Lachen blieb.

„Du nähst mir bestimmt das schönste Abendkleid von allen.“ Die Freundin strahlte.

Elsis Eltern hatten den Stoff besorgt und würden Frida für ihre Nähdienste im Sommer zum Bodensee mitnehmen. Dort sollte das Luftschiff des Grafen Zeppelin seinen Jungfernflug starten.

„Dieses Schiff soll fliegen können. Kannst du dir das vorstellen?“, fragte Elsi. „Es ist aus Metall, das wiegt weit mehr als Vogelfedern. Trotzdem soll es abheben, und das ist Physik und kein Wunder.“

Frida schüttelte den Kopf. „Aber sehen will ich es, dann kann ich es vielleicht glauben.“

Und es würde einen Platz an der Sonne finden. Da geschah etwas, etwas Wunderbares, und veränderte die Welt … und nicht auf die Weise, wie der Aufbruch von Thomas nach Amerika ihre Welt verändert hatte. In der Nähe des Luftschiffs könnte sie selbst ein wenig fliegen.

„Außerdem fahre ich zum ersten Mal in einem Automobil. Ich kann die Fahrt kaum erwarten.“

„Hoffentlich bist du davon nicht enttäuscht. Ich ziehe Kutschen vor.“ Die Freundin starrte gebannt auf den Stoff. „Ich sehe dir so gerne zu. Mit deinem Talent brauchst du keine Hochschule besuchen. Die Haute Couture lernst du weder auf der höheren Töchterschule noch an der Universität. Auch dann nicht, wenn Mädchen endlich studieren dürfen.“

„So weit wird es niemals kommen. Möchtest du denn tatsächlich immer noch studieren?“, fragte Frida.

„O ja, und du irrst dich! Irgendwann dürfen wir Frauen es auch, überall, und jedes Fach wird uns offenstehen. In der Schweiz ist es schon lange gestattet. Sogar hier in Deutschland gab und gibt es bereits einige Frauen an der Universität. Leider bisher nur an wenigen Hochschulen. Aber auch das wird sich ändern. Hoffentlich erlebe ich es. Physik oder besser noch Medizin wie mein Vater. Ja, ich würde gerne Ärztin werden und …“ Elsi verstummte, und in ihre Augen schlich sich Melancholie.

Frida dachte an ihre kleinen Träume. Derartig vermessene Wünsche erlaubte sie sich nicht, das brachte Unglück. An ein Studium für Frauen – an eines für sich selbst, ob nun in der Schweiz oder sonst wo, wagte sie nicht einmal zu denken. Sie strich mit den Fingern über den Spitzenbesatz für den Kragen und sah sich die glänzenden Knöpfe an. Es würde noch viel Zeit in Anspruch nehmen, alle anzunähen.

„Wenn das nicht klappt, gehe ich zum Theater, am liebsten als Schauspielerin. Für ein solches Talent brauche ich kein Abitur. Man kann es oder eben nicht“, riss Elsi sie aus den Gedanken.

„Und du kannst es?“

„Das werde ich sehen. Du könntest mitkommen und Theaterschneiderin werden.“

Frida musterte die Freundin. „Du hast täglich eine neue Idee und mehr Mut als ich.“

Jetzt schüttelte Elsi den Kopf. „Das Medizinstudium beschäftigt mich schon länger, als du denkst, nicht erst seit ein paar Wochen. Tatsächlich hat bereits eine Frau als Gasthörerin ihr Examen in Medizin abgelegt. Ihr Abschluss wurde zwar nicht anerkannt, sie hat jedoch nicht aufgegeben und ist nach Bern gegangen. Schließlich hat sie sogar in Dublin die britische Approbation erhalten. Das macht Mut, nicht nur mir. Auch du solltest dir an ihr ein Beispiel nehmen und dich nicht gleich allem fügen! Willst du denn für alle Zeiten hier versauern?“

„Ich will keine Ärztin werden“, murmelte Frida. „Ich kann kein Blut sehen, nicht einmal das geschlachteter Tiere.“ Sie dachte an die Gänse.

„Das meine ich doch nicht. Du sollst natürlich dein Talent entfalten. Du hast ja wenigstens eins. Aber es ändert sich zurzeit so vieles. Irgendwann werden wir Frauen sogar wählen dürfen, du wirst sehen!“ Elsis Augen leuchteten, die Schwermut schien verschwunden.

„Wen soll ich denn wählen? Politik ist nichts für mich. Das ist nichts für uns Frauen.“

Elsi starrte sie sprachlos an, ihre Augen hingegen sprachen Bände. Frida wich diesem Blick aus. Was sollte sie tun? Elsi und ihre verrückten Ideen!

„Das ist eine große Verantwortung. Was erwartest du da von mir?“ Sie schüttelte sich und schämte sich dafür, dass sie Elsis Begeisterung nicht teilen konnte.

„Wir könnten die Welt verändern!“ Elsis Stimme klang fassungslos, ihre Augen blitzten. „Das Frauenwahlrecht könnte unsere bisherige Welt aus den Angeln heben und neu formen.“

Was quälten die Freundin nur für seltsame Sehnsüchte? Solcherlei Begierden würde sie nie begreifen. Sie schüttelte den Kopf. „Frauenwahlrecht, welch ein Unsinn!“

„Nun gut, wenn du schon nicht wählen willst, was ist nun mit dem Küssen? Wozu brauchst du deine gewagten Kleider denn sonst? Wenn du schon die bösen Blicke der alten Jungfern des Dorfs auf dich ziehst, sollte sich das wenigstens lohnen. Oder willst du selbst als alte Jungfer enden?“

Frida hörte den Spott und spürte, dass sie rot anlief.

„Was ist denn jetzt los? Ich habe dir nichts getan.“

Elsi boxte ihr leicht in die Seite, erhielt aber keine Antwort. „Wage doch mal etwas! Du bist so schrecklich brav. Überlege dir das mit dem Theater!“

Frida senkte den Blick. Elsi flirtete mit all ihren Verehrern, musste allerdings nicht auf ihren Ruf achten, stammte schließlich aus einer reichen und vornehmen Familie, eine höhere Tochter eben. Deshalb durfte sie reden, wie sie wollte, und sie konnte reden. Wie Nachtfalter das Kerzenlicht umschwärmten sie die jungen Männer, hörten ihr zu, lasen ihr die Wünsche von den Augen ab, ordneten sich ihr unter, verbrannten sich die Zunge an ihr und das Herz. Frida wollte nicht länger als bieder dastehen und endlich auch etwas erzählen können, in einer Zeit, in der Schiffe fliegen lernten. Sie wollte ebenfalls fliegen lernen, wenigstens ein bisschen, auf ihre Weise. Ohne Frauenwahlrecht. Womöglich war die Idee, Theaterschneiderin zu werden, doch gar nicht so falsch.

„Fertig für heute“, sagte sie, nahm den Fuß vom Pedal und stand auf.

Matthias küsste keineswegs unangenehm. Frida genoss es durchaus, schmeckte die unbekannte Zunge. In ihrer Mundhöhle wand sie sich, feucht, jedoch nicht glitschig. Sie spürte seinen Atem und roch die vertraute Haut. Er duftete angenehm nach einer Kombination aus Kernseife und Schweiß, nach Kraft und körperlicher Arbeit. Was für eine vielversprechende Mischung! Jedes Mädchen könnte sich glücklich schätzen, ihn zu bekommen. Jedes!

Sie zupfte sich einen Strohhalm aus dem Haar und schüttelte den Kopf. Die Spangen lösten sich, und ihr Haar fiel auf die Schultern.

Matthias grinste. Er sah weiß Gott gut aus mit seinem blonden Haar, nicht so goldglänzend wie ihres, sondern gelb wie das Stroh um sie herum.

Sie küssten sich auf dem Hof seiner Eltern in der Scheune, dort wussten sie sich ungestört. Matthias hatte schließlich keine Geschwister, und von den gebrechlichen Eltern drohten auch keine Überraschungsbesuche. Ja, er war ein liebenswerter, attraktiver Mann, mit dem sie gerne Zeit verbrachte.

Sie spürte zunehmendes Kribbeln, Wärme und Feuchtigkeit, ja ein unerträgliches Jucken zwischen den Beinen. Seine Beine waren kräftig und schlank, er war der schnellste Läufer im Umkreis, bislang unbesiegt. Ihm davonzulaufen war noch niemandem gelungen. Sein Blick hatte etwas Hypnotisierendes, die Hände waren hart und weich zugleich. Sie strichen an ihrem Hals entlang, er küsste ihr linkes Ohr und fuhr mit der Zungenspitze die Ohrmuschel nach. Verwirrt und benommen und zugleich hellwach begann sie, leise zu stöhnen.

Doch dann zog er seine Hose runter und machte sich mit der anderen Hand an ihrer gestärkten Bluse zu schaffen. Sie erstarrte. Zwar hatte sie ihre Brüder schon pinkeln sehen und Kühe und Pferde bei der Paarung beobachtet, trotzdem war der Anblick eines entblößten, steifen Glieds für sie neu. Wenige Sekunden sah sie ihm zu, als befände sie sich an einem anderen Ort, und hielt den Atem an. Sie hob den Blick und sah in sein schönes Gesicht. Ja, er konnte jedes Mädchen glücklich machen, nur nicht sie.

Urplötzlich löste sie sich aus der Umarmung und wehrte die fordernden Hände ab. Sie sah das Erstaunen in seinem Gesicht. Er wollte etwas sagen.

„Es tut mir leid“, kam sie ihm zuvor, rappelte sich auf und rannte aus der Scheune.

Erst draußen, im Licht der Sonne, bemerkte sie, wie verknittert die Bluse war. Rasch streifte sie die Halme ab und versuchte, den Stoff zu glätten. Matthias rief ihr etwas hinterher, sie verstand das Wort heiraten, drehte sich nicht um und rannte vom Hof, so schnell sie konnte. Gegen ihn jedoch war sie eine Schnecke, und er folgte ihr.

Sollte sie stehen bleiben und sich entschuldigen? Wofür? Sie könnte ihm erklären, was sie fühlte. Wenn sie das nur wüsste! Sie hastete weiter, ihr Abstand verringerte sich, gegen den besten Läufer des Dorfs hatte sie keine Chance. Plötzlich stolperte er und blieb zurück. Sie hörte seinen Schrei, drehte sich nicht um und eilte weiter.

Außer Atem ließ sie sich am Neckarufer ins Gras fallen. Sie brauchte eine kurze Verschnaufpause. Kurz darauf atmete sie wieder ruhiger und blickte in den Fluss. Die Bäume spiegelten sich unter ihr, und vereinzelte Blätter fielen auf sie herab. Mit einem Ahornblatt wischte sie sich die brennenden Lippen ab. Das Brennen war durchaus angenehm und betraf nicht allein die Lippen. Was war denn so schlimm gewesen? Elsi gegenüber würde sie schweigen. O ja! Dabei hatte sie alles ihretwegen inszeniert, um nicht mehr als fad und brav zu gelten. Wieso konnte sie nicht so unbeschwert flirten wie Elsi und das Kribbeln, diese völlig neue Empfindung, genießen? Doch sie wollte nun einmal nicht mit den Gefühlen anderer spielen, und Matthias liebte sie, und das schon lange. Sein verklärter Blick, wenn er sie ansah … Sie dachte an ihn, an seine unerschütterliche Kameradschaft und an die Küsse. Beschämt erinnerte sie sich auch daran, dass sie sich kurzzeitig durchaus mehr als Küsse mit seiner kunstfertigen Zunge gewünscht hatte. Sie könnte ihn lieben, aber sie wollte nicht. Denn dann würde sie ihr Leben lang hier im Ort bleiben und versauern, auf dem Nachbarhof, und das war das Entmutigendste, was sie sich im Moment vorstellen konnte.

Sie schüttelte den Kopf, die Haare flogen auf und nieder. Mit den verbliebenen Haarspangen steckte sie sie fest. Zwei Spangen fehlten. Nein, nie wieder! Nun, da sie Thomas verloren hatte, wollte sie den Wahlbruder unbedingt als Kameraden behalten. Er stand ihr näher als die verbliebenen fünf Geschwister. Ansonsten fühlte sie sich nur der Mutter verbunden und verpflichtet. Ihretwegen blieb sie noch hier. Elsi jedenfalls würde warten müssen, bis sie von ihr eine Geschichte über den ersten Kuss hörte.

Oder aber sie dachte sich ein Erlebnis aus. Matthias kam darin gewiss nicht vor.

Ikarus fliegt noch

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