Читать книгу Falsche Pillen - Sabine Karcher - Страница 6

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3. Kapitel

Blaue Fliesen. Der Sockel einer Kloschüssel. Es stank nach Erbrochenem. Dennis wollte aufspringen, aber schon bei der leichtesten Bewegung drohte sein Schädel zu explodieren.

Langsam zog er sich an der Schüssel hoch und ließ sich auf den Toilettenrand zurückfallen. Nach vorn gebeugt, schloss er die Augen, um sie sofort wieder aufzureißen, weil sich alles drehte. Zäh löste sich der Schleier und er erkannte, wo er war: in der Toilette des Seven-Up. „Wir leben nicht, wir halten durch“, stand mit schwarzem Filzstift an die Wand gekritzelt. Der Spruch spiegelte seine Verfassung erstaunlich deutlich. Die Tür zur Kabine war angelehnt. Was zum Teufel war geschehen?

Am Waschbecken spülte er sich den Mund aus, dann streckte er den Kopf unter den Wasserhahn. Kaltes Wasser lief seinen Nacken hinunter. Glasige, dunkle Augen starrten ihm aus dem Spiegel entgegen. Nur widerwillig akzeptierte er sein Gegenüber, das ihn verwirrt ansah. Aber noch mehr verwirrte ihn der Blick auf die Uhr. Mehr als vier Stunden waren vergangen, seit er mit Nicole getanzt hatte. Und danach?

Er strich sich das Haar aus dem Gesicht und verließ die Toilette.

Jack, der Club-Besitzer, stellte Stühle auf die Tische. Ohne seine Arbeit zu unterbrechen, sagte er: „Wir unterhalten uns, wenn du wieder klar bist."

Entgeistert sah Dennis ihn an, brachte ein schwaches „Hä?“ hervor. Egal. Im Moment war ihm sowieso nicht nach Reden. Draußen wurde es bereits hell. Er holte sein Handy aus der Tasche. Erst beim dritten Versuch erwischte er die Nummer der Taxizentrale. So sehr hatten seine Hände noch nie gezittert.

Das Brummen wurde immer lauter. Dennis tastete nach der Lärmquelle, um sie zum Schweigen zu bringen. Millimeter für Millimeter stemmte er sich mit den Armen hoch. Er schob die Beine über die Bettkante. Für Sekunden blitzten Erinnerungsfetzen der vergangenen Nacht auf, er glaubte, den Gestank nach Erbrochenem und kaltem Rauch zu riechen. Er ging ins Bad, um ihn loszuwerden.

„Ist dein Auto noch in der Werkstatt?", rief Wolfgang aus der Küche.

„Ich hole es heute ab." Seine Stimme glich einem heiseren Krächzen.

„Soll ich dich mit in die Stadt nehmen?“

„Ja.“

„Dann musst du dich beeilen!"

Beeilen! Ausgerechnet heute.

Wolfgang kehrte Glassplitter der Teekanne auf dem Küchenfußboden zusammen. Dabei sah er kurz hoch. „Hilf mir, statt dumm herumzustehen." Mit seinen Ende fünfzig stieß er selbst bei dieser leichten Putzaktion an die Grenze der körperlichen Belastbarkeit. Sein Gesicht ähnelte einer Glühbirne und auf seiner flachen Stirn perlte der Schweiß.

Widerwillig nahm Dennis den Spüllappen und ging in die Hocke. „Stress?"

„Ärger bei Fermesio", brummte Wolfgang und strich sich eine graue Strähne aus der Stirn.

An jedem anderen Tag hätte Dennis ihn gefragt, was los war, aber heute wollte er einfach nur seine Ruhe. Nichts reden, nicht zuhören.

„Du bist spät nach Hause gekommen.“ Wolfgang wischte sich die Hände ab und nahm sich im Stehen eine Scheibe Brot. „Oder sollte ich besser sagen, heute Morgen. Überhaupt, hast du schon mal in den Spiegel gesehen? Bei den Rändern unter deinen Augen könnte man meinen, du hättest einen Horrortrip hinter dir."

So fühlte sich Dennis in der Tat. Das konnte doch unmöglich an den paar Bier liegen. Oder lag es am Alter, dass er weniger Alkohol vertrug? Er nahm die Zeitung und schlug sie auf. Auch wenn es ihn im Moment nicht interessierte, in welcher Ecke der Welt irgendein Politiker etwas erlebt hatte, war es besser, als sich in der Verfassung mit Wolfgang auf eine Diskussion einzulassen. Nicht heute.

„Hör mal, ich rede mit dir!"

„Lass mich einfach in Ruhe! Nur falls du es vergessen haben solltest: Ich bin siebenundzwanzig.“ Der Ärger bei Fermesio musste gewaltig sein. Die Phasen, in denen sich Wolfgang als Ersatzpapi aufgespielt hatte, gehörten eigentlich längst der Vergangenheit an. Um Schadensbegrenzung bemüht und um Wolfgangs Blutdruck nicht unnötig ansteigen zu lassen, wechselte er das Thema und legte die Zeitung jetzt doch weg. „Im Herbst melde ich mich zur Diplomprüfung. Bis dahin habe ich alle Scheine."

„Wurde aber auch Zeit.“

„Danach ziehe ich aus.“

Wolfgang zuckte mit den Schultern. „Das musst du wissen. Wenn du es dir leisten kannst.“

An Tagen wie diesem hasste Dennis es, bei seinem Onkel zu leben. Schon seit längerem suchte er nach einer eigenen Wohnung. Bisher scheiterte es am Geld, denn Wolfgang war nicht bereit, die Miete zu bezahlen, solange er bei ihm wohnen konnte. Immerhin finanzierte er ihm das Studium.

„Was treibst du eigentlich so oft bei Fermesio?" Wolfgang zog den Stuhl vor und setzt sich.

Dennis zuckte zusammen. Pure Körperbeherrschung verhinderte, dass er sich verschluckte.

Wolfgang legte den Kopf schräg und schürzte die Lippen. „Du interessiert dich fürs Lager, habe ich mir sagen lassen.“

Daher wehte der Wind. Er musste sich schnell entscheiden: dumm stellen oder Interesse heucheln. Sich bloß keine Unsicherheit anmerken lassen! Warum, zum Teufel, musste Wolfgang ausgerechnet heute damit anfangen?

„Übrigens sind größere Mengen Arzneimittel gestohlen worden."

Oh, oh. Nur gut, dass er das Zeug heute noch loswurde. Nicht auszudenken, wenn Wolfgang es bei ihm fand.

„Das scheint dich nicht zu wundern." Wolfgang blühte auf. Er genoss dieses verdammte Gespräch. Was wusste er und was vermutete er nur?

Er hätte diese blöden Kartons nicht in seinem Zimmer aufbewahren sollen. Pokerspielen war noch nie seine Stärke gewesen, trotzdem versuchte er sein Bestes. „Was meinst du mit größeren Mengen?“

„Es fehlen fast sechshundert Packungen.“ Wolfgang fixierte ihn. Kein noch so schwaches Zucken würde seinen Argusaugen entgehen.

„So viel?“ Dennis musste seine Überraschung nicht einmal spielen. Für Knolle hatte er nur zweihundertfünfzig Packungen zur Seite geschafft. Konnte es sein, dass er derart den Überblick verloren hatte? „Ich dachte, ihr hättet neue Sicherheitsschleusen, durch die jeder Mitarbeiter muss.“ Zum Glück galt das nicht für ihn. Er gehörte schließlich zur Familie. „Hast du einen Verdacht?"

„Wir sind dran. Allzu viele Möglichkeiten gibt es glücklicherweise nicht.“ Wolfgang sah auf die Uhr, stand auf und räumte den Tisch ab. „Was ist jetzt, soll ich dich mitnehmen?"

Wolfgang ahnte etwas, das war klar. Typisch. Statt direkt mit der Sprache rauszurücken, nährte er den Boden für Spekulationen und verstärkte so das schlechte Gewissen seines Gegenübers. Damit hatte er ihn schon früher zur Weißglut gebracht. Es wurmte Dennis, dass das noch immer funktionierte. „Ich fahre mit dem Bus." Nach dem Gespräch war ihm die Lust auf eine gemeinsame Fahrt in die Stadt vergangen.

Dass ihm an diesem beschissenen Morgen auch noch der Bus vor der Nase davonfuhr, wunderte Dennis kaum. Wütend kickte er einen Stein vor sich her. Eigentlich konnte er jetzt gleich blaumachen. Zur Vorlesung schaffte er es ohnehin nicht mehr rechtzeitig.

Das Schicksal wollte es aber anders. Wie ein Geschenk des Himmels hielt der BMW seines Freundes neben ihm. Das Seitenfenster fuhr runter und Frank beugte sich herüber. „Hey. Willst du mit?"

Was für eine Frage? Klar wollte er das. Er öffnete die Beifahrertür, warf seine Tasche auf den Rücksitz und setzte sich auf den Beifahrersitz.

„Rausch ausgeschlafen?“ Frank strotzte nur so vor Schadenfreude. „Gestern hast du es ja gewaltig übertrieben.“

„Was habe ich übertrieben?“ Er hatte doch wirklich nicht viel getrunken.

„Na hör mal.“ Frank warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Das Zeug hatte es in sich."

„Wieso?"

„Tu nicht so unschuldig. Nicole ist zuerst total ausgeflippt und dann auf der Tanzfläche umgekippt. Das musst du doch mitbekommen haben."

Die vier Stunden. Verdammt. Es lag ihm auf der Zunge zu fragen, ob auch er ausgeflippt ist.

„Sag bloß, du erinnerst dich nicht.“ Franks Stimme übertönte locker das Radio. „Kaum hatte Jack den Notarzt gerufen, standen die Cops mit zwanzig Mann auf der Matte, und du hast dich verdrückt. Nächstes Mal warnst du uns gefälligst. Mensch, war ich froh, dass ich das Zeug noch rechtzeitig wegwerfen konnte."

„Notarzt? Oh, Mann! Ich hatte einen Blackout. Ich bin neben der Toilettenschüssel aufgewacht. Keine Ahnung, wie ich da hingekommen bin."

Frank lachte. „Das kann ich dir sagen. Jack hat dich im Keller gefunden. Hättest hören sollen, wie der getobt hat. Nachdem die Bullen weg waren, haben wir dich zur Toilette geschleift, wo du dich ausgekotzt hast."

„Die Bullen sind wegen Nicole gekommen? Da ist doch schon öfters eine umgekippt, ohne dass es einen Großeinsatz gegeben hat.“

„Wenn du mich fragst - die haben einen Tipp bekommen und hätten den Laden auch ohne Nicole auf den Kopf gestellt.“

Es schnürte ihm den Hals zu. „Sag mal, kann es sein, dass jemand Nicole und mir was untergemischt hat?“

Frank zuckte mit den Schultern. „Möglich. Du bist nicht der Einzige, der im Seven-up versucht, Geschäfte zu machen.“

Da hatte sich einer einen üblen Scherz mit ihm erlaubt, anders konnte er es sich nicht erklären.

An der Tür zum Hörsaal atmete er durch und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er suchte einen Platz in der hintersten Reihe. In seinem Kopf herrschte ein einziges Chaos. Da brauchte er nicht auch noch die Fragen und blöden Kommentare seiner Kollegen.

Frank ließ sich allerdings nicht abwimmeln und setzte sich neben ihn.

Langsam füllte sich der Hörsaal. Die Ereignisse des gestrigen Abends hatten sich bereits herumgesprochen. Die lieben Kommilitonen schienen irgendwie davon auszugehen, dass er einen Dämpfer verdient hatte. Er sollte sich jetzt wohl schuldig fühlen. Aber warum? Weil er Wolfgang betrogen hatte? Dem konnte es doch egal sein. Jeden Monat wurden Hunderte von Arzneimittelpackungen vernichtet, weil das Verfalldatum abgelaufen war.

„Geht`s dir nicht gut?" Frank sah ihn besorgt an.

Übel war ihm nicht mehr. Er lehnte sich zurück. „Wolfgang ist hinter meine Geschäfte gekommen."

„Ach du Scheiße. Waren deshalb die Cops im Seven-up?"

Der Gedanke drängte sich ihm auch auf, aber er wollte es nicht glauben. „Quatsch. Der hetzt mir doch nicht die Bullen auf den Hals.“

„Hast es wohl übertrieben?" Frank schüttelte den Kopf.

So sah es aus.

„Hi.“ Lars legte seine Tasche auf den Tisch und setzte sich neben Dennis. „Schon gehört, Nicole ist heute Nacht gestorben.“

Dennis packte Lars am Arm. „Was sagst du da?“

„Na, die Kleine, mit der du gestern rumgemacht hast.“ Er befreite sich aus Dennis’ Griff und sah ihn verwundert an.

„Wieso gestorben, woran?“, mischte sich Frank ein.

„Sagt bloß, das habt ihr noch nicht mitgekriegt? Auf was für einem Planeten lebt ihr denn?“

„Tot?“ Dennis starrte ihn ungläubig an. In seinem Kopf drehte sich alles. Das darf nicht wahr sein. Bitte lass es nicht wahr sein, flehte er.

„Sie soll sich irgendwas eingeschmissen haben. Keine Ahnung was. War wohl eine Spur zu konzentriert, oder so ein Schwein hat ihr verunreinigtes Zeug untergejubelt.“

Das war unmöglich. Nicht durch seine Pillen. Sie konnte unmöglich wegen dieser Pillen gestorben sein. Er hatte die Dinger doch auch genommen und lebte noch. Sie musste noch etwas anderes geschluckt haben, ganz bestimmt. Oder irgendjemand hatte ihnen wirklich etwas untergejubelt. Oh Mann, da konnte er von Glück reden, dass es ihn nur umgehauen hatte.

Frank stupste ihn unauffällig und sah ihn fragend an. Dennis schüttelte nur den Kopf und stand auf. Er musste raus, brauchte dringend frische Luft.

Falsche Pillen

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