Читать книгу Falsche Pillen - Sabine Karcher - Страница 8

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5. Kapitel

Lena lehnte ihr Fahrrad beim Eingang des Fitnesscenters an die Wand und verschloss es.

„Hi", grüßte Sina.

„Hi“, antwortet Lena und ging weiter in den Personalraum. Dort schlüpfte sie in eine alte Jeans und streifte sich ein schlampiges T-Shirt über. Unter der Notfallliege zog sie den Putzeimer hervor und füllte ihn am Waschbecken mit Wasser.

Auch heute hatte sie eine Weile am Bett ihrer Mutter gesessen, es aber nicht lange ausgehalten. Sie reglos daliegen zu sehen, brachte sie völlig aus dem Gleichgewicht. Das war nicht mehr ihre ewig meckernde Mutter.

Und die Sache mit Nicole und Dennis trug auch nicht gerade dazu bei, dass sie sich besser fühlte. Aber dieses Mal sollte sich Nicole zuerst melden. Zornig wrang sie den Putzlumpen aus. Schließlich war sie es gewesen, die sich so unmöglich verhalten hatte. Sie warf den Lappen zurück in den Eimer und verließ den Personalraum. Jetzt brauchte sie erst einmal einen Kaffee.

Sie setzte sich an die Theke. Den Kopf auf die Hand gestützt, rührte sie in der Tasse. Trotz Zucker schmeckte er bitter.

„Was ist denn mit dir los?" Sina zog sich einen Hocker heran.

Normalerweise plauderte sie gerne mit Sina, aber heute hatte sie keine Lust. „Nichts weiter.“ Sie schüttelte den Kopf und leerte die Tasse. Verstohlen sah sie sich nach Dennis um. Er war nicht hier. Das war auch besser so. Nach dem Fiasko gestern Abend hatte sie keine Lust, auch hier dumm angemacht zu werden.

Sie schwang sich vom Hocker und deutete auf die Kartons hinter dem Tresen. „Braucht ihr die noch oder soll ich sie raustragen?"

„Das wäre super. Ich bin im Moment allein und kann nicht weg."

Lena faltete die leeren Kartons zusammen. Sina hielt ihr die Tür auf. Auch wenn sie nicht viel wogen, waren sie doch unhandlich und drohten schon nach wenigen Metern, zwischen ihren Fingern durchzurutschen.

Ein blauer Ford raste ihr entgegen. Sie sprang zur Seite. Einige der Kartons fielen auf den Boden. „Idioten!", schrie sie den Insassen hinterher. Schimpfend sammelte sie die Kartons ein und schleppte sie weiter. Bei den Müllcontainern hinter den Palisaden entdeckte sie einen metallicblauen Golf.

Mist, Dennis war also doch da. Sie drückte die Kartons dicht an sich. Sein dämliches Grinsen und die blöden Bemerkungen ertrug sie heute nicht. Nur heute? Der Kies knirschte bei jedem Schritt unter ihren Sohlen. Sie hatte es nicht mehr eilig, zurück ins Studio zu kommen. Die unhandlichen Kartons waren jetzt das geringere Übel.

Quatsch! So weit kam es noch, dass sie sich wegen diesem Kerl beim Müll verkroch. Sie richtete sich auf und beeilte sich, ihre Last loszuwerden.

Im ersten Augenblick hätte sie fast losgelacht, als sie Dennis mit dem Rücken an die braune Tonne gelehnt sitzen sah. Doch dann bemerkte sie das Blut, das ihm aus der Nase tropfte, die aufgeplatzte Lippe und das Erbrochene neben ihm. Es gab also doch so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit. „Hast du dich mit Klitschko angelegt?" Sie stellte die Kartons ab.

Dennis sah hoch. Erst jetzt schien er sie zu bemerken. Er war kreidebleich, starrte sie fast erschrocken an. „Lass mich einfach in Ruhe und verschwinde." Er versuchte sich aufzurappeln, schaffte es aber nicht.

Nichts lieber als das“, wollte sie schon antworten, aber die Verletzlichkeit, die sich kurz in seiner Miene zeigte, hielt sie zurück. Sie kniete sich neben ihn und reichte ihm wortlos ein Taschentuch.

Widerwillig wischte er sich den Mund ab.

„Waren das die Typen mit dem Ford?"

„Das geht dich nichts an."

Oh, auch noch stolz. „Wenn du meinst." Sie stand wieder auf, verschränkte die Arme über der Brust und sah auf ihn hinab. „Die Geister, die er rief, ward er nicht mehr los - der Zauberlehrling, wenn ich nicht irre."

Da er ihre Hilfe ablehnte, sogar patzig reagierte, sollte sie ihn eigentlich sitzen lassen, verdient hätte er es.

Aber er sah wirklich erbärmlich aus. In den blonden Haaren klebte Blut. Und dann entdeckte sie die runde Wunde auf seinem Oberarm, deren Ränder verkohlt waren. Das musste schrecklich wehtun. So konnte sie ihn nicht zurücklassen. Von dem sportlichen Schönling war nur ein Wrack übrig. Sie beugte sich über ihn und zog ihn hoch. Er ließ es geschehen, sogar dass sie seinen Arm um ihre Schulter legte und ihn beim Gehen stützte.

An Sina vorbei führte sie ihn zum Personalraum. „Was ist denn mit dir passiert?“, fragte Sina.

„Später", antwortete sie.

Sie schleppte ihn zum Waschbecken, wo er sich den Mund ausspülte und sich das Gesicht wusch. Auch wenn er versuchte, den Coolen zu spielen, konnte er nicht verbergen, wie schmerzhaft die Verletzungen sein mussten. Sie blieb bei ihm stehen, da sie fürchtete, er könnte jeden Augenblick zusammenklappen.

Es musste ihm ziemlich dreckig gehen, wenn er sogar ein „Danke" herauswürgte. Da er leicht wankte, führte sie ihn zur Notfallliege, wo er sich sofort hinlegte, die Beine angewinkelt, wie ein Embryo. Sie war fast versucht, ihm übers Haar zu streichen. „Soll ich die Polizei holen? Ich kann die Kerle beschreiben."

„Untersteh dich!" Dennis erwachte unvermittelt zum Leben und setzte sich auf.

Lena brachte ihm ein Glas Wasser und hockte sich neben ihn. Seine Hand zitterte. „War wohl ein unzufriedener Kunde?" Der Spott war Balsam für ihre Seele.

„Das geht dich einen feuchten Dreck an." Er sah auf seine Brandwunde.

Da haben wir ihn wieder, unseren alten Dennis, dachte Lena. „Wenn du meinst. Jetzt hat es wenigstens mal den Richtigen erwischt.“

„Hör zu, das mit Nicole, damit habe ich nichts zu tun!“ Er richtete sich auf.

„Ach ja? Wer hat ihr denn gestern dieses Zeug angedreht?“

Er schloss die Augen, als müsse er sich darauf konzentrieren, was er als Nächstes sagte. Er schluckte, kaute auf seinen Lippen. Fast könnte er einem schon wieder leidtun.

„Ja, okay, Nicole hat ein paar Pillen von mir bekommen.“ Seine Stimme zitterte.

Saß da tatsächlich Dennis Finkel vor ihr? Der musste ja mordsmäßig was auf die Mütze gekriegt haben, wenn er so eingeschüchtert war.

Dann starrte er sie an. Wow, waren die Augen braun und groß. Bei diesem Blick konnte sie Nicole verstehen, dass sie so auf ihn abfuhr.

„Du musst mir glauben, diese Pillen sind ganz bestimmt nicht schuld daran, dass Nicole tot ist.“

„Tot? Was quatschst du da für einen Senf?“

„Du weißt es noch nicht?“, flüsterte er.

Lena stand auf, starrte ihn fassungslos an. Er musste nicht ganz dicht sein. Nein, das war unmöglich!

Dennis wich ihrem Blick aus.

„Was hast du gesagt?“ Das konnte doch bloß irgendein Missverständnis sein. Nicole war nicht tot, sie hatte sich heute nur noch nicht gemeldet.

„Nicole ist gestorben.“

Das konnte nur ein ganz übler Traum sein. „Wir reden hier von der gleichen Nicole? Nicole, meine Freundin?!“

Er nickte und presste die Lippen zusammen.

„Sag, dass das nicht stimmt!“ Sie packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn.

Er verzog das Gesicht vor Schmerz. Aber kein Ton verließ seinen Mund.

„Was hast du mit ihr gemacht? Was ist gestern passiert?!“

„Ich -.“ Er räusperte sich. Seine Worte drangen nur in Bruchstücken zu ihr vor.

Es war also wirklich wahr. Nicole war heute Nacht gestorben.

Lena sank auf die Bank, beugte sich nach vorn, legte den Kopf in die Hände und schloss die Augen. Sie hätte nicht gehen dürfen. Sie hätte Nicole nicht alleinlassen dürfen, nicht mit diesem Ungeheuer. Sie hätte Nicole vor ihm warnen müssen.

„Das waren absolut harmlose Vitamine“, riss er sie aus ihrer Starre.

Sie hob den Kopf. „Verschwinde!“

Sie wollte einfach nur noch allein sein. Was nützten Entschuldigungen und Rechtfertigungen. Nicole, ihre beste Freundin, war tot.

Irgendwo, ganz weit weg, hörte sie, wie eine Tür zuschlug.

Nie mehr würde sie mit Nicole lachen, quatschen oder einfach so über neue Männerbekanntschaften lästern. Mit kaum einem Menschen war Lena so vertraut gewesen wie mit ihr. Nicole hatte noch so viel vorgehabt. Nach dem Studium wollte sie für ein Jahr ins Ausland…

Lena fühlte sich so ausgetrocknet, keine Träne verließ ihre Augen. War es ihr Schuldgefühl, das diese Tränen unterdrückte? Warum um alles in der Welt hatte sie Nicole allein gelassen? Warum hatte sie sie nicht deutlicher gewarnt?

Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, wechselten zwischen Wut und Schmerz.

Sie musste zur Polizei! Musste melden, was gestern passiert war, was sie gesehen hatte. Wild entschlossen wechselte sie T-Shirt und Jeans, dann sagte sie Sina Bescheid, dass sie heute nicht bleiben konnte. Auf dem Weg nach draußen band sie ihr Haar zusammen.

„Lena!“ Dennis erwartet sie vor der Tür. Er warf sich seine Sporttasche über die Schulter und folgte ihr zum Fahrrad.

„Was willst du?“

„Mit dir reden.“

„Da gibt’s nichts zu reden.“ Sie kramte in ihrer Jackentasche nach dem Schlüsselbund.

„Lass es mich dir erklären. Nicole kann nicht an dem Mittel von mir gestorben sein.“

„So, und weshalb nicht?“

„Das waren doch nur Vitamine und so ein Zeug wie Maca und Tribulis Terrestris, irgendwelche Fat burner. Da war höchstens noch Koffein, Meerträubel oder Ma-Huang drin. Das gibt es im Internet überall zu kaufen, völlig legal."

„Vitamine“, sagte sie verächtlich. Nicole war tot und diesem Typen fiel keine blödere Ausrede ein. Sie richtete sich auf und funkelte ihn wütend an. „Bist du so dämlich oder tust du nur so?!"

Er schwieg, kaute auf seinen Lippen.

War er Nicoles Mörder? Zumindest schien es ihm leid zu tun. Vielleicht wusste er ja wirklich nicht, was er ihr gegeben hatte. Warum sonst hatte er es vorhin zugegeben?

Sie wischte sich über die Augen. „So, du Schlaumeier. Fallen dir noch weitere Bestandteile ein? Meerträubel und Ma-Huang sind nur andere Namen für Ephedrakraut. Das ist nicht grundlos verschreibungspflichtig.“

„Ich habe das Zeug schon x-mal genommen. Jemand muss uns etwas ins Getränk gemischt haben.“

„Was hat die Polizei dazu gesagt?“

Er sah sie verwundert an.

„Ach, die wissen noch gar nicht, dass Nicole das Zeug von dir hatte? Du kannst selbst zur Polizei gehen, schließlich bist du auch nur ein Opfer -.“ In das ‚nur‘ legte sie besonders viel Ironie. „Oder ich informiere sie.“

„Das geht nicht.“ Er schüttelte den Kopf.

„So? Und warum nicht? Du hast es doch bestimmt aus der Großhandlung deines Onkels. Weißt du, wo er es herhat?“

Dennis Augen verengten sich. „Noch mal, zum Mitschreiben: jeder kann uns das Zeug untergeschoben haben."

„Mal angenommen, du hast wirklich keine Ahnung, und es handelte sich laut Packung tatsächlich um harmlose Nahrungsergänzungsmittel, dann liegt der Schluss nahe, dass dein Onkel verunreinigte oder gefälschte Mittel vertreibt.“

„Das ist doch Schwachsinn.“ Er fuhr sich nervös durchs Haar. „Sie kann nicht durch diese Mitteln gestorben sein.“

Er glaubte offenbar selbst daran. Lenas Gehirn ratterte. Die Polizei unternahm nicht viel, das hatte sie inzwischen gemerkt. Wie wäre es, wenn sie die Sache selbst in die Hand nähme? Das war sie Nicole, aber auch ihrer Mutter schuldig. So eine Gelegenheit bot sich bestimmt nicht so schnell wieder. „Arbeitest du eigentlich bei deinem Onkel?“

„Nein, ich studiere BWL. Was soll das? Wird das jetzt zum Verhör?“, fragte er genervt.

Was, wenn er diese Geschäfte gemeinsam mit seinem Onkel betrieb? Das Risiko musste sie eingehen. „Vielleicht war das Mittel gefälscht und es war nicht das drin, was drauf stand.“ Sie machte eine Pause, ließ die Feststellung erst einmal wirken, ehe sie fortfuhr: „Auch wenn du es nicht wahrhaben willst - gefälschte Arzneimittel sind längst bei uns angekommen. Internetshops kaufen die Medikamente, wo sie am billigsten sind. Wenn es sein muss auch aus Afrika, China oder Indien. Und schon sind die Fälschungen bei uns." Sie starrte auf ihre Hände. Dennis sollte nicht sehen, wie viel Kraft es sie kostete, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. „In Deutschland sind mehr als dreißig Menschen zum Teil lebensbedrohlich erkrankt, weil sie ein verunreinigtes Blutdruckmittel eingenommen haben. Und alle haben das Mittel übers Internet bezogen.“

„Da hast du es. Mein Onkel verkauft nur an Apotheken. Die Leute sind doch selbst schuld, wenn sie Arzneimittel übers Internet beziehen, nur um ein paar Euro zu sparen.“

Das hätte sie sich denken können. Immer waren die anderen schuld.

Er verdrehte sichtlich genervt die Augen. „Gerät bei dir jeder, der mit Arzneimitteln handelt, unter Generalverdacht?“

„Kennst du alle Tochterfirmen deines Onkels?“

„Ich habe mit seinen Geschäften nichts zu tun. Und warum ermittelt die Polizei nicht gegen ihn, wenn selbst du etwas davon weißt?“

Genau das fragte sie sich auch.

„Überhaupt, wenn an der Geschichte was dran wäre, hätte man längst in der Presse darüber gelesen“, riss er sie aus ihren Gedanken.

„Was ist mit diesem Unfall neulich? Fahrer eurer Firma haben Fahrerflucht begangen. Es hieß, sie hätten gefälschte Arzneimittel über die Schweizer Grenze gebracht. Glaubst du wirklich, dein Onkel hat nichts damit zu tun?"

„Was für ein Unfall?" Er stellte seine Sporttasche ab.

„Du solltest öfters Zeitung lesen, statt dein Antlitz im Spiegel zu betrachten. Ein LKW der Firma Fermesio ist beim Überholen mit einem Mercedes zusammengestoßen und die Fahrer haben sich aus dem Staub gemacht."

„Das heißt noch lange nicht, dass sie gefälschte Mittel für Fermesio transportiert haben. Meinst du nicht, es ist Sache der Polizei, das zu ermitteln?"

„Vermutlich werden sie auch bei deinem Onkel Nachforschungen anstellen. Aber die Arzneimittelfälschungen und der Internethandel sind ein Fass ohne Boden. Bis die Polizei von der Existenz solcher Firmen erfährt, haben die längst ihre Adressen gewechselt oder versenden das Zeug aus einem anderen Land.“

„Das sind doch alles bloß Spekulationen.“

„Von wegen! Oder willst du behaupten, es ist auch bloß Spekulation, dass du krumme Geschäfte machst? Ich hab gesehen, wie du Nicole das Zeug angedreht hast. Was glaubst du, was die Polizei dazu sagen wird? Ich denke, nach einem Todesfall reagieren sie schneller."

„Und was hast du für Beweise?“ Wie ein trotziges Kind kaute er an seinen Fingerknöcheln. „Du hast gesehen, wie ich sie ihr angeboten habe. Hast du gesehen, wie sie sie genommen hat?"

Beweise. „Wenn du tatsächlich unschuldig bist, liegt es in deinem eigenen Interesse, herauszufinden, was dahinter steckt."

Dennis zeigte ihr den Vogel. „Jetzt bist du völlig übergeschnappt. Wie stellst du dir das vor?"

„Lass dir etwas einfallen."

Dennis runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe keine Ahnung, woher mein Onkel die Arzneimittel bezieht. Bisher dachte ich, von irgendwelchen Pharmafirmen."

Entweder war er ein guter Schauspieler oder er meinte es ehrlich. „Und wie erklärst du die Fahrerflucht?"

„Die werden auf eigene Kasse gewirtschaftet haben. Klar, dass die nicht erwischt werden wollten. Im Grunde genommen ist mein Onkel der Betrogene."

„Mir kommen gleich die Tränen. Wenn dem so ist, umso besser. Erkundige dich, was es mit der Lieferung auf sich hatte und überprüfe die Lieferanten."

Dennis fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Trotzdem fürchtete sie, dass ihn diese Fälschungen nicht die Bohne interessierten.

„Ich werde es mir überlegen“, murmelte er nach schier endlosem Schweigen. „Im Gegenzug gehst du nicht zur Polizei.“

Na, das hätte sie sich denken können, dass es darauf rauslief. Aber besser als nichts.

Falsche Pillen

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