Читать книгу Der Zorn des Seth - Sabine Wassermann - Страница 10

2.

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Atons Glanz stand in sauberen Zeichen über dem Eingang der Schenke. Eine Tür gab es nicht. Der festgetretene Lehmboden war sauber gefegt, auf den gemauerten Tischen gab es weder Fettspritzer noch Bierflecken. Der Wirt hantierte mit einem Strohbesen und musterte den Neuankömmling nur flüchtig. So kurz vor Sonnenuntergang tranken die Leute für gewöhnlich nur ein Bier. Hory legte seinen Packen auf dem Boden ab und fragte nach einer Unterkunft.

»Du siehst nicht aus, als könntest du einen Schlafplatz bezahlen«, war die brummige Antwort.

»Eben deshalb würde ich ja eine billigere Schenke vorziehen, mit brüchigen Ziegelmauern und schmierigem Boden, aber so etwas scheint es in dieser Stadt nicht zu geben.«

Der Wirt streckte den Rücken und stützte sich auf den Besen. »Im Delta gibt es nur stinkige Bierhäuser, was? Hast wohl Heimweh? Eine Kammer kostet vier Hen Gerste für die Nacht. Oder zwei Schati in Kupfer.«

Hory seufzte. Dies war die dritte Schenke, die er betrat. Er hatte angenommen, hier im Viertel der Händler sei das Leben billiger, aber er hatte sich getäuscht. Eine saubere Schlafmatte in einem Haus würde er sich auf diese Weise nur ein paar Tage leisten können. Ein Teil seines Kupfers hatte er für jene Beimischungen eingetauscht, die er brauchte, um die Warze am Fuß der Prinzessin zu beseitigen. Ganz zu schweigen von dem sauberen Schurz, den er nicht besaß und sich wohl auch nicht mehr beschaffen konnte.

Der Wirt machte eine gewichtige Geste zum Ausgang hin. »Diese Stadt ist nicht wie andere. Hier gibt es keine Straßen, in denen der Unrat an den Häuserwänden liegt und sich ehrbare Leute nach Sonnenuntergang nicht mehr hinauswagen. Zumal der südliche Harem ganz in der Nähe ist; manchmal muss ich eine der hochwohlgeborenen Damen des Einen bedienen. Hier ist das Leben teuer, Mann. Die ganze Welt kommt nach Achet-Aton, um das Wunder zu bestaunen, das der Eine geschaffen hat. Eine Lampe für die Nacht kostet ein Schati zusätzlich.«

Hory gab ihm die Kupferstücke und ließ sich das Zimmer zeigen. Es war winzig, bis auf die Schlafmatte leer und besaß ein kleines Fenster. Daheim in Auaris hatte er schlechter gehaust. Er öffnete den Beutel, ließ seine Habseligkeiten auf den Boden gleiten und zählte sein verbliebenes Edelmetall. Er erinnerte sich an den Tag, an dem sein Vater es ihm gegeben hatte – mit Widerwillen, denn es hatte Harmose nicht gefallen, dass sein einziger Sohn irgendwohin aufbrach, weit weg von Auaris, weit weg vom Delta. Allerdings hatte er einsehen müssen, dass Horys Ausbildung keine Früchte tragen würde, wenn er blieb. Harmose hatte als einfacher Priester im Roten Tempel gedient, doch seit die Anbetung des Seth mit der Todesstrafe geahndet wurde, musste er sich als Arbeiter verdingen, und niemand wollte einen Arzt zu Rate ziehen, der der Sohn eines heruntergekommenen Anhängers der alten, falschen Götter war.

Eine kleine Steinschale mit Mörser war eines der wenigen Dinge, die Hory nach seiner Lehrzeit bei dem Leibarzt des Gauherrn von Auaris geblieben waren. Er zerstampfte die teure Krokodilsgalle und das in Terpentin getränkte Brot zu einer Paste. Zum Harem Maru-Aton würde er es nicht weit haben – er konnte die Mauer mit dem vorspringenden Kranz aus blauen Cheker-Zeichen vom Fenster aus sehen. Außerdem gingen wohlhabende und adlige Personen nicht mit der Sonne ins Bett. Er hatte also Zeit. Vermutlich brachte die Prinzessin Merit-Aton jeden ihrer Abende mit ausgedehnten Geselligkeiten zu. Der Gedanke, dort schäbig wie ein Bauer aufzutauchen, versetzte ihm einen Stich. Er setzte sich unter das Fenster, nahm seine Armreife und begann sie mit einem Zipfel seines Schurzes aufzupolieren.

Ein gedämpfter Schmerzenslaut unterhalb des Fensters riss ihn aus seiner Beschäftigung hoch. Die Sonnenscheibe war inzwischen verschluckt worden. Mitten auf der Straße schlugen zwei Medjas mit Holzknüppeln auf die Fußsohlen einer Frau. Sie kniete auf dem gepflasterten Boden und kämpfte sichtlich darum, nicht zu schreien. Hory überlegte nicht lange und hastete aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Der Schankraum war noch immer fast leer. Nur fünf Schritte von den Medjas entfernt betrat er die dämmrige und menschenleere Straße. Sofort wurde er von den Männern bemerkt, die mit zitternden Armen innehielten. Die Züchtigung hatte ihnen offensichtlich Spaß bereitet.

»Was willst du?«, knurrte einer der Männer. »Sieh zu, dass du weiterkommst.«

»Ich ziehe es vor, zu warten.« Hory legte ruhig die Hände auf den Rücken. »Ich bin Arzt. Da ihr zweifellos nicht den Auftrag habt, diese Frau zu Tode zu prügeln, werde ich mich um sie kümmern, sobald ihr fertig seid.«

Die Männer lachten verächtlich auf und senkten die Knüppel. »Wir sind bereits fertig, du Menschenfreund. Es sei denn, wir beschäftigen uns noch anderweitig mit ihr. Du bist wohl neu hier, was?« Die Frau schrie empört auf, als sie ihr das Kleid übers Gesäß zogen. Hory glaubte schon, sie wollten sie allen Ernstes hier vor seinen Augen schänden, aber sie schlugen nur auf die prächtige Kehrseite und trotteten lachend davon.

»Mögen eure Gebeine in der Wüste verrotten!«, schrie die Frau ihnen hinterher. Stöhnend mühte sie sich, auf die Füße zu kommen. Sie sank zurück auf ihr Gesäß und blickte misstrauisch zu Hory hoch. »Du wolltest mir tatsächlich helfen? Ich hab mich dabei erwischen lassen, wie ich zu einem anderen Gott als der Sonne betete.«

Hory trat zu ihr. »Ist das dein Ernst? Ich weiß, dass Priester für die alten Götter nicht mehr tätig sein dürfen, aber ein einfaches Gebet zieht Prügel nach sich?«

»So ist es, du Ahnungsloser«, erwiderte sie, jedoch ohne die Verächtlichkeit, die er heute zur Genüge über sich hatte ergehen lassen. »Du bist aus dem Delta, nicht wahr? Sie haben mich heute Mittag erwischt, aber da Aton Gewalt und Blutvergießen verabscheut, werden solche Dinge erledigt, wenn die Sonne nicht mehr scheint. Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass sie sich so beeilen würden, mich hier aufzusuchen. Ich hätte mich verstecken sollen. Wobei – dann wären sie halt morgen Abend gekommen.«

Hory kniete neben ihr und betrachtete die Wunden, so gut es in der einsetzenden Düsternis möglich war. »Darin ist schon Staub. Lass mich das behandeln.«

Sie lächelte. »Du bist wirklich ein Menschenfreund. Dort …«, sie deutete auf das kleinste Haus in der Häuserreihe, schräg gegenüber der Schenke, »dort wohne ich. Das Haus gehört meinem Bruder. Er ist Händler.«

Hory hob sie auf die Arme und trug sie über die Straße.

Djui lag auf dem warmen Ziegelboden und streckte die schmerzenden Füße von sich. »Aton, die Sonne, ist kaum besser als Seth, der Rote Herr der Wüste. Aton hasst Gewalt. Das zumindest behauptet sein Sohn, der Pharao. Er, der Eine, der Göttliche, leugnet die Dunkelheit. Nur das Licht ist Wahrheit. Ich verstehe diese Zeiten nicht. Wenn ich in den Nachthimmel blicke, ist dort nichts als Finsternis. Mag sein, dass man die Finsternis hasst und fürchtet, aber wie kann man sie leugnen?«

Hory schüttelte den Kopf. Er verstand es ebenso wenig. Er hatte ihre Füße mit Wein gesäubert, mit einer Wundsalbe eingerieben und dann verbunden. Jetzt hockte er in einem von zwei Zimmern des Obergeschosses auf einer Bastmatte, mit einer fremden Frau neben sich. Inzwischen wusste er, dass Djui und ihr Bruder vor drei Jahren in der Stadt des Lichts angekommen waren. Djuis Bruder, erzählte sie, handelte mit allem, mehr schlecht als recht. Im Erdgeschoss lagerten Güter aller Art; täglich wanderte er durch die Marktstraßen und beglückte mit Schminksachen und Tüchern die Damen und vornehmen Herren, anderntags ergatterte er vielleicht eine billige Wagenladung voll Gemüse und stellte sich auf den Gemüsemarkt.

»Ich helfe ihm, so gut ich kann«, sagte sie träge, »und tue alles Mögliche, um uns ein Einkommen zu sichern: Ich gehe auf den Markt und schneide den Leuten die Haare. Ich behandle kleine Wunden und Wehwehchen. Ich erstelle Horoskope. Von allem kann ich ein bisschen und nichts richtig. Einen Mann finde ich nicht mehr. Also bleibe ich bei Antef. «

Wahrscheinlich hatte sie recht. Sie mochte um die fünfundzwanzig Jahre alt sein. In diesem Alter trugen andere Frauen schon an ihrem vierten, fünften Kind. Da nichts hier in diesem Haus auf Kinder hindeutete, nahm er an, dass sie unfruchtbar war.

Sie streckte sich, um an den Bierkrug zu gelangen, der neben Horys Füßen auf dem Boden stand. »Du siehst gut aus«, meinte sie und hob den Krug an die Lippen. »Nicht so verweichlicht wie die feinen Herren mit ihren Bäuchen. Für einen Arzt bist du recht kräftig.«

»Ich hab auf den Feldern geschuftet wie ein Bauer.«

»Aber ich habe doch meine Füße nicht einem Anfänger anvertraut?«

»Nein.«

Sie wischte sich über den Mund und lächelte ihn einladend an. »Ich schulde dir noch etwas.«

»Nein, das tust du nicht«, sagte er und stand auf. So reizvoll sie war; Merits Bild stand ihm unerschütterlich vor Augen. »Ich muss gehen – in den Palast. Dort habe ich noch eine Verabredung.«

Djui setzte sich auf. »Du bist ein Bauer, und zwar ein ahnungsloser«, sagte sie und lachte auf. Wenigstens klang sie nicht verärgert.

»Ich bin Arzt.«

»Jeder, der aus dem Delta kommt, ist auf die eine oder andere Art ein Bauer oder ein Fischer. Du gehörst nicht hierher. Achet-Aton lockt mit ihrem Glanz die Menschen an wie eine Lampe die Fliegen, aber wenn du dich in die Nähe der Herrschenden begibst, könntest du dich verbrennen. Gib mir den Papyrus aus der Truhe dort.«

Hory öffnete die Truhe und entnahm einen alten, brüchigen Papyrus, den einzigen, der darin lag. Djui rutschte auf die Knie und griff nach der Lampe auf dem Tischchen, um den Docht höherzudrehen. Er gab ihr den Papyrus, den sie vorsichtig entrollte, wobei sie sich bemühte, ihn nicht mit den Bierflecken auf ihrem Kleid in Berührung kommen zu lassen. »Das ist eine Abschrift des Von-Ewigkeit-zu-Ewigkeit-Kalenders: Für jeden Tag des Jahres gibt es eine Anweisung, die man tunlichst befolgen sollte.« Da Hory zweifelnd brummte, hob sie warnend eine Braue: »Die alten Götter haben darin die Wahrheit gesprochen, und sie ist immer noch gültig. Aber ich kann nicht lesen. Mein Bruder tut das sonst für mich.«

Er nahm die alte Schriftrolle entgegen. Die Tinte war verblasst, sodass er Mühe hatte, sie zu entziffern. »Da steht: ›An diesem Tag siegt Seth und zerstückelt die Leiche des Osiris. Wer heute geboren wird, wird nicht leben. Sieh keinem Tanz zu, und höre keiner Musik zu. Iss keinen Fisch. Tue nichts‹.«

Djui nickte, als hätte sie genau das erwartet. Sie nahm den Papyrus an sich und rollte ihn zusammen. »Leider bin ich manchmal etwas nachlässig und befrage den Kalender nicht rechtzeitig nach den guten und schlechten Tagen«, murmelte sie. »Und heute ist ein ausgesprochen schlechter Tag gewesen. Meine Füße haben es zu spüren bekommen.«

»Ich habe heute schon allerhand getan, also käme es auf einen Besuch im Harem wohl nicht mehr an.« Hory zupfte am Saum seines Schurzes. »Mein gegenwärtiges Problem ist, dass ich mich in diesem fadenscheinigen Schurz im Harem blicken lassen muss.«

»Du glaubst mir nicht. Mit wem triffst du dich denn dort, wenn ich fragen darf?«

Hory erzählte ihr, wie er die königliche Familie am Erscheinungsfenster gesehen hatte, und von seiner Begegnung mit der Prinzessin Merit-Aton. Djui schüttelte mehrmals den Kopf; ihre Miene nahm einen widerwilligen Ausdruck an.

»Hast du denn nicht gesehen, wie sie aussehen? Ihre seltsamen Körper?« Ihre Hand deutete den verlängerten Hinterkopf an, wie er ihm auch bei der Prinzessin Merit-Aton aufgefallen war. »Das sind keine Menschen wie du und ich. Es sind Abkömmlinge der Sonne. Echnaton ist der Sohn des Sonnengottes und selbst ein Gott. Er könnte dich verbrennen.«

»Sicher sind sie das. Aber ich finde deine Bedenken dann doch übertrieben.« Bereits heute war er diesen Sonnenmenschen unangenehm aufgefallen, und trotzdem war nichts an ihm versengt.

»Ich habe auf den Märkten schon allerlei merkwürdige Dinge aufgeschnappt, die man sich hinter vorgehaltener Hand erzählt. Etwas Böses ist im Palast, etwas Dämonisches. Echnaton hat es eigenhändig herausgefordert, und nun beschwört er seinen sonnigen Gott, weil er sich fürchtet.«

»Erst redest du von der Sonne, nun von Dämonen. Was hat er denn getan, dass er, der der Gott ist, sich fürchten sollte?«

Sie schob sich dicht an ihn heran. Ihre Stimme klang verschwörerisch. »Osiris Amunhotep, sein Vater, lag noch im Sterben, damals vor vierzehn Jahren, als er Pharao wurde. Das erste, was er tat, war, seine Mutter zu sich zu holen. Niemand weiß, ob sie freiwillig zu ihm ging, aber sie tat es.«

Nur langsam ging ihm auf, wovon sie sprach. Er wusste von der Mutter des Pharao nur, dass sie Teje hieß und in den Zeiten von Osiris Amunhotep so mächtig wie ihr Gemahl gewesen war.

»Echnaton nannte sie seine Große Königliche Gemahlin«, fuhr Djui leise fort, »und das war sie nicht nur dem Titel nach.«

Hory dachte an den lächelnden Mann mit der eingefallenen Brust und den breiten Schenkeln, der sich auf der Brücke in den Beifallsbekundungen seiner Höflinge gesonnt hatte. Er erinnerte sich an die Königin Nofretete-nefer-neferu-Aton, diese schöne und stolze Frau, an die eitle und betörende Merit-Aton und die anderen Prinzessinnen: Eine Familie im Licht der Sonne, entrückt von den Sorgen und Ängsten einfacher Menschen. Allerdings war der gequälte Körper des schwangeren Mädchens ein Misston in der göttlichen Harmonie gewesen.

»Willst du sagen, Djui, dass sich die Maat von der Sonnenfamilie abgewandt hat, als sie mitansehen musste, dass Echnaton es mit seiner eigenen Mutter trieb?«

»Die Maat, die Verkörperung der Weltordnung und Gerechtigkeit? Sie ist eine alte Göttin, sie hat hier keine Macht. Aber Teje hat sie nicht vergessen, denke ich, denn sie folgte ihrem Sohn nicht, als der hierher kam, um zum Ruhm der Sonne diese Stadt zu bauen. Man sagt, er habe sie gebeten, bekniet und dann gezwungen, die alte Hauptstadt zu verlassen, um im Kreis der Sonnenfamilie hier im Palast zu wohnen. Im Haus der Freude hielt sie es jedoch nur einige Monate aus. Vor einem Jahr verließ sie die Familie wieder, und niemand weiß, wo sie jetzt ist. Manche sagen, sie sei tot, andere behaupten, sie sei noch immer irgendwo hier in Achet-Aton.« Djui neigte sich vor, sodass ihr Gesicht nicht mehr von der Lampe beleuchtet wurde, und ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ich sage dir, sie hat diese dämonische Aura gespürt. Sie wusste, dass ihre Blutschande das Böse hervorgerufen hat, das jetzt im Palast umgeht. Geh nicht dorthin.«

Hory schwieg, dann machte er eine abwertende Handbewegung. »Das sind doch nur Gerüchte. Auf den Märkten wird viel Unsinn geredet, das ist daheim in Auaris nicht anders. Diese Leute sind Götter, und sie sehen anders aus, darum kann man sie nicht verstehen. Deine Geschichte klingt absonderlich.« Er versuchte zu lachen, aber es gelang ihm nicht so recht. »Ich gehe in den Harem und gebe der Prinzessin eine Arznei, das ist alles.«

»Das ist alles«, schnaubte Djui. »Sie hat dir den Kopf verdreht, kaum dass du sie kennengelernt hast. Kennst du dieses Sprichwort? ›Ein kluger Mann begreift mit einem Wort, aber der Dummkopf lernt nur, indem er eine Topfscherbe an die andere klebt.‹«

Natürlich kannte Hory es. Es gehörte zu den Sprichwörtern, die sein Lehrer, der Arzt des Gauherrn von Chenti-iabeti, noch vor Jahren gern aus seinem Fundus geholt hatte, um den Tanz des Rohrstocks auf dem Rücken seines Schülers zu begleiten, wo ja bekanntlich das Ohr eines Jungen saß.

»Ich fürchte, du bist ein solcher Dummkopf«, sagte sie. »Na schön, lass uns nach unten gehen und nachsehen. Mein Bruder hat eine Truhe voller ungetragener Kleidungsstücke erworben. So viel ich weiß, ist ein Schurz aus Königsleinen darunter; so etwas Feines besitzen nur Männer von hohem Rang. Bitte hilf mir auf.«

Er legte einen Arm um ihre Mitte, um sie zu stützen. Als sie neben ihm stand, legte sie zwei Finger an seine Wange und sah ihn an.

»Sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, Hory. Der Palast ist kein Ort, wo sich Menschen wie du und ich aufhalten sollten. Das Leben dort ist bloß Blendwerk.«

Blendwerk? Hatte er dieses Wort heute nicht schon einmal gehört?

»Sieh keinem Tanz zu und achte nicht auf Musik. Halte einfach die Hände still und tu nichts, Hory, hörst du?«

Er küsste sie beschwichtigend auf die Wange; in seinen Gedanken war er längst irgendwo auf dem Palastgelände. Es war spät, er musste sich beeilen. Es ärgerte ihn, dass Djuis Worte eine Spur hinterlassen hatten: als einen unangenehmen Klumpen in seinem Magen.

»Wie ist dein Name?«, kam die Frage des Türhüters scharf und abweisend. Es war nicht leicht gewesen, in der Dunkelheit den Eingang zum Harem zu finden. Hory hatte einen verwinkelten, künstlich angelegten See umgehen müssen und stand jetzt vor einer Tür, die vermutlich nur ein Seiteneingang war.

»Hory. Hory aus Auaris.«

Der Türhüter warf einen Blick auf sein Kalksteintäfelchen und nickte. »Dein Name steht auf der Liste. Du darfst eintreten. Folge einfach dem gepflasterten Weg. Wenn du die Abendgesellschaft siehst, bleib stehen und warte, bis ein Diener sich deiner annimmt. Wenn du der Anweisung nicht gehorchst, gibt es empfindliche Strafen. Für neugierige Leute haben wir hier nichts übrig.«

Mit seiner Schale in der Hand ging Hory durch das kleine Tor in der Mauer. Zunächst gab es rechts und links des sorgfältig gepflasterten Weges nur abgetretenes Gras, und die Ziegelmauern der Haremsanlage waren schmucklos. Aber sobald er durch ein weiteres Tor getreten war, glaubte er sich in eine andere Welt versetzt. Die überall aufgepflanzten Fackeln beleuchteten einen Park. Vielfältige Pflanzen in sattem Grün umstanden viereckige Teiche, in denen weiße Lotosblüten schwammen; Blumenbeete verströmten betäubenden Duft; zwischen den Hennabüschen streiften Katzen umher, und in den Tamariskenzweigen hockten Affen.

Das Haremsgebäude schien eine verschachtelte Angelegenheit zu sein. Kleinere Wege führten in dunkle Ecken. Hory musterte auf seinem Weg die Malereien an den Außenwänden und die Statuen Echnatons und Nofretetes, die allgegenwärtig waren. Nach einer weiteren Biegung fand er sich vor einem ausgedehnten Platz wieder, wo junge Leute auf Matten saßen und an den steinernen Umfassungen von Teichen lagerten. Er kam sich verloren vor, denn es waren sicher zweihundert Männer und Frauen, die an diesem Abendessen teilnahmen. Sofort wurde er von einem Diener abgefangen, der ihn anwies, sich abseits einen Platz zu suchen. Kaum jemand hob den Kopf, um den Neuankömmling zu begutachten. Überall lagen Blumen verstreut, schwammen auf dem klaren Wasser der Teiche und schwebten auf den Köpfen der Menschen. Nackte Musikantinnen entlockten ihre Sistren und Schulterharfen betörende Melodien. Höre keine Musik, dachte er, sieh dir keinen Tanz an … Unwillkürlich rann ihm ein Schauer über den Rücken.

Sei nicht albern, dachte er, nichts hier wirkt bedrohlich.

Eine Dienerin bot ihm Früchte an. Ihn plagte Hunger, denn er hatte sich nichts zu essen kaufen können. Immerhin besaß er jetzt einen Schurz aus Königsleinen. Auf seine Perücke und die Sandalen hatte er verzichtet, denn sie waren alles andere als standesgemäß. Wenn er Glück hatte, vermutete man in ihm den Sohn eines Gelehrten, der sich aus Schmuck nichts machte.

Jemand schlug ihm auf die Schulter. Er fuhr herum. Ein Mann winkte ihn ungeduldig aus dem Weg. Zwei Frauen stützten ein Mädchen. Es war jene schwangere Prinzessin, in ein weites Gewand gehüllt, die ihre Hände unterhalb des Bauches zu falten versuchte, es aber nicht konnte. Hory wollte in die Knie gehen, aber dann merkte er, dass er gar nicht beachtet wurde. Die Dienerinnen führten die Prinzessin – er hörte, dass sie sie Maket-Aton nannten – an den Rand eines Teiches, lagerten sie auf Kissen und benetzten ihr schweißnasses Gesicht. Die großen, angstgeweiteten Augen schienen in weite Fernen zu blicken.

Er schätzte ab, ob sie die Geburt überleben konnte – er musste es verneinen. Sie war zu jung. Was war das für ein Mensch, der ein Kind schwängerte? Und warum hatte Echnaton seine Tochter nicht schützen können, da er doch die Macht der Sonne besaß?

»Hory!«

Ein Mädchen hatte ihn gerufen: jenes, das bei Merit-Aton in der Sänfte gesessen hatte. Sie hockte an einem Teich; ihre Beine baumelten im Wasser. Er ging zu ihr und kniete vor ihr im Gras.

»Du heißt doch so, nicht wahr?«, fragte sie und warf keck ihre mit goldenen Bändern umwickelte Kindheitslocke zurück, in der eine emaillierte Lotosblüte steckte. »Weißt du noch meinen Namen? Ich bin Beket-Aton. Du wartest sicher auf meine Schwester. Sie kommt gleich.«

Er wartete, dass Beket-Aton ihm erlaubte, sich wieder zu erheben. Sie tat es nicht. Flach auf dem Gras liegend sah er nichts weiter als ihre nackten Beine.

»Du hast noch keinen Salbkegel auf dem Kopf«, sagte sie mit aufdringlicher Fröhlichkeit, »und Parfüm hast du auch nicht aufgelegt. Du bist bettelarm, stimmt’s? Dieser Schurz gehört dir bestimmt nicht. Eigentlich hast du hier überhaupt nichts zu suchen.«

»Die Prinzessin hat mich eingeladen«, erinnerte er sie. Allmählich ärgerte es ihn, dass er sich von diesem jungen Ding gängeln lassen musste. Er setzte sich auf, und sie runzelte die Stirn ob dieser Frechheit, aber plötzlich erhellte sich ihr Gesicht.

»Sieh mal, da kommt der Prinz«, rief sie und deutete auf eine große Flügeltür, die soeben aufschwang. Ein Herold schritt gemessen heraus und stieß mit seinem Stab auf den Boden. Mit lauter Stimme kündigte er das Erscheinen des Kronprinzen Semenchka-Re-djeser-cheperu an. Die Gäste unterbrachen ihre Gespräche und gingen auf die Knie, um dem Prinzen zu huldigen. Semenchka ging mit weitausholenden Schritten zu einem erhöhten Podest, das hinter dem größten Becken errichtet war. Dort ließ er sich auf einem Korbstuhl nieder, streckte die Beine von sich und machte trotz der Gesellschaft der Hofdamen, die sich augenblicklich um ihn scharten, ein finsteres Gesicht.

»Es war der Kronprinz, den ich mit der Goldkette beworfen habe«, murmelte Hory halblaut, während er kniete. »Er scheint schlechter Laune zu sein.«

Beket-Aton prustete in die Hand. »Er ist immer schlecht gelaunt. Außer bei Merit.«

»Er ist der Kronprinz, und Merit-Aton … Wird er sie heiraten?« Und wenn schon, dachte er, was geht es mich an? Merit-Aton gehörte zu einer anderen, göttlichen Welt. Sie war die Tochter des Pharao.

Sie zuckte die schmalen Schultern. »Natürlich. Er ist ein hübscher Mann und der zukünftige Pharao. Aber er ist dumm und gehässig. Ich glaube nicht, dass Merit viel Spaß mit ihm haben wird.«

Hory fragte sich, was in Atons Namen an Semenchkas plumpen Schenkeln und dem hochwangigen, schmalen Gesicht mit den übermäßig vollen Lippen hübsch war. Der Kronprinz ähnelte Echnaton auf verblüffende Weise, lediglich sein Kinn war nicht ganz so ausgeprägt. Hory erinnerte sich daran, einmal gehört zu haben, die beiden seien Brüder.

»Sein Körper ist eine Huldigung an Aton!«, rief sie halblaut. Offenbar hatte er allzu deutlich die Stirn gerunzelt. »Jemand, der so aussieht wie du, du mit deinem seltsamen Haar, betet bestimmt die alten, falschen Götter an. Jedenfalls solltest du dich vor Semenchka in Acht nehmen. Er ist dauernd schlechter Laune. Und er fährt bei den unwichtigsten Anlässen aus der Haut.«

Zweifellos war seine Anwesenheit hier ein guter Anlass für den Zorn eines ohnehin ständig wütenden Prinzen. Das Mädchen stieß ihn an.

»Sieh, da ist Merit!«

Der Herold rief Merit-Atons Namen, und wieder verneigten sich die jungen Leute. Merit trug diesmal keine Perücke; ihr dichtes Haar wallte um ihre Schultern. Ihr bodenlanges Kleid mit den weiten Ärmeln war unter den Achseln geknotet und ließ die Brüste frei. Hory senkte seinen Blick.

»Merit ist die älteste Tochter des Göttlichen«, erklärte Beket-Aton. Er konnte es noch immer kaum glauben und dachte, dass es das Beste wäre, sich höflich und schleunigst zu verabschieden. Er gehörte nicht hierher. Aber zuvor musste er diese dumme Steinschale loswerden.

Ein zweiter Korbstuhl wurde auf das große Podest gestellt, Merit setzte sich an die Seite des Kronprinzen und schlug gewandt die Beine übereinander. Die Hofdamen beeilten sich, sie zu bedienen. Hory enttäuschte es ein wenig, dass sie so gar keine Anstalten machte, nach ihm Ausschau zu halten. Er stand auf, prüfte den Sitz seines Schurzes und schlängelte sich durch die Reihen auf das Podest zu. Zunächst beachteten ihn die Frauen nicht, die die Stufen des Podestes belagerten, doch als Merit plötzlich zu ihm herüberblickte, machten sie ihm den Weg frei. Trotz des Lärms glaubte er seinen Herzschlag zu hören, als er sich hinkniete. Die Prinzessin runzelte die Stirn und lächelte dann.

»Das ist ja der Arzt aus der Stadt!« Sie richtete sich auf, und ihre makellosen, festen Brüste hoben sich. »Hast du dein Wundermittel dabei?«

»Ja, Hoheit.« Er zeigte ihr die Schale. Merit beugte sich herunter, um sie in Empfang zu nehmen.

»Das stinkt ja entsetzlich!«, rief sie und streckte die Schale mit beiden Händen von sich. »Ob ich das benutze, muss ich mir erst noch überlegen. O Gott, tragt das weg.« Mit angeekelt verzogenen Lippen gab sie die Schale einer Dienerin, die sie eilig forttrug. »Na ja, du hattest gesagt, woraus das Zeug besteht. Möchtest du denn keinen Salbkegel?«

Hory wollte sagen, dass er es vorziehe zu gehen, aber da drückte ihm eine der Hofdamen einen stark duftenden Kegel auf den Kopf und versuchte ihn in seinem Haar zu befestigen, was offenbar nicht einfach war, da er keine Perücke trug. Merit musterte ihn lange und lächelte dann.

»Ich hoffe, du vergnügst dich. Wenn dir Beket lästig wird, schick sie einfach weg. Und du wirst dann auch gehen, hörst du, Beket?«

Er hörte Beket kichern; er hatte nicht bemerkt, dass sie ihm gefolgt war. Merit neigte sich vor und berührte seine Schulter. »Was ist? Du bist so schweigsam.«

»Ich weiß nicht so recht, worüber man mit einer Tochter des Gottes spricht«, antwortete er wahrheitsgemäß und erntete das Gelächter der Hofdamen.

Er bemerkte, dass der Kronprinz allmählich auf ihn aufmerksam wurde. Sein Blick war zunächst gleichgültig, aber dann voller Zorn. Er hatte sich offensichtlich an die Begebenheit vom Tage erinnert. Er öffnete den Mund, doch plötzlich erklang lauter Trommelschlag, und eine Tänzerin sprang auf der Steineinfassung des Teiches in der Mitte entlang. Sie bewegte die Glieder mit atemberaubender Geschmeidigkeit, und die Frauen begannen im Takt zu klatschen. Semenchka entspannte sich wieder, aber sein Blick blieb unheilvoll.

»Oh, Semenchka hat dich erkannt«, raunte Beket in Horys Ohr. »Du hast ihn heute vor aller Welt lächerlich gemacht.«

»Findest du nicht, dass du übertreibst?«, gab er zurück. Allmählich missfiel ihm die Gesellschaft dieses vorlauten Mädchens. Er hätte die Aufmerksamkeit Merit-Atons vorgezogen, aber sie war von der Darbietung gefangen und achtete nicht auf ihn. Doch dann endete der Tanz; Semenchka streckte die Hand aus und legte sie schwer auf Merits Arm. Hory hatte den Eindruck, als wolle er seinen Besitzanspruch auf sie geltend machen – was unter den gegebenen Umständen völlig überflüssig war, denn er war der Kronprinz und Hory nur irgendeiner aus dem Volk. Aber er hatte sich wohl getäuscht, denn Semenchka zog seine Hand zurück und klopfte auffordernd auf die Lehne seines Stuhls. Hory hatte nicht die geringste Ahnung, wem diese Geste galt, und bemerkte überrascht, dass sich Beket erhob. Sie schlenderte zu Semenchka und hockte sich an seine Seite, um vertraulich die Wange auf seinen Schenkel zu legen.

Es war wieder ruhiger geworden, und der Kronprinz starrte Hory, der nach wie vor auf der obersten Stufe hockte, feindselig an.

»Ich erinnere mich gut an dich.« Mehr sagte er zunächst nicht. Semenchka besaß eine helle, schleppende Stimme. Er tupfte mit dem Zipfel seines Ärmels den Schweiß von Bekets Stirn. »Warum bist du nach Achet-Aton gekommen?«

»Ich will hier als Arzt arbeiten.«

»Und das kannst du nicht dort, wo du herkommst?«

»Ich stamme aus Auaris.«

»Dem ehemaligen Hauptkultort des Seth!«, rief Semenchka angewidert, und Beket hob den Kopf. Einige der Frauen stießen Laute des Widerwillens aus und rückten von Hory ab.

»So ist es, Hoheit«, sagte er. Merit-Aton hatte sich vorgeneigt, um ihn besser verstehen zu können. Semenchka war ihm gleichgültig, Beket-Aton ebenfalls, aber ihr gegenüber hatte er das Bedürfnis, offen zu sein. »Mein Vater war ein Seth-Priester. Er war nur ein niederer Priester, aber der Tempeldienst brachte ihm genug ein, dass er mich bei dem Leibarzt des Gauherrn die Heilkunde erlernen lassen konnte.«

»Aber doch nicht lange, wie?«, fiel Semenchka schrill ein. »Der Seth-Kult wurde vor ein paar Jahren verboten. Dein Vater ist also ein Verfemter. Wahrscheinlich verdingt er sich jetzt als Tagelöhner auf den Gerstenfeldern. Oder er geht nachts fischen, in der Gesellschaft von Sumpftieren und tausend Arten von Mücken! Du bist gekommen, weil niemand dort deine Dienste in Anspruch nehmen will.«

»Das kann ich nicht leugnen«, sagte Hory säuerlich. »Von einem Tag auf den anderen haben die Leute in Auaris behauptet, Seth schon immer verachtet zu haben. Und ich kann kaum Berufserfahrung vorweisen.«

»Aber du hast doch bestimmt auch im Lebenshaus von Per-Bastet gelernt«, warf Merit ein. Er hatte den Eindruck, dass sie ihm helfen wollte.

»Nein«, antwortete er offen, »die Schule für Ärzte konnte ich mir nicht leisten.«

Semenchka lachte böse, was Merit zu ärgern schien. »Aber weshalb gerade Achet-Aton?«, fragte sie. »Bedeutet dir der Gott so viel?«

»Welcher Gott, Aton?« Hory zuckte mit den Achseln. »Ich weiß wenig über ihn. Aber ich weiß auch wenig über Seth. Ich bin bereit, über den Gott, der meine Zukunft zerstörte, zu lernen.«

»Aton zerstört nichts!«, fauchte Semenchka. »Wenn die Leute in deinem Heimatort dir nicht vertrauen wollen, so ist das nicht seine Schuld. Aber sie werden dir auch hier nicht vertrauen. Du wirst in dein verfluchtes Auaris zurückkehren müssen.« Er wandte den Kopf ab, um in scheinbar weite Fernen zu blicken. »Ich wollte dich bezahlen lassen für deine Frechheit«, fügte er voller Verachtung hinzu, »aber meinem Bruder gefiel es, dich zu verschonen. Du bist es ohnehin nicht wert, dass ich mich noch länger mit dir befasse.«

Hory kam auf die Füße, um ihm eine passende Erwiderung zu geben – die Folgen kümmerten ihn jetzt nicht –, aber Merit stand ebenfalls auf.

»Halt den Mund, Arzt«, sagte sie kühl. »Du bringst dich wohl gerne in Schwierigkeiten? Du gefällst mir. Aber du solltest jetzt besser gehen.« Sie strich einen ihrer goldenen Fingerringe ab und legte ihn in Horys Handfläche. »Deinen stinkenden Brei werde ich jedoch bezahlen.«

Der Ring würde genügen, ihm für zwei, drei Monate Unterkunft und Essen zu verschaffen. Er verneigte sich und ging rückwärtsgehend die Stufen hinunter. Ein wenig ärgerte ihn ihr überheblicher Ton, aber immerhin hatte sie ihn davor bewahrt, eine Dummheit zu begehen. Schon schloss sich wieder der Kreis der Damen um das Podest. Vermutlich würde Merit-Aton ihn vergessen haben, kaum dass er den Weg zum Ausgang erreicht hatte.

Er schob den Ring auf seinen kleinen Finger und blickte sich um. Die Gäste beachteten ihn so wenig wie zuvor. Sollte er allein gehen oder einen der Diener bitten, ihn zu begleiten? Die Tänzerin gab einen zweiten Tanz zum Besten, und der Lärm steigerte sich. Er nahm den Salbkegel ab und legte ihn ins Gras, dann schlug er die Richtung ein, aus der er gekommen war. Als er ein Stück über den gepflasterten Weg gegangen war, hörte er Schritte hinter sich. Er wandte sich um. Eine Frau blieb in einiger Entfernung stehen und sah ihn vorsichtig an. Da sie bis auf ein wenig Schmuck nackt war, musste es sich um eine Dienerin handeln.

»Verzeihung, Herr«, murmelte sie. »Ich habe gehört, was du den Hoheiten erzählt hast. Du bist Arzt?«

»Was plagt dich denn?«

»Mich? Oh, nichts. Aber vielleicht könntest du meiner Herrin helfen, der Dame Tji.«

»Du meinst … einer Nebenfrau des Einen? Was ist denn mit den Haremsärzten?«

Die Dienerin hob die Schultern. »Die will sie nicht rufen. Ich habe ihr zugeredet, dass sie einen von ihnen holen lässt, aber sie will nicht. Sie ist unglücklich, aber sie sagt mir nicht, weshalb.«

»Einem Fremden dürfte sie sich wohl erst recht nicht anvertrauen.« Hory deutete auf das Haremsgebäude. »Ich kann doch nicht einfach dort hineingehen?«

Nun legte sie die Handflächen aneinander und senkte den Kopf. »Aber weshalb denn nicht? Maru-Aton ist keine Festung, und du bist kein Einbrecher. Ich bitte dich inständig.«

»Also gut«, seufzte er, und sie lächelte erleichtert. In diesem Augenblick fegte ein Schrei über den Lärm des Festes hinweg. Die Dienerin warf sich erschrocken um. Er sah die schwangere Prinzessin, wie sie auf ihrer Matte sitzend die Beine spreizte. Unterhalb ihres Bauches war das Gewand nass, als hätte sie einen Bierkrug verschüttet. Zwei ihrer Dienerinnen versuchten sie aufzurichten, aber sie klammerte sich an ihnen fest und rührte sich nicht. Nur langsam erstarben die Musik und das Gelächter, und die Höflinge blickten sich verwirrt nach ihr um.

»Nein, geh nicht dorthin«, sagte die Frau und hielt seinen Arm fest, obwohl er sich nicht bewegt hatte. »Ihr kannst du nicht helfen, und man würde dich auch nicht zu ihr lassen.«

In die eintretende Stille hinein glaubte Hory Djuis Stimme zu vernehmen, wie sie die Worte aus ihrem Kalender sprach: Heute siegt Seth und zerstückelt die Leiche des Osiris. Wer heute geboren wird, wird nicht leben. Tue nichts.

Tu nichts, dachte er, während er sich anschickte, hinter der Dienerin den Harem des Pharao zu betreten.

Der Harem bestand offenbar aus zwei großen Gebäuden und einer Vielzahl von verbindenden Gängen und Gärten. Die wenigen Wachtposten, denen sie begegneten, rührten sich nicht. Er stellte fest, dass dieses Haus ein Labyrinth war. Ohne die Hilfe der Dienerin würde er den Hauptausgang kaum finden. Schließlich gelangten sie in einen weit abgelegenen Trakt, wo vor einer Tür ein Wachtposten salutierte.

Die Dienerin öffnete und bat ihn, im Vorraum zu warten. Sie betrat das dahinterliegende Zimmer. Hory hörte, wie sie ihre Herrin begrüßte und ihr erklärte, wen sie mitgebracht hatte. Die Stimme der Nebenfrau klang ärgerlich, und er nahm an, dass er wieder gehen müsse. Doch dann winkte die Dienerin ihn hinein.

Die Dame Tji warf sich hastig einen Umhang über, während sie Hory misstrauisch musterte. Wie alt mochte sie sein? Sechzehn, siebzehn. Ihre hochgesteckten Haare waren zerzaust; rote Jaspisohrringe rahmten ein hübsches Gesicht ein.

»Ich wusste nichts von deinem Kommen«, sagte sie leise, während sie den hauchfeinen Mantel gürtete. »Aber da du nun einmal hier bist …« Sie forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen. »Wer bist du? Ich habe dich hier noch nie gesehen.«

Er nannte seinen Namen und erzählte von seiner Reise nach Achet-Aton, um ihre Furcht zu zerstreuen. Tji gelang ein Lächeln, aber es wirkte gequält.

Sie setzte sich auf das Bett; ihm blieb nur ein schmaler Hocker bei der Gartentür. Hier in diesem Raum gab es nur dieses ausladende Bett und zwei Truhen; er wirkte kalt. Ein paar Kissen waren vom Bett gerutscht und bedeckten die grünglasierten Bodenfliesen. Tji tastete unter die Laken und zog einen kleinen Fliegenwedel mit elfenbeinernem Griff hervor. Unruhig zupfte sie an dem Pferdehaarbüschel.

Tu nichts, dachte er wieder, aber er hatte das untrügliche Gefühl, dass es längst zu spät war.

»Es ist richtig«, begann sie stockend, »dass ich ein Problem habe, das ich keinem der Haremsärzte anvertrauen kann.« Unvermittelt warf sie den Fliegenwedel von sich, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. »Auch du kannst mir nicht helfen! Aton hat mich verflucht.«

»Jeder sagt, dass Aton so etwas nicht tut. Sag mir, was dich bedrückt.«

Sie wischte sich die Tränen herunter und reckte das Kinn. »Ich bin zu alt, um den König noch zu reizen. Er beachtet mich nicht mehr.«

Er konnte über diese Torheit nur den Kopf schütteln. »Das ist dein Problem?«

»Ja.« Sie verfiel in Schweigen, starrte an ihm vorbei und stieß plötzlich hervor: »Ich liebe ihn! Aber was soll ich tun, da er mich nicht beachtet? Ich sehne mich nach einem Menschen, der mich berührt …« Abrupt stand Tji auf und zog entschlossen die Nase hoch. »Es gibt doch sicher irgendwelche Mittel? Oder Zaubersprüche? Kannst du mir so etwas geben?«

»Einen Augenblick.« Hory hob die Hand. »Was willst du eigentlich? Zauberei, die seine Liebe zu dir wecken soll? Oder ein Wundermittel, das dich jünger macht?«

»Ich weiß es selbst nicht!« Sie stampfte mit verzweifeltem Trotz auf. »Als mein Vater einwilligte, dass ich eine Nebenfrau werde, wusste ich noch nicht, dass der Eine keine älteren Frauen mag! Ich kann doch nicht den Rest meines Lebens hier vergessen herumsitzen! Aber wenn er doch noch käme und mich schwanger macht … wie Maket-Aton enden will ich auch nicht. O Gott, ich sollte dir das alles nicht erzählen.«

Hory dachte an das Mädchen, das gerade im Park um sein Leben kämpfte. »Willst du damit sagen, dass …«, er musste sich überwinden, die Ungeheuerlichkeit auszusprechen, »dass Maket-Aton von ihrem Vater schwanger ist?«

»Ja, sicher. Das ist ja nun kein Geheimnis.«

»Schläft er mit allen seinen Töchtern?«

»Das weiß ich nicht. Merit-Aton ist ihm wahrscheinlich auch schon zu alt.«

Hory sprang auf und riss die Tür zum Garten auf. Er sog die nächtliche Luft ein und kämpfte gegen plötzliche Übelkeit an. Das Bild der schreienden Maket-Aton stand ihm dicht vor Augen: ein hilfloses, zu Tode verängstigtes Mädchen, das kaum wusste, was ihm geschah. Und er dachte an Djuis beunruhigende Geschichte von Echnatons Mutter Teje.

Schande. Blutschande. Heute siegt Seth und zerstückelt die Leiche des Osiris.

Was tue ich eigentlich hier?, fragte er sich. Warum bin ich hier? Das ist nicht meine Welt.

Er drehte sich zu Tji um. »Was du haben willst, kann ich dir nicht geben. Ich bin kein Magier.«

»Dann geh.« Tji sank zurück auf das Bett und starrte zur Wand. Er verneigte sich, ohne dass sie es sah, und ging hinaus. Auf dem Flur lehnte er sich an die Wand und strich sich den Schweiß aus dem Gesicht. Er fühlte sich erbärmlich. Er beschloss, sich in seinem kargen Zimmer in Atons Glanz zu verkriechen und darauf zu hoffen, dass ihm das Erlebte dennoch Schlaf gewährte.

Der Zorn des Seth

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