Читать книгу Der Zorn des Seth - Sabine Wassermann - Страница 11

3.

Оглавление

Hory fuhr hoch. Was war das? Unten in der Schenke kehrten einige Leute ein und verursachten rücksichtslosen Lärm. Sein knurrender Magen hatte ihm nur leichten Schlaf beschert, und er hatte von Tji geträumt. Benommen blickte er zum Fenster mit der halb heruntergelassenen Binsenmatte. Die Nacht war noch schwarz, aber eine Spur helleres Grau am Horizont zeigte, dass der Morgen nicht mehr fern war. Aufstöhnend ließ er sich zurück auf seine Matte fallen.

Jetzt war das Poltern auf der Treppe. Rufe erklangen, alles andere als freundliche. Er warf sich auf den Bauch und verschränkte die Hände hinter den Kopf. Musste dieses Getöse sein, bei allen Göttern? Da donnerte eine Faust gegen seine Tür; ein Fußtritt folgte, und sie knallte so heftig auf, dass sie gegen die Wand schlug. Hory hatte keine Zeit mehr aufzuspringen; zwei Männer, dem Aussehen nach Palastsoldaten, warfen sich auf ihn, fesselten seine Hände auf dem Rücken und zerrten ihn auf die Beine.

»Bist du Hory, der Arzt aus Auaris?«, brüllte ihn einer der Männer an.

»Das fragst du jetzt, nachdem ihr mich gefesselt habt?«, rief Hory mit kratziger Stimme. Er kämpfte seine Erschrockenheit nieder. Der Soldat hob drohend eine Hand, schlug aber nicht zu.

»Also bist du es. Wir sollen dich holen.« Er stieß Hory zur Tür.

»Was wirft man mir vor? Wer hat euch gesagt, dass ihr mich holen sollt?«

Keine Antwort. Hory gelang es kaum, sein Gleichgewicht zu behalten, als er die Treppe hinuntertaumelte, während die Männer ihn mit ihren Speerschäften anstießen. Semenchka, dachte er sofort. Der Kronprinz hatte beschlossen, seine miese Laune an ihm auszulassen.

Sie trieben ihn durch die nachtdunklen Straßen und irgendwann in einen düsteren Ziegelbau. Waren sie im Palast? Die Mauerkrone, die mit steinernen Sonnenscheiben verziert war, legte das nahe. Hory fragte die Männer erneut nach dem Grund seiner Festnahme. Vergebens. Fast seltsamer als ihr stures Schweigen fand er die Eile, mit der sie ihn hetzten. Das kleine Gebäude bestand nur aus einem einzigen Raum, in dem ein aus Ziegeln errichteter Tisch stand, dahinter ein grober Stuhl und Truhen, auf denen Werkzeug lag. Ein weiterer Tisch war in der Mitte des Raumes hochgemauert, nur kleiner und niedriger. Die Soldaten zwangen ihn, davor zu knien, und lösten seine Fesseln. Einer bewachte ihn mit einem Messer an der Kehle, der andere ergriff eine Axt und einen bronzenen Gegenstand.

Breitbeinig nahm der Soldat vor Hory Aufstellung. »Die Hand auf den Tisch!«

Hory schüttelte den Kopf; er starrte auf die Axt und wollte den Mann anschreien, aber es kam nur ein Krächzen. Aus allen Poren brach ihm der Schweiß aus. Sein Körper war schneller im Begreifen als er selbst.

Die Furcht verlieh ihm neue Kraft. Er drehte sich auf den Fersen herum und rammte dem Mann hinter ihm die Schulter in den Bauch. Der Soldat stieß pfeifend die Luft aus und taumelte zurück. Hory sprang vor, versetzte dem zweiten mit verschränkten Händen einen Faustschlag und spürte plötzlich einen dumpfen Schmerz am Hinterkopf. Der Länge nach sackte er zu Boden, und ein zweiter Hieb sorgte dafür, dass er sich nicht mehr rührte.

Sie schleiften ihn zurück zu dem Tisch. Er spürte mehr, als dass er es sah, wie sie ihm eine Lederschnur um das rechte Handgelenk schlangen und daran seinen Arm quer über den Tisch zogen. Einer wand die Schnur um einen Nagel im Tisch, der andere zerrte ihm den Ring der Prinzessin vom Finger. Trotz seiner Benommenheit begriff er endlich, was ihn erwartete. Er wollte sich aufbäumen, erreichte aber nur, dass einer der Männer ihm die freie Hand auf den Rücken drehte. Er befürchtete, sein Arm müsse aus dem Schultergelenk springen.

Der bronzene Gegenstand war eine flache Platte, die sie auf den Rücken seiner rechten Hand legten. Die Finger blieben frei. Jetzt badete er schier in kaltem Schweiß, und das Entsetzen brandete über jeden klaren Gedanken hinweg. Ein Soldat packte die Axt mit beiden Händen, nahm grob Maß und schlug zu. Sein erster Hieb traf nur die Bronzeplatte; die Erschütterung jagte durch Horys Körper. Ein Schrei würgte sich aus seiner Kehle, ein Schrei blanker Furcht; er konnte es nicht verhindern.

»Ihr seid spät«, sagte jemand, der durch die Tür trat, mit einem Bündel Papyri unter dem Arm. Ohne Hast ging er zum Fenster und öffnete die Läden. Schwaches Morgenlicht drang durch das Fenster. »Zu spät, würde ich sagen. Also los, packt eure Sachen zusammen.« Der Fremde, offenbar ein Schreiber, verteilte seine Rollen auf dem Tisch, ohne den Soldaten einen weiteren Blick zu widmen.

Die Männer sahen zuerst sich an, dann aus dem Fenster. Sie nickten, legten ihre Folterwerkzeuge beiseite und durchschnitten den Riemen an Horys Handgelenk.

Hory presste seine Hand an den Körper und betastete jeden einzelnen Knochen. Gebrochen war nichts, aber alles tat verdammt weh. »Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte er kehlig.

Der Schreiber sah auf. »Du wirst schon selbst am besten wissen, weshalb du bestraft werden sollst. Ich weiß es jedenfalls nicht.«

»Nein, ich weiß gar nichts!« Hory erhob sich auf zittrigen Knien. »Ich weiß weder, was ich getan haben soll, noch weshalb ich nun doch nicht bestraft werde.«

Der Mann hob die Hand. »Oh, du irrst dich, du wirst bestraft werden. Du bist wohl neu hier in der Stadt? Na gut, ich erkläre es dir: Die Sonne geht soeben auf. Und da die Sonnenscheibe, die Aton ist, den Anblick von Gewalt und Blut verabscheut, werden solche Dinge des Nachts erledigt. Dass deine Finger einen Tag länger vollzählig sind, hast du der Tatsache zu verdanken, dass deine beiden Vollstrecker«, er nickte in Richtung der Soldaten, »zu langsam waren. Aber das macht nichts. Heute Abend, sobald Aton im Horizont versinkt, werden sie nachholen, was sie soeben versäumt haben.«

Er öffnete eine der Rollen. »Schafft ihn in den Hof, wo er sich der Verehrung Atons widmen kann«, sagte er, ohne aufzusehen; er schien Hory bereits vergessen zu haben. Die beiden Soldaten packten Hory an den Armen und zerrten ihn hinaus.

Hory bewegte vorsichtig seine geschundene Hand. Sie war angeschwollen, zumal die engen Lederfesseln den Blutfluss behinderten. Anfangs hatte es wild in den Fingern gepocht – anfangs, vor drei oder vier Stunden, nun waren beide Hände taub. Er kniete vor einem langen Balken, der in Augenhöhe quer über einen Hof, vermutlich den Gefängnishof, verlief. Seine Hände waren an diesen Balken gebunden, so wie die eines halben Dutzend Mitgefangener. Mittlerweile hatte er die Lust verloren, sie zu beobachten oder anzusprechen, denn er war, wie es der Schreiber angekündigt hatte, in die Verehrung Atons versunken. Die Sonne schien sein Blut zu kochen und seine Haut abzulösen. Er badete in Schweiß, dachte an nichts anderes als an Wasser und starrte in die Schatten der Kammern, die den Hof säumten.

Am Nachmittag begann die Sonne den gepeinigten Männern in die Augen zu leuchten. Hory hielt den Kopf gesenkt und wünschte sich nichts weiter, als zu sterben. Aton, Aton, soll das dein segnendes Licht sein? Ich hatte geglaubt, du würdest den Tod verabscheuen. Was bist du?

Er dachte an Harmose, seinen Vater. Aton war fähig zu hassen, o ja, denn wie anders konnte es sein, dass einem niederen Priester nicht verziehen wurde? Er sah die gebückte Gestalt auf den Feldern, die sich abplagte, die tägliche Arbeit zu schaffen. Mit nichts bekleidet als einem fadenscheinigen Hüfttuch grub Harmose die störrische Erde um, warf die paar Hen Samenkörner hinein, die der Gauherr ihm zugestand, und erntete das Wenige in den Monaten des Schemu, um sich und seine beiden Kinder zu ernähren.

Harmose war gebrochen worden. Und doch stolz geblieben. Es kommt wieder eine andere Zeit, hatte er gesagt. Aton wird nicht ewig herrschen. Aton ist kein Gott, Aton ist eine Idee, entsprungen dem Herzen eines einzigen Mannes.

Die schlimme Zeit hatte sein Herz verhärtet, und er hatte seinen Sohn nicht mehr in den Arm genommen, ihm keine Liebe mehr gezeigt. Der neue Gott hatte ihn zerstört.

Ich will nicht so enden, dachte Hory. Die Welt muss einen Platz für mich haben. Auch Atons Welt. Es gibt ja keinen anderen als Aton.

Seine Gedanken sprangen wirr hin und her. Er dachte an den Vater, dann an seine geliebte Schwester, dann an Echnaton, jenen Mann, der seine Tochter geschwängert und mit seiner Mutter geschlafen hatte, damals vor vierzehn Jahren, als er die Herrschaft über die beiden Länder angetreten hatte.

War das Aton?

Er hob den Kopf, denn ein Schatten hatte sich vor seine geschlossenen Augen geschoben. »Betest du?«, fragte jemand und lachte leise. »Das musst du nicht, denn das wäre sinnlos. Aton ist die Sonne, wie könnte sie die Stimme eines menschlichen Wesens hören? Allein sein Sohn ist in der Lage, mit ihm zu sprechen, also richte deine Gebete an ihn. Echnaton kennt die Bedürfnisse seiner Untertanen, auch deine. Vertrau ihm.«

Das war alles so verrückt. Oder war er selbst verrückt, und er hatte sich die Stimme nur eingebildet? Es schien, als entferne sich der Fremde wieder. Er lehnte den Kopf an den Balken und versuchte zu schlafen. Doch wieder tauchte jemand vor ihm auf, diesmal, um seinen Kopf an den Haaren hochzureißen.

»Bist du dieser Kerl, der die Frau des Einen tötete?«

Hory öffnete die Lippen. Ich habe niemanden getötet, wollte er sagen, aber es gelang ihm nicht mehr, seine Zunge zu bewegen.

»Zweifellos, du bist es. Er will dich sehen.«

Er schrie, als seine Hände plötzlich ihren Halt verloren und an seinen Seiten heruntersackten. Der Schmerz raubte ihm für einen Moment die Besinnung, und er sank zu Boden. Man hatte seine Fesseln durchtrennt. Tränen liefen über seine Wangen und brannten. Kräftige Zehen bohrten sich in seine Seite und zwangen ihn aufzustehen.

Hory drückte die rechte, noch immer schmerzende Hand an seine Brust. Man gab ihm keine Gelegenheit, sie zu kühlen und zu verbinden. Immerhin war sein Durst gelöscht. Der Gefangenenwärter hatte ihm ein paar Augenblicke Zeit gegeben, zu trinken und halbwegs zu Kräften zu kommen. Er war sich nicht sicher, ob er die Worte richtig verstanden hatte. Der Eine wollte ihn sehen?

Ein Mann tauchte auf; die hölzerne Tintenpalette an seiner Schulter wies ihn als Schreiber aus. Er musterte Hory kurz und wechselte mit den Wärtern ein paar Worte. Sie befahlen ihm aufzustehen, nahmen ihn in ihre Mitte und stapften wortlos vom Hof. Er fragte nichts und bemerkte kaum, wohin der Weg sie führte. Erst als er die Häuser von Maru-Aton sah, davor den im Abendlicht glänzenden See, regte sich sein Verstand.

Sie bringen mich zu Merit-Aton, dachte er verwirrt. Dann, mit einem Sprung wachsender Klarheit: Nein, zu Tji.

Der Schreiber machte den Türwächtern ein Zeichen, und ungehindert betraten sie die kühlen Gänge des Anwesens. Der Weg war schier endlos, doch schließlich erreichten sie die abgelegene Tür, die Hory bereits kannte. Heute jedoch wurde sie von einem fünfköpfigen Soldatentrupp bewacht. Der Schreiber schob Hory durch die Tür.

Hory betrat den Vorraum. Hier standen Diener herum, die allerlei prunkvolle Gegenstände in den Händen hielten: mannshohe Straußenfedernfächer, Schmuck, Amulette, goldene Tabletts, auf denen Schalen und Becher standen. Das alles gehört doch nicht Tji, dachte er. Die Diener machten ihm Platz, und er betrat das kleine Schlafzimmer, in dem ihn die Dame Tji empfangen hatte. Es erschien ihm unglaublich, dass dies erst einen Tag zurücklag. Was war seitdem geschehen?

Ein Priester kniete auf dem Boden und stand auf, als er ihn eintreten sah. Hory zuckte zurück, denn dieser Mann war ein Sem-Priester, ein Balsamierungspriester, der die Körper der Toten als Wohnstatt für ihre Ka- und Ba-Seelen vorbereitete.

Nackt lag Tji auf dem Boden. Ihr Körper war lang ausgestreckt, ihre Fersen berührten sich. Es sah aus, als habe ihr Mörder sie absichtlich in dieser Lage hinterlassen, in der sie einer Malerei auf einem Mumiensarg ähnelte. Auf der entblößten Brust kauerte eine Bronzefigur in der Haltung eines Sphinx: Ein Seth-Tier. Die Pfoten lagen unterhalb des Schlüsselbeins, die Hinterbeine bedeckten den Nabel des Mädchens. Die schmale, weit vorstehende Schnauze blickte über Tjis Kopf hinweg; im rechten Winkel standen rechteckige Ohren ab, ebenso der dreispitzige Schwanz. Auf seinem Rücken lagen Tjis Hände, ineinander verschränkt, so wie ein Kind im Schlaf sein Schoßtier an sich drückt. Doch nicht das seltsame Tier war es, das Hory zuerst ins Auge stach. Blankes Entsetzen befiel ihn, als er sah, auf welche Weise das Mädchen hatte sterben müssen.

Weit war ihr Kopf zurückgebogen in dem verzweifelten Versuch, Atem zu schöpfen. Ihr Mund stand weit offen, gefüllt mit Sand. Sand lag in ihren Nasenlöchern, in den Augenwinkeln, in der Kuhle des Schlüsselbeins. Der Priester kniete wieder über ihr und strich vorsichtig mit den Fingerspitzen den Sand von ihrem Gesicht. Offenbar war ihr Kopf vollständig bedeckt gewesen, nach der Menge des Sandes zu schließen, der sich neben ihr auf den Fliesen häufte.

»Eigentlich müsste sie noch zwei Tage hier liegenbleiben«, hörte Hory den Priester murmeln. »Die Toten sollen drei Tage in ihrem Heim bleiben, bis sie ins Balsamierungshaus gebracht werden. Aber niemand wird diese Frau mehr anrühren.« Offenbar spielte er darauf an, dass sich Balsamierungspriester früher manchmal an toten, noch frischen Frauenkörpern vergangen hatten; das zumindest besagte ein altes Gerücht.

Die Soldaten traten Hory in die Kniekehlen, sodass er zu Boden sackte und das Mädchen fast berührte. Seine Finger zuckten zurück.

»Das ist er?«, rief eine helle Stimme. »Das ist ja der Herumtreiber von gestern. Aber wie ein Mörder sieht er nicht aus.«

Hory hörte Leinen rascheln; jemand saß auf dem Rand des großen Bettes und schlug die Beine übereinander. Goldene Sandalen blitzten auf; Amethystbänder bedeckten schmale Fußgelenke. Ein hauchdünnes Gespinst lag über dünnen Waden und auffallend breiten Schenkeln, auf denen Hände lagen, deren Innenseiten rot gefärbt waren. Der Bauch war schwammig, die Brust hingegen flach, beinahe kraftlos, Hals und Gesicht überaus lang. Hory sah die fleischigen Lippen und die breite Nase, die großen, mandelförmigen Augen und wollte es nicht glauben. Kobra und Geier wölbten sich über der Stirn, kalt, unnahbar, göttlich. Die langgliedrigen Finger drehten ein Zepter aus Gold und Lapislazuli, das quer über den Schenkeln lag.

Hory hörte seinen eigenen Atem, von dem er geradezu hoffte, dass er aussetzte. Jeden Augenblick würde dieses Zepter auf ihn deuten, um ihn mit einem Strahl Heqa-Macht zu versengen, jener sagenhaften herrscherlichen Kraft, die jeden Feind zu Boden zwingen konnte.

»Ist es noch vor Sonnenaufgang getan worden?« Die helle, nicht unangenehme Stimme besaß etwas ungemein Gebieterisches. »Mein Vater verabscheut den Anblick von Gewalt und Blut. Zeig mir deine Hand.«

Hory zeigte die pochende Hand. Der Pharao neigte sich vor.

»Ah, du bist noch unverletzt. Nun, das wird sich heute Nacht ändern. Ich verabscheue solche Maßnahmen. Mein Vater ist das Licht der Welt, und ich bin der Prophet des Lichts. Aber manchmal sind sie unumgänglich. Verstehst du das?«

»Nein, göttlicher Horus«, murmelte Hory mit trockenen Lippen.

»Oh, du bist ein dummer, unbedarfter Mann.« Echnaton seufzte laut, wie ein Vater, der nicht wusste, wie er seinem Kind die störrische Gesinnung austreiben sollte. Er legte das Zepter beiseite und erhob sich mit der geschmeidigen Bewegung einer Tempeltänzerin. »Weißt du nicht, dass ich nicht so genannt werden will? Den Gott Horus gibt es nicht. Ich bin die Emanation des Aton. Das ist die Bedeutung meines Namens. Wiederhole es.«

Hory räusperte sich. Die Emanation … Emanation. Was war das nur für ein Schauspiel, dessen er hier Zeuge wurde? Sein schlagendes Herz erinnerte ihn daran, dass er der Mittelpunkt dieses so unwirklichen und brutalen Spiels war.

Echnaton begann im Raum herumzuwandern, wobei er sorgfältig darauf achtete, dem Sand nicht zu nahe zu kommen. »Du warst gestern Abend hier. Tjis Dienerin sagte, du warst der Letzte, der sie lebend gesehen hat.«

»Hat sie auch gesagt, dass sie mich zurück zum Ausgang führte?«, fragte Hory.

Echnaton hob warnend eine Braue. »Nein, davon erwähnte sie nichts. Was wolltest du von Tji?«

»Sie rief mich zu sich, denn ich bin Arzt. Sie fühlte sich nicht wohl.« Hory sah keinen Grund, die verwirrenden Beweggründe des Mädchens wiederzugeben. »Aber ich gab ihr nichts.«

»Nichts!«, schnaubte Echnaton und ließ sich auf das Bett fallen. Mit zusammengepressten Lippen starrte er aus den Fenstern. Ein weiterer Mann, seinem Amtsstab nach der Wesir des Nordens, trat auf Hory zu, griff in die Falten seines Gewandes und zog ein kleines Amulett hervor.

»Kennst du dies?«

Hory schluckte unwillkürlich. Es war das kleine bronzene Seth-Amulett, das der Hafenschreiber an sich gerissen hatte.

»Dein Schweigen ist beredt genug«, sagte der Wesir und deutete auf die größere Figur auf Tjis Brust. »Alles wurde so vorgefunden, wie du es hier siehst. Du stammst aus Auaris, ist das richtig? Auaris ist ein von Aton nicht sehr gern gesehener Ort, denn dort verehrte man – und im Verborgenen tut man es noch immer, sagte man mir – den Gott der Finsternis, den Gott der Wüste, den Gott der Dämonen: Seth, den Verfluchten.«

»Ich verehre Seth nicht«, rief Hory mit wachsender Verzweiflung. »Ihr wollt mich nur wegen dieses dummen Amuletts verstümmeln lassen?«

»Dein Vater ist ein ehemaliger Seth-Priester. Er hat dem falschen Glauben abgeschworen und büßt für seine Verfehlung mit lebenslanger Armut. Auch das ist doch richtig?«

Hory glaubte eine Schlinge um seinen Hals zu fühlen. Von wem mochte der Wesir das wissen, wenn nicht von Semenchka? Allerdings hatte auch die Prinzessin Merit-Aton seine Geschichte gehört.

Der Wesir des Nordens lächelte kühl und musterte Hory lange; sein Blick blieb schließlich an Horys mittlerweile verschmutztem Schurz aus Königsleinen hängen. »Der Sohn eines verarmten Priesters …«, sagte er wie zu sich selbst und legte die Spitze seines Amtsstabs an die Lippen. »Vor einem halben Mondumlauf wurden in der Palastwäscherei zwei Dutzend solcher Hüfttücher gestohlen. Hast du für den Besitz eines so wertvollen Kleidungsstückes eine Erklärung?«

Natürlich, dachte Hory. Da war diese Frau, die ich auf der Straße auflas, nachdem sie von zwei Medjas gezüchtigt worden war …

Er schwieg weiterhin. Es hatte keinen Sinn, diese Geschichte zum Besten zu geben. Dieser hohe Würdenträger hatte sein Urteil gefällt.

»Ich fürchte, um dich steht es nicht gut.« Der Wesir seufzte. »Du bist ein Anhänger Seths und ein Dieb. Und was den Tod der Dame Tji betrifft … Du warst gestern Abend bei ihr und kannst weder erklären, was du von ihr wolltest, noch wo du dich in der Nacht danach herumgetrieben hast. Letztlich ist dir der Mord nicht nachzuweisen, und dieser Tatsache verdankst du dein Leben. Aber die Hälfte deiner Finger wird es dich trotzdem kosten, und den Rest deines Lebens wirst du in den Granitsteinbrüchen von Swenet fristen. Möge diese Strafe als Warnung für die Anhänger der alten, falschen Götter und insbesondere Seths dienen. Ja, es gibt sie noch, selbst hier, in der Stadt des Lichts: Ungläubige, die die Herrschaft der Sonne nicht anerkennen wollen und in ihren dunklen Kammern der Verehrung des Bösen nachgehen. Möge Aton sie mit ihren Strahlen verbrennen!« Er wandte sich den Soldaten zu. »Also los, führt ihn ab und vollstreckt die Strafe. Es ist inzwischen dunkel geworden.«

Erneut wurde Hory auf die Füße gerissen; die Soldaten bohrten ihre Finger in seine Arme.

Der Pharao streckte die Arme zur Zimmerdecke. »Aton, mein Vater!«, rief er mit schriller, fast weinerlicher Stimme. »Seth wird vernichtet werden, das gelobe ich dir! Und mit ihm alle, die sich nicht bekehren lassen. Ich liebe dich, ich liebe dich …« Er bedeckte sein Gesicht. Hory glaubte fast, jetzt Zeuge einer Gotteslästerung zu werden, nämlich einen Pharao weinen zu sehen.

Mit einem Mal waren seine hochfliegenden Träume, ja, sein ganzes Leben zerstört: verstümmelt und auf dem Weg nach Swenet, um in den dortigen Steinbrüchen für ein, zwei Jahre zu schuften, bis der Tod ihn erlöste. Er kannte einige Geschichten über Swenet, genug, um zu wissen, dass diese Strafe keineswegs besser als der Tod war: Steine schlagen, Steinblöcke ziehen, Steinstaub schlucken und schließlich unter Stein begraben werden.

Dieses Schicksal sah er vor sich, während er von den beiden Soldaten durch die Flure getrieben wurde. Die Haremsdamen hasteten mitsamt ihren Dienerinnen erschrocken zur Seite und riefen den Gott an. Seine Gedanken sprangen hin und her, von seinem Schicksal in Swenet zu Merit-Aton, zu Djui, zu seinem Vater, der seine Reise nur mit Unbehagen gestattet hatte, und zu seiner Schwester, die daheim in Auaris auf eine Nachricht ihres Bruders wartete, den sie so liebte und bewunderte.

Dass sie mich liebt, verstehe ich, dachte er mit eigenartiger Klarheit. Aber weshalb hat sie mich bewundert? Hier bin ich jedenfalls nur der Bauer aus dem Delta, der anscheinend dumm genug ist, um über seine eigenen Füße zu stolpern.

Aus irgendeinem Winkel seines Innern rollte eine Welle von Ärger seine Kehle hinauf, ohne dass er hätte sagen können, worauf genau er wütend war. Auf die Königsfamilie? Gar auf den Gott? Aber zugleich mit dem Ärger kam neue Kraft. Jäh riss er sich von seinen Bewachern los, schlug dem einen die Ferse gegen das Schienbein, dem anderen die Faust ins Gesicht – es tat furchtbar weh –, dann sprang er in den nächstbesten dunklen Gang. Er hörte ihr überraschtes Fluchen und das Scharren von Metall auf Leder, als sie ihre Schwerter aus den Scheiden zogen. Er folgte planlos den Fluren, die seinen Weg kreuzten, dankte irgendeinem Gott, dass hier keine Frauen umherliefen, die ihn mit ihrem Gekreisch hätten verraten können, und fand sich im Garten wieder. Er strich sich den Schweiß aus der Stirn, öffnete und schloss fahrig die Hände und bemühte sich um einen unbeteiligten Ausdruck.

Hier saßen die Frauen zu Dutzenden: ein Pulk von leicht bekleideten Leibern, in den er eintauchte, so ruhig wie möglich. Sie beachteten ihn nicht, und schon hatte er sie hinter sich gelassen. Er wusste nicht, wie weit zurück die Soldaten waren, sondern achtete nur auf den Weg vor sich, eine Reihe von Pflastersteinen, die zwischen dunklen Büschen verliefen. Die Sonne war längst verschwunden und hatte dem so sehr verhassten Dunkel Platz gemacht. Als er sicher war, dass ihn niemand mehr sah, begann er zu laufen, hin zu einem der Tore, an denen zwei Wachtposten mehr lungerten denn standen. Wie ein gelangweilter Diener schlenderte er durchs Tor. Erstaunlich, dass der Harem so schlecht bewacht wurde; auch seine beiden Bewacher hatten sich nicht wie aufmerksame Soldaten verhalten. Weit hinter sich, irgendwo in dem riesigen Park, hörte er ihre wütenden Rufe und das spöttische Gelächter der Damen. Dann war er hindurch; er stand auf der Straße und tauchte ein in das Gewimmel der Nachtschwärmer, die sich vor der Abwesenheit Atons nicht fürchteten.

Die Tür zu Atons Glanz war offen, Licht und Lärm drangen heraus. Hory stand im Schatten eines Hauseingangs und sagte sich, dass seine paar Habseligkeiten es nicht wert waren, oben in der angemieteten Kammer gefasst zu werden. Er nahm nicht an, dass dort bereits Soldaten oder Medjas auf ihn warteten. Aber er hatte nicht vor, wie ein Tier in der Falle gestellt zu werden, falls sie kamen, während er oben war. Der Verlust seines Arztkastens schmerzte ihn jedoch sehr. Er ging zu Djuis Haus schräg gegenüber und klopfte an die Tür. Schlurfende Schritte erklangen, und die Binsentür wurde geöffnet. Ein Mann starrte Hory verschlafen an.

»Du bist Antef, der Händler?«, fragte Hory. »Der Bruder von Djui?«

Antef war unrasiert; seine Haare standen wirr nach allen Seiten, und sein Atem roch nach Schlaf und Bier. »Schon möglich. Was willst du?«

Hory hatte nicht gewusst, was er sagen oder tun wollte. Nun war es ihm klar. Sein Hieb traf Antef unterm Kinn, so heftig, dass dieser zurückstolperte und der Länge nach zu Boden fiel. Hory wollte sich auf ihn stürzen, sprang aber nur ins Innere und schlug die Tür hinter sich zu.

»Bist du wahnsinnig?«, brüllte Antef und rieb sich das Kinn. »Ich kenne dich doch gar nicht!«

»Aber das hier, das kennst du, ja?«, schrie Hory und zerrte den königsleinenen Schurz von den Hüften. Er knüllte ihn zusammen und schleuderte ihn in Antefs Schoß. Antef nahm das Knäuel und hob es verwirrt vor seine Augen, wo der empfindliche Stoff sich wieder entfaltete.

»Du hast ihn gestohlen«, schnaubte Hory, »und ich war so dumm, ihn mir von deiner Schwester andrehen zu lassen. Du handelst mit Diebesgut!«

»Wie kommst du dazu, so etwas zu behaupten?« Antef kam auf die Füße und betrachtete Hory, als überlege er, ob es ihm gelingen könnte, ihn mit Gewalt zu entfernen. Er verfügte jedoch nicht über die geschmeidige Gestalt seines ungebetenen Besuchers; sein Körper war schlaksig und steif. Er warf Hory das Leinenknäuel zu Füßen. »Ich handele mit allem, was sich mir anbietet, und das ist ganz sicher kein Diebesgut.«

Hory rieb sich die gepeinigte Hand. Nach diesem Hieb hatte sich der Schmerz entschlossen zurückgemeldet. »Dann verrate mir, woher du den Schurz aus Königsleinen hast.«

»Ich denke nicht daran! Ich bin ein ehrlicher Mann, und dies ist ein ehrliches Haus. Was hast du mit meiner Schwester zu schaffen?«

Es hatte keinen Sinn, weiter in Antef zu dringen. Hory bückte sich nach dem Schurz und wickelte ihn sich wieder um die Hüften. In diesem Moment hörte er Djuis Schritte auf der knarrenden Treppe.

»Ani!«, rief sie gedämpft. »Und du, Hory, bist hier? Ich erkannte deine Stimme.« Langsam und vorsichtig einen geschundenen Fuß vor den nächsten setzend, trat sie in den Lichtschein der einzigen Fackel, die den Raum erleuchtete. Sie trug das enge Kleid vom Vortag, ihr Gesicht war fein geschminkt, ihre Perücke zierten zahllose Perlen aus blauer Fayence. Djui war eine beeindruckende Erscheinung, wenngleich nicht zu vergleichen mit der entrückten Schönheit der Prinzessin.

»Draußen gehen Soldaten von Haus zu Haus«, sagte sie ruhig. »Sie werden gleich hier anklopfen. Ich sah sie von meinem Fenster aus.«

Antef löste sich aus seiner Erstarrung, ging zur Tür und legte eine Hand auf den Griff, ohne Hory aus den Augen zu lassen. »Das trifft sich gut. Ich werde ihnen sagen, dass sie diesen Eindringling mitnehmen sollen.«

Hory spürte Schweißrinnsale in seine Handflächen sickern. Er blickte von Djui zu Antef. »Sie sind meinetwegen unterwegs. Wenn du das tust, bin ich ein toter Mann.«

Antef schob die Brauen gegeneinander. »Was kümmert es mich? Du wirst schon wissen, was du getan hast.«

»Nichts. Ich tat nichts. Die Tatsache, dass ich mit einem gestohlenen Schurz aus Königsleinen herumlaufe, hat mich jedoch nicht in besserem Licht dastehen lassen. Jemand glaubt, ich hätte eine seiner Frauen umgebracht.«

»Und wer ist dieser Jemand? Vermutlich ein einflussreicher Mann, da seinetwegen die königlichen Soldaten hier herumstöbern.«

Hory fühlte Übelkeit; er musste sich an die Wand lehnen, da er glaubte, nicht länger stehen zu können. Von der Straße drangen schwere Schritte und Stimmen herein. In wenigen Augenblicken würden sie an die Tür dieses Hauses klopfen.

Djui war plötzlich bei ihm und legte den Arm um seine Schulter. »Bleib ruhig«, flüsterte sie. »Ich habe von dem Gerücht gehört, eine der Haremsdamen sei getötet worden. Auch wenn ich dich nicht gut genug kenne – du kannst so etwas nicht getan haben. Komm, geh hinauf in mein Zimmer. Und du, Antef«, sie winkte mit der anderen Hand ihren Bruder von der Tür fort, »du hältst den Mund.«

Antef gab nach, wenn auch mit verdrossenem Gesichtsausdruck. Hory stolperte die Treppe hinauf. Er hörte das bestimmende Klopfen der Soldaten an der Tür, hörte, wie Djui sie öffnete und die Männer mit unschuldigem Tonfall begrüßte. Er taumelte in Djuis Kammer, sank auf den Boden und versuchte verzweifelt, ruhig zu atmen.

Djui rieb mit kraftvollen Bewegungen ihre Hände mit einer Salbe ein, bis hinauf zu den Ellbogen. Sie hatte kräftige, sehnige Arme. Ihre Haare hatte sie zurückgebunden. Sie schüttete schwarzes Pulver in eine Schale, goss Wasser dazu und verrührte es mit einem Holzstecken. »Lässt sich das denn wieder herauswaschen?«, fragte sie, nahm die Schale unter den linken Arm und ging zu Hory, der in der Mitte ihrer Kammer auf einem Hocker saß, mit ebenfalls eingefettetem Oberkörper. Auf seine Anweisung hin hatte sie dieses Pulver auf dem Markt besorgt.

»Ich hoffe es«, brummte er, und sie lachte.

»Dies hier ist wirklich ein ekliges Zeug. Aber du hast ja keine Wahl. Ich habe die Soldaten abgewimmelt, aber du kannst dich nicht ewig hier in meiner Kammer verstecken.«

So war es. Man würde nach einem blonden Mann suchen. Einen mit hellerer Haut, als die Männer sie hier für gewöhnlich hatten. Eben nach einem Mann aus dem Delta.

Sie griff in die dickflüssige schwarze Paste und begann sie auf seinem Kopf zu verteilen. Zähe Tropfen wanderten über seinen Nacken. Das Haarfärbemittel war kalt, sodass ein Schauer über seinen Rücken jagte. Ich muss meine Unschuld belegen, dachte er. Ich muss es wenigstens versuchen, denn wenn ich es nicht tue, bleibt mir nur die Flucht irgendwo in die Ferne.

Du musst handeln, hörte er in Gedanken seine Schwester rufen. Es ist dein Leben, und niemand hat das Recht, es dir zu stehlen. Die Erinnerung an sie ließ ihn lächeln, und er verspürte eine angenehme Wärme, trotz des kalten Mittels, das sich zielsicher über seinen Kopf ausbreitete. Sie kannte keine Angst, fürchtete weder die Götter noch den strengen Vater. Oftmals handelte sie vorschnell und unklug, aber er hatte ihre Entschlossenheit stets bewundert. Sie nahm ihr Leben selbst in die Hand und kämpfte auf ihre Weise gegen die Tatsache an, die Tochter eines ehemaligen Seth-Priesters zu sein.

»So«, sagte Djui, »und nun?«

»Nun muss das Färbemittel wirken.«

»Gut. Dann werde ich jetzt einen Sänftenvermieter rufen, der mich zum großen Aton-Tempel bringt, denn so weit kann ich mit meinen armen Füßen noch nicht laufen. Vor dem Tempel erfährt man alle möglichen Neuigkeiten.« Sie säuberte ihre Arme mit Sand, schlang sich ein Tuch um die Schultern und trat vor die Tür. Hory hörte, wie sie einen Jungen rief, eine Sänfte zu holen. Er wartete eine Weile, dann trat er auf den rückwärtigen Hof, schöpfte Wasser aus dem Brunnen und goss es sich über die Haare. Schwarze und dann heller werdende Rinnsale rannen auf die Pflastersteine und sammelten sich in einer Abflussrinne.

Schließlich kehrte Djui zurück und griff erstaunt in seine Haare. »Die Geschichte von dem Blonden aus dem Delta, der die Dame Tji getötet haben soll und jetzt flüchtig ist, verbreitet sich in der Stadt«, berichtete sie. »Von der Prinzessin Maket-Aton ist jedoch noch viel mehr die Rede.«

»Sie ist tot«, sagte er düster.

»Nein. Noch lebt sie. Noch hat sie ihr Kind nicht geboren. Die Qualen, die sie seit zwei Tagen erduldet, müssen entsetzlich sein.«

Er sah sie noch vor sich, die angstgeweiteten Augen Maket-Atons. Wäre ihr doch wenigstens ein schneller Tod vergönnt.

Er beschloss, noch heute in die Stadt zu gehen. Djui hatte recht, er konnte sich nicht in ihrem Haus verstecken, wenngleich er nicht wusste, was er stattdessen tun konnte. Den wahren Mörder der Dame Tji finden und ihn vor das Angesicht des Gottes schleifen?

Wieder musste er an seine Schwester denken, der ganz sicher irgendetwas eingefallen wäre. Nun, er würde sich im Hafenviertel herumtreiben und herausfinden, wie und wo er einen Platz auf einem Schiff finden konnte, das ins Delta segelte. Nicht dass er die Absicht hatte, so rasch aufzugeben und zu flüchten. Aber die Aufgabe, einen Fluchtweg zu erkunden, mochte seinen Gedanken auf die nötigen Sprünge helfen. Sobald seine Haare trocken waren, verließ er das Haus. Mittlerweile war es dämmrig geworden. Er bemühte sich um einen offenen Gang, wie jemand, der nichts, aber auch gar nichts zu verbergen hatte. Sein Haar war schwarz, und seine etwas hellere Haut würde in der hereinbrechenden Dunkelheit nicht weiter auffallen, auch nicht der Salbenverband um seine Hand. Die Soldaten würden nach einem Mann Ausschau halten, der seine auffälligen Haare unter einer Perücke verbarg. Da er es nicht wagen konnte, seine Armreife anzulegen, auf denen die Schriftzeichen seines Berufes eingraviert waren, hatte Djui ihm außer einem einfachen Schurz eine schmale Kette aus zwei Reihen Bronzeperlen gegeben, denn jeder Ägypter, der etwas auf sich hielt, selbst wenn er arm war, trug etwas Schmuck.

Er ging zum Hafen, wo er hoffte, dass die Zungen halbbetrunkener Schiffsleute locker saßen. Einen Reiseplatz auf einem Schiff bekam er ohnehin nur dort. Nach einiger Zeit betont gleichmütigen Dahinschlenderns setzte er sich an den langen steinernen Kai und beobachtete den regen Schiffsverkehr. Noch um diese Stunde waren die Schreiber an ihrer Tischreihe beschäftigt und zählten und notierten jedes Schati Getreide, jeden Krug Wein, jeden Kasten mit exotischen Dingen, von denen Hory nicht die geringste Vorstellung hatte, wo sie wohl herstammten.

Ein letztes Schiff legte an und spuckte Fahrgäste aus: Neuankömmlinge mit hochfliegenden Hoffnungen und Plänen. Einige warfen sich zu Boden und küssten die vermeintlich heilige Erde, bevor sie sich pflichtgemäß in die Reihen vor den Schreiberständen stellten, wo sie peinlich genau geprüft wurden. Er sah sich selbst, wie er voller törichter Erwartungen vom Schiff gestiegen war. Jede Einzelheit war ihm im Gedächtnis geblieben: der Schweißgeruch, den er selbst wie alle anderen ausströmte, die tagelang auf dem Schiff dichtgedrängt verbracht hatten. Das sichere Gefühl seines Leinensacks, der den Arzneienkasten enthielt. Das Amulett, das der Schreiber verächtlich an sich genommen hatte, und das jetzt verlorene und nutzlose Empfehlungsschreiben seines Gauherrn.

Zwei Tage, dachte Hory benommen. Es ist erst zwei Tage her, seit ich hier ankam. Seth und Aton und welcher Gott sonst noch – zwei Tage!

Ja, jede Einzelheit wusste er noch, bis hin zu dem Fremden, der ihn angesprochen hatte, er solle zu den Hörnern der Hathor gehen, wo er offenbar Ersatz für sein Amulett bekommen könne. Was damit gemeint war, wusste er immer noch nicht.

Nun, das war gleichgültig, er wollte kein Amulett. Er wartete, bis die Männer der Besatzung vom Schiff kamen. Es waren nur fünf, die geschlossen auf eine Schenke zumarschierten. Licht fiel auf die Straße, als sie die Binsentür öffneten; Gelächter und Musik drangen wie eine mächtige Welle heraus, um dann wieder zu verstummen, sowie sie eingetreten waren. Hory ging über den Platz und öffnete seinerseits die Tür. Er stellte fest, dass es hier – zumindest in dieser Schenke – auch nicht gesitteter zuging als in anderen Häfen. Obwohl das Zeichen des Aton, die Sonnenscheibe mit den Strahlenhänden, ungelenk an eine Wand gemalt war, schien sich hier niemand für die Frage zu interessieren, ob es tatsächlich nur einen Gott gab. Der Raum war groß, vollgestopft mit Tischen und Bänken, aber sehr sauber. Die Schiffsleute hatten sich bereits verteilt und empfingen erwartungsvoll die fast nackten Schankmädchen, die geschickt Bierkrüge verteilten und sich gleichzeitig den Händen erwehrten. Unermüdlich trugen sie dampfende Schüsseln mit Linseneintopf und Brot zu den Tischen. Hory sah zu, wie die Männer die würzig riechenden Speisen herunterschlangen, während sie die Köpfe zusammensteckten und sich lautstark unterhielten. Er trat an ihren Tisch, wartete ab, ob es ihnen vielleicht missfiel, wenn er sich zu ihnen gesellte, und setzte sich dann. Sofort war eines der Mädchen bei ihm und stellte einen hölzernen Becher vor ihm ab. Er schüttelte den Kopf. Er konnte das Bier nicht bezahlen, und die schlechte Luft reizte ihn nicht zum Trinken. Schließlich fragte er seinen Sitznachbarn nach einem Schiffsplatz.

Der Mann blickte von seinem Eintopf auf. Er war unrasiert und langmähnig und wischte mit einer rissigen Hand über seinen Mund. »Wo willst du denn hin?«

»Ins Delta.«

Der Mann widmete sich wieder seinem Essen. Unbeteiligt schaufelte er es mit einem großen Hornlöffel in sich hinein. »Da fährt aber so bald nichts hin.«

»Ich bin nicht wählerisch, ich nehme jedes Schiff. Ich zahle mit einem Stück Königsleinen.«

»Ah.« Der Mann blickte erneut auf; er hatte sich gesättigt und griff nach seinem Bierkrug. »Dann geh zur Faust von Bes, ins dritte Haus, dort wohnt der Eigner unseres Schiffes. In einem halben Monat geht es zurück nach Memphis.«

»Die … Faust von Bes?«

»Ja. Du kennst dich hier wohl nicht aus, wie? Das ist ein Platz nördlich von hier, so klein, dass nur fünf Häuser dort stehen, wie die Finger einer Faust.« Zur Bekräftigung hob der Mann seine rechte Hand und ballte sie vor Horys Nase; es hätte genauso gut eine Drohung sein können.

Ein Platz, die Faust von Bes … Das Begreifen rollte allmählich in Horys Gedanken und ließ eine mögliche Fahrt nach Memphis vergessen.

Geh zu Hathors Hörnern, dort bekommst du, was immer du suchst

»Hathors Hörner – ist das eine Straße?«, fragte er.

»Jetzt ist es genug mit der Fragerei«, war die ablehnende Antwort. Hory ahnte, dass er hier nichts mehr erfahren würde, denn jetzt lenkte eine Frau die Männer ab, die zu einsetzender Flötenmusik tanzte. Er stand auf und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie sich am Nachbartisch ein Mann erhob und ihm zur Tür folgte. Ein Soldat war es nicht. Hory blieb am Eingang stehen und drehte sich um. Der Mann hielt inne und lächelte schief.

»Ich glaubte deine Stimme zu erkennen«, sagte er zögernd, »aber als ich mich zu dir umdrehte, war ich mir nicht mehr sicher, ob du es wirklich bist.« Er hob zögernd eine Hand, deren Mittelfinger dick umwickelt war. »Jemand hat mir geholfen, und ich konnte ihn nicht bezahlen. Das warst du, ja? Aber du siehst jetzt irgendwie anders aus.«

»Ich war es, und ich sah schon immer so aus«, brummte Hory und wandte sich erleichtert zur Tür. Der Frachtschiffer grinste verlegen.

»Ich habe gehört, wie du nach Hathors Hörnern gefragt hast. Du findest sie, wenn du dich, sobald du die Schenke verlässt, rechts hältst. Es ist eine Straße, aber sie wird nur heimlich von ihren Bewohnern so genannt. Du erkennst sie daran, dass sie eine scharfe Biegung macht, eben wie Hathors Kuhgehörn.«

»Danke.« Hory ließ ihn stehen und trat hinaus in die kühle Nachtluft.

Hathors Hörner waren leicht zu finden; in einer weitgehend auf Papyrusbögen entworfenen Stadt waren Straßen, die Biegungen machten, selten. Als er die Spitze eines der beiden Hörner betrat, erwartete er eine lebhafte Straße vorzufinden, in der die Buden der Händler aneinanderklebten und belagert wurden von einem stetigen Menschenstrom. Wo sonst konnte man Verbotenes kaufen, wenn nicht an einem Ort, an dem es schlichtweg alles gab? Doch Hathors Hörner lagen in fast völliger Dunkelheit vor ihm. Nur wenige Lichter drangen durch die jetzt in der Nacht verschlossenen Fensterläden. Niemand war unterwegs, bis auf einen Betrunkenen, der Hory bestätigte, dass er sich am richtigen Ort befand. Hory ging bis zum Ende der Straße und dann wieder zurück. Keine Händler, keine Stände, nichts.

Da er sich in der Stadt der Sonne befand und nicht in irgendeiner anderen, musste er nicht auf möglichen Unrat am Boden achten, auch nicht auf zwielichtige Gestalten, die beim Anblick eines einsamen nächtlichen Wanderers auf dumme Gedanken kamen. Die Stadt vermittelte Sicherheit, doch diese schien ihm trügerisch zu sein. Irgendwo in der Dunkelheit, vielleicht weit draußen in der Wüste, vielleicht im Harem – ganz sicher sogar im Harem –, lauerte eine unfassliche Bedrohung: das Böse, das umging und Haremsdamen tötete.

Er rief sich die Worte des Mannes ins Gedächtnis, der von dieser Straße gesprochen hatte: Geh zu Hathors Hörnern, dort findest du, was du haben willst. Demnach konnte es nicht allzu schwierig sein, den richtigen Hauseingang zu finden oder den richtigen Mann. Vielleicht brauchte er nur oft genug auf und ab zu gehen, bis jemand kam und ihn ansprach. Und falls sich auch dann nichts tat, würde er bei Tag noch einmal hierherkommen und …

In der Einsamkeit der Nacht erklangen die näher kommenden Schritte unnatürlich laut. Unwillkürlich drückte sich Hory in die tiefen Schatten der Häuserwände. Die gleichförmigen, schnellen Schritte ließen ihn an Soldaten denken, aber es waren vier Nubier mit den Tragstangen einer Sänfte auf den muskulösen Schultern. Sie marschierten an ihm vorbei und machten vor einer unscheinbaren Tür Halt, unter der ein schmaler Streifen Licht zu sehen war. Die Sänfte verdeckte die Tür und war mit Vorhängen verhangen, sodass Hory nicht erkennen konnte, wer da kam und anklopfte. Er hörte die Tür in ihren Bronzeangeln quietschen, sah zwei Füße und den Saum eines Mantels im Schein des plötzlich auf die Straße flutenden Lichtes, als der Gast aus der Sänfte stieg und das Haus betrat.

Bereits nach kurzer Zeit schwang die Tür wieder auf. Der Besucher setzte sich in seine Sänfte, wobei das gestärkte Leinen seines Mantels knisterte, und gab mit einem Schnalzen den Befehl zum Aufbruch. Dann lagen die Häuser wieder verlassen da.

Hory überlegte, ob das, was er tat, richtig war, aber welche Wahl blieb ihm? Er wollte die Straße überqueren, auf die Tür zu, als eine zweite Sänfte heranschwebte. Auch hier hingen von einem Baldachin rundum Vorhänge, aber dies war eine Sänfte aus dem Harem, wie Hory an den Armreifen und Schurzen der Träger erkannte. Er duckte sich wieder in den Schatten.

Erneut folgte auf das verhaltene Klopfen das vorsichtige Öffnen der Tür. Hory wartete, dass der Neuankömmling aus der Sänfte stieg, um im Haus zu verschwinden, aber hinter den Vorhängen rührte sich nichts. Nur eine leise, eindeutig weibliche Stimme war zu hören. Er konnte die Erwiderung des Ansässigen ebenso wenig verstehen, aber in seiner dunklen Stimme lag Unbehagen.

Und dann hörte Hory, wie sein Name fiel.

Er erstarrte. Hatte die Frau in der Sänfte tatsächlich seinen Namen genannt? Er war sich nicht sicher. Und selbst wenn – es gab sicher viele, die so hießen. Zwar sah er von dem Hausbewohner nur die Beine und den Schatten, aber es schien, als verneige er sich.

Sie könnte eine Nebenfrau des Pharao sein, überlegte Hory. Oder eine hochrangige Dienerin.

Der Mann schob sich zurück ins Haus und schloss die Tür. Falls er ein Händler war, so hatte er offenbar nichts verkauft. In völliger Stille glitt die Sänfte auf den kräftigen Schultern der Nubier die Straße entlang. Hory wartete, ob ein dritter Besucher auftauchte, aber Hathors Hörner blieben so verlassen wie zuvor. Schließlich richtete er sich auf und überquerte die Straße. In Augenhöhe waren ungelenke Hieroglyphen in die Tür geschnitzt. Neben den wohlbekannten Zeichen für den entmachteten Götterkönig waren es zwei Schilfblätter, dazwischen der Mund. Demnach hieß der Händler Iri-Amun. Darunter stand in hieratischer Schrift: Schmuck, Figuren, Anbetungsgegenstände.

Hory klopfte. Zunächst tat sich nichts, dann hörte er schlurfende Schritte. Es war jedoch nicht der Händler, der die Tür einen Spalt weit öffnete, sondern eine Frau.

»Ja?« Sie musterte ihn misstrauisch, wobei sie ihr Gewand mit plumpen Fingern unter dem Hals zusammenhielt, als hätte sie es sich rasch überwerfen müssen. »Wer immer du bist, du hast dich in der Tür geirrt. Gute Nacht, und gelobt sei Aton.«

»Ich glaube nicht, dass ich mich irre«, erwiderte Hory. »Ich will zu Iri-Amun.«

»Es ist spät. Komm morgen wieder.«

»Das, was ich haben will, kauft man besser nachts.«

»Ach ja? Was immer das sein sollte, Iri-Amun will jetzt niemanden mehr sehen. Niemanden mehr, hast du verstanden!« Sie schlug die Tür zu, und es herrschte Stille.

Der Zorn des Seth

Подняться наверх