Читать книгу Der Zorn des Seth - Sabine Wassermann - Страница 9
1.
Оглавление»Willkommen in der Stadt der Sonne und der Freude, wo die Strahlen des Sonnengottes Aton alles Leben wärmen! Willkommen in der Stadt des Horizonts, wo alles für Aton lebt und ihm gehört. Willkommen im gesegnetsten und glücklichsten Ort auf Erden: Achet-Aton!«
Die Frau hinter Hory antwortete auf diese Begrüßungsworte mit fröhlichem Lachen und hob ihren Säugling hoch, damit er über die Köpfe der Neuankömmlinge hinweg die gesegnete Stadt bewundern konnte. Der Schreiber, der am Kai stand und das Schiff willkommen geheißen hatte, hielt noch immer die Arme erhoben; seine Zehen schwebten über dem unruhigen Wasser des Nils, und seine Miene war verzückt. Hory hatte den Eindruck, als wolle er die Sonne und den ganzen Himmel anbeten. Dann verlor er den Mann aus den Augen, denn die Leute drängten zur Laufplanke, um endlich den heiligen Ort zu betreten.
Die Frau mit dem Kind versetzte ihm einen Rippenstoß, als sie an ihm vorbeidrängelte, um als eine der ersten auf die Laufplanke zu kommen. Er schulterte seinen Leinenbeutel. Darin befanden sich neben einer billigen Perücke und dem einzigen Sandalenpaar nur sein Arzneienkasten, in dem er ein paar medizinische Papyrusrollen aufbewahrte, dazu die Kupferstücke im Wert von zwanzig Schati, die ihm noch geblieben waren. Sein kostbarster Besitz waren die beiden bronzenen Armreife, die er oberhalb der Ellbogen trug und ihn als Arzt auswiesen. Respekt verschafften sie ihm jedoch nicht, und er musste aufpassen, nicht von der Meute in den Fluss geschoben zu werden, sobald er seinen Fuß auf die Planke gesetzt hatte.
Am Kai ließen sich einige sofort nieder, um den Boden zu küssen, und die hinteren zeterten, weil es nicht weiterging. Die Frau mit dem Säugling stolperte fast über die knienden Männer, und Hory beeilte sich, von der Planke zu kommen. Hier waren die Pflastersteine sauber gefegt; es gab keinen Unrat, wie es in den Häfen üblich war, die er auf seiner Reise kennengelernt hatte. Und es fehlte der Gestank nach Urin und billigem Bier, ebenso die Flüche. Die Hafenarbeiter verrichteten ihre Tätigkeiten schweigend. Er löste sich aus dem Pulk und trat zu einem der dutzend Binsentische, hinter denen Schreiber saßen und die Namen der Anreisenden aufzeichneten.
»Ich bin Hory«, erklärte er.
»Warum bist du hier, und wie lange willst du bleiben?«, fragte der Schreiber und tauchte seinen Binsengriffel in die schwarze Tinte. Anders als jener, der die begeisterten Begrüßungsworte ausgerufen hatte, machte er einen teilnahmslosen Eindruck.
»Nun ja, für immer, hoffe ich.«
Nun blickte der Schreiber auf. Für einen Mann, der den ganzen Tag am Hafen hockte, wirkte er frisch. Seine Perücke lag in tadellosen Locken, der Schurz in ebenso tadellosen Falten. »Jeder will nach Achet-Aton, um sein Glück zu machen«, sagte er, während er Hory mit jenem überheblichen Blick bedachte, dem er während seiner Reise fortwährend ausgesetzt war. Hory war recht jung für einen Arzt, und er besaß blonde Haare, wie sie hin und wieder bei Bewohnern des Deltas vorkamen. »Aber nicht jeder darf sich hier ansiedeln, das weißt du hoffentlich. Du kommst aus dem Delta, wie unschwer zu sehen und zu hören ist?«
Hory setzte seinen Beutel vor der Nase des Schreibers ab und kramte eine kleine Schriftrolle hervor. Sein Delta-Akzent war schwach, aber nicht auszumerzen. »Ich bin Arzt und habe hier ein Empfehlungsschreiben meines Lehrherrn, der der Leibarzt des Gaufürsten von Chenti-iabeti ist. Der Gaufürst selbst hat das Zeugnis gesiegelt. Ich suche Arbeit.«
Der Mann studierte flüchtig das Schreiben und das Siegel. »Ich habe an deinen Armreifen schon gesehen, dass du Arzt bist. Wie alt bist du überhaupt? Und aus welchem Winkel des Gaus kommst du?«
Hory bemühte sich, seinen aufkommenden Ärger zu verbergen. »Ich bin zwanzig Jahre alt, aber in Auaris habe ich schon …«
Der Schreiber winkte ab und gab ihm das Schriftstück zurück. »Nein, nein, verschone mich mit deiner Geschichte. Du bist ganz zweifellos ein begabter Schüler und hast, wie auch immer, die Aufmerksamkeit des Gauherrn erregt, der in seiner Weinseligkeit dieses Schreiben unterzeichnete. Und nun? Erwartest du, dass der Pharao höchstpersönlich nach dir schickt, um dir seine göttliche Gesundheit anzuvertrauen? In der Stadt gibt es Hunderte von Ärzten; niemand wartet auf einen Bengel aus … aus … Woher, sagtest du, kommst du?«
»Aus Auaris.«
»Aus Auaris«, wiederholte der Schreiber und starrte ihn an. Während er gesprochen hatte, war seine Hand über eine Tonscherbe geflogen, um Horys Namen aufzuschreiben. Jetzt waren seine Hände erstarrt. »Auaris … die Heimat des falschen Gottes. Die Stadt des Seth, des Widersachers der Sonne. Und du, einer aus Auaris, kommst hierher!«
Die Stadt des Seth – Hory schüttelte in Gedanken den Kopf. Auaris besaß einen großen Tempel, der Seth, dem Gott der Wüste, geweiht war. Früher war das Heiligtum bedeutend gewesen, doch seit Aton, die Sonnenscheibe, die anderen Götter verdrängt hatte, gab es dort nichts mehr, weder Priester noch Kultgegenstände.
»Ich bin in einem Dorf, das zu Auaris gehört, geboren und aufgewachsen, aber ich …«, begann er, und erneut fiel ihm der Mann ins Wort.
»Halt den Mund.« Der Schreiber strich sich nachdenklich über das sorgfältig rasierte Kinn, als überlege er, ob er es verantworten könne, den Neuankömmling in die heilige Stadt zu lassen. »Rede nur weiter, wenn ich dich frage. Zeig mir deine Sachen.«
Wütend presste Hory die Lippen zusammen und schob seinen Beutel über den Tisch. Der Schreiber griff hinein und befingerte den armseligen Inhalt, doch plötzlich stieß er einen Schrei aus und hielt eine Halskette hoch, an der ein kleiner Anhänger hing.
»Was haben wir denn hier?« Seine Stimme überschlug sich im Bemühen, die Aufmerksamkeit der anderen Schreiber auf sich zu ziehen. »Ein Seth–Tier!« Er schwenkte den Anhänger vor Horys Gesicht. »Das Amulett des falschen Gottes! Bist du wirklich so dumm, dass du nicht weißt, dass man so etwas nicht tragen darf?«
»Ich weiß es durchaus«, erwiderte Hory ruhig, aber innerlich schalt er sich für seinen Leichtsinn. Er hatte dieses Amulett völlig vergessen. Es war ein Geschenk seines Vaters gewesen, vor vielen Jahren, als die Verehrung Seths noch erlaubt gewesen war. An jenem Tag war er fünf Jahre alt geworden und hatte erfolgreich seine ersten Schreibübungen gemacht. Seitdem trug er es stets; nur während seiner Schiffsreise hatte er es abgelegt, da ihm nicht entgangen war, wie sehr er damit abschätzige Blicke auf sich zog.
»Es ist ein Erinnerungsstück«, sagte er. »Nichts weiter. Ich verehre Seth nicht.«
Der Schreiber schien ihm nicht zuzuhören; er betrachtete ausgiebig und mit sichtlichem Abscheu den einfach gearbeiteten Bronzeanhänger und schob ihn schließlich in eine Falte seines Gewandes.
»Ich sollte dich aufs nächstbeste Schiff zurückschicken. Viele der Reisenden haben Amulette bei sich, die hier nicht gern gesehen werden, jedoch bist du der erste, der so etwas mit sich trägt. Aber du hast mich an einem guten und großzügigen Tag erwischt. Nun ja, jeder Tag in Achet-Aton ist ein guter Tag. Also hör zu, du begnadeter Arzt: Du darfst dich zehn Tage lang in Achet-Aton aufhalten. Das kostet dich zwei Silberschati. Sieh zu, dass du nicht unangenehm auffällst … Solltest du es während dieser Zeit bis zum Schlafzimmer des Einen schaffen und seinen königlichen Schnupfen behandeln, während er dir die Sorgen des Reiches anvertraut«, er lachte über seine geistreiche Bemerkung, »nun, dann darfst du meine Anordnung getrost vergessen. Und jetzt darfst du gehen und irgendwo den Schweiß von der Reise abwaschen. Sauberkeit ist gefragt in Achet-Aton.«
Hory bezahlte den geforderten Preis, der in dieser unverschämten Höhe vielleicht nur für ihn galt, raffte seine Sachen zusammen und trottete davon. Es hatte keinen Sinn, das Amulett zurückzufordern; er würde es als eine Art Bezahlung für seine Anwesenheit in Achet-Aton betrachten müssen. Schließlich war er endlich am Ziel: der Stadt des Lichts, dem aufregendsten, betörendsten, schönsten Ort der Welt. Hier wartete seine Bestimmung, die er sich bereits tausendmal in den glühendsten Farben ausgemalt hatte. Was kümmerten ihn die Götter, ob Seth oder Aton? Echnaton hatte die falschen Götter entlarvt und verkündet, dass es nur einen einzigen gab, nämlich seinen Vater, die Sonne. Nun, er musste es wissen, schließlich war er der Pharao, der Sohn der Sonne, selbst der Gott auf Erden, der Mittler zwischen Erde und Himmel. Wer imstande war, innerhalb einer Handvoll Jahre diese prächtige Stadt aus dem Nichts zu schaffen, musste wahrhaftig der allmächtigste und klügste Pharao sein, der die Zwei Länder je beherrscht hatte!
Breite Straßen führten vom Hafen weg ins Innere der Stadt. Die breiteste war eine Prachtstraße, wie es sie vermutlich nicht einmal in Theben gab, von herrschaftlichen Häusern gesäumt. Alles war gepflegt und ordentlich, selbst jetzt, da die Zeit des heißen, sandigen Südwindes ihrem Ende entgegenging. Er fühlte sich ein wenig fehl am Platz, mit seinem rissigen Schurz und den staubigen Haaren. Sobald eine goldbeschlagene Sänfte seinen Weg kreuzte, wich er aus und musterte die Linien adliger Damen hinter hauchzarten Vorhängen aus sicherer Entfernung. Wie sollte er jetzt vorgehen? Dummerweise waren die Worte des Schreibers so falsch nicht gewesen. Alles, was er vorweisen konnte, war sein Empfehlungsschreiben, von dem er nicht wusste, wem er es zeigen konnte.
Weiter voraus herrschte ausgelassener Trubel wie auf einem Volksfest. Die Prachtstraße verlief unter einer überdachten Brücke hindurch. Fahnenmasten, an denen blau-goldene Flaggen mit der Namenskartusche Echnatons flatterten, säumten eine niedrige Brüstung. Die Neugier trieb Hory näher, denn er sah Leute auf der Brücke stehen und herunterwinken.
»Das ist nicht wahr«, raunte er; ihm stockte der Atem, als er das rotweiße Gebilde auf dem Kopf eines der Männer sah. »Das ist … die Doppelkrone!«
Jemand in seiner Nähe lachte. »Da ist wohl wieder ein unwissender Neuer angekommen, wie? Das da oben ist in der Tat der Pharao.«
Hory blieb stehen und wandte sich dem Fremden zu, einem älteren Mann, der überhaupt nicht beeindruckt schien. »Ist es so selbstverständlich, ihn zu sehen?«
Der Alte stützte sich auf seinen Stock. »Ihn und die Königsfamilie. Ihre Sänften kann man überall antreffen.«
Unterhalb der Brücke herrschte dichtes Gedränge. Eine riesige Menschenmenge hatte sich versammelt, winkte und jubelte dem Pharao zu. Viele schwangen Palmwedel und versuchten, Blüten hinaufzuwerfen. Echnaton seinerseits warf mit huldvollen Gesten kleine Geschenke in die Menge. Die Menschen gebärdeten sich wie toll; sie warfen sich auf den Boden und schnappten nach allem, was die göttlichen Hände des Herrschers berührt hatten.
»Was wirft er da herunter?«, fragte Hory.
»Das Ehrengold.« In der Miene seines zufälligen Begleiters lag Abfälligkeit. »In den alten Zeiten war die Verleihung des Ehrengoldes eine achtbare Angelegenheit. Heute balgen sich die Würdenträger darum wie Kinder um Honigkuchen.«
Hory hatte noch nie einen königlichen Würdenträger, geschweige denn ein Mitglied des Herrscherhauses aus solcher Nähe gesehen. Echnaton schien sich über seine Hofbeamten zu erheitern, die auf den Knien nach dem Ehrengold schnappten. Es war in der Tat ein Anblick, der ihn fassungslos machte.
»Wie es scheint«, erwiderte er, »haben alle ihren Spaß daran, nur du nicht.«
Der Alte seufzte, und nun galt sein verächtlicher Blick ihm. »Achet-Aton ist ein funkelnder Edelstein, der die Sinne verwirrt. Die Menschen strömen hierher – so wie du –, weil sie glauben, hier ihre Lebensfreude zu finden. Aber alles ist Blendwerk.«
»Blendwerk?« Hory breitete die Arme aus. »Allein diese Straße mit ihren Prachtbauten ist eine Reise wert!«
Der Mann setzte schwungvoll seinen Stock auf das Pflaster und schritt aus. »O ja, das stimmt allerdings. Das Gebäude zu deiner Linken ist der Große Aton-Tempel, neben den Pyramiden bei Memphis das größte Bauwerk der Welt. Er heißt Das Haus des Aton in Achet-Aton. Eigentlich ist unser Herrscher ein recht fantasievoller Mensch, aber die Namen, die er seinen Bauwerken gegeben hat, sind allesamt nicht sehr einfallsreich.« Da Hory ohnehin in diese Richtung wollte, blieb er an der Seite des Mannes, denn er hoffte auf ein paar Hinweise, die ihm weiterhalfen. »Das Haus dahinter ist das Haus der Freude des Aton, der Königspalast«, fuhr der Fremde fort, mit einer trockenen und spöttischen Stimme. »Im Volksmund nennt man es jedoch das Freudenhaus des Aton. Ich habe gesehen, was man dir am Hafen genommen hat: dein Amulett. Geh zu Hathors Hörnern, dort findest du alle möglichen verbotenen Sachen.«
»Hathors Hörner? Wovon redest du?«, rief Hory, aber der alte Mann marschierte geradewegs unter der Brücke hindurch, und hier war die Menge so dicht, dass er ihm nicht mehr folgen konnte.
Er blickte zur königlichen Familie hinauf. Hinter Echnaton standen Frauen, von ihrem Schmuck schier niedergedrückt, und warteten scheinbar gelangweilt. Hory sah die Große Königliche Gemahlin Nofretete, die Königin der Sonne, und schob sich näher, um das berühmte Gesicht, das angeblich schönste ganz Ägyptens, besser in Augenschein zu nehmen. Er musste sich vergegenwärtigen, dass er wirklich und wahrhaftig diesen gottgleichen Wesen nah war – es erschien ihm immer noch unbegreiflich.
Jetzt stand er unterhalb der Brücke. Unmittelbar über ihm blickte ein Mädchen auf ihn herab. Sie war schmal, hübsch und noch sehr jung, dreizehn Jahre vielleicht. Ihre Perücke schien schwer auf den schmalen Schultern zu ruhen. Sie hatte eine Hand auf dem Geländer, die andere auf dem Arm einer Dienerin. Ihr Mund stand offen, als habe sie Mühe, Atem zu holen. Sie löste sich schwerfällig vom Geländer und umfasste ihren prallen, vorstehenden Bauch. Hory nahm an, dass ihre Schwangerschaft dem Ende entgegenging, obwohl sich das bei diesem jungen Mädchen nicht sicher sagen ließ. Er vermutete, dass sie eine Tochter des Königs war.
Wie hatte es dazu kommen können, dass ein so junges Mädchen geschwängert worden war? Die Prinzessinnen hatten doch sicherlich Hunderte von Dienerinnen um sich, die sie nicht aus den Augen ließen. Hory fragte sich, ob sie die Geburt überleben würde. Sie war zu zierlich, und in ihren großen Augen lag Furcht.
Echnatons schrilles Lachen entriss ihn diesen Überlegungen. Etwas Schweres klatschte gegen sein Knie und fiel zu Boden. Hory blinzelte überrascht. Eine Kette aus goldenen Ringen lag zu seinen Füßen. Er hob den Kopf und sah ein paar Schritte entfernt einen Hofbeamten mit schiefsitzender Perücke und hochrotem Gesicht, um dessen Hals bereits mehrere Goldketten hingen. Offenbar hatte Echnaton in seinem großzügigen Überschwang nicht richtig gezielt. Der Hofbeamte machte einen Schritt auf Hory zu und streckte die Hand aus. Echnaton kicherte vergnügt, die Umstehenden lachten. Hory hob die Kette auf.
Ich könnte das Gold besser gebrauchen, dachte er. Die gierigen Blicke des Würdenträgers ärgerten ihn, und er warf die Kette zurück auf die Brücke. Sie streifte die Schulter eines jungen Mannes und landete in den Händen einer Prinzessin.
Für einen Augenblick wurde es still in der Menge. Der Mann – ein jüngeres Ebenbild des Königs – und der Hofbeamte machten empörte Gesichter. Echnaton jedoch lachte nur, und auch die Prinzessin schien über den Zwischenfall eher erfreut zu sein.
Sie war offenbar die älteste der Schwestern, nicht älter als siebzehn oder achtzehn, und das schönste Geschöpf, das Hory je gesehen hatte. Sie beugte sich über die Brüstung. Für einen Moment glaubte er, sie wolle ihm das Gold geben, aber stattdessen reichte sie es dem Mann, für den es gedacht war.
Hory wollte unter der Brücke hindurchgehen, da sah er, wie oben der jüngere Mann jemanden herbeiwinkte. Einen Soldaten, der mit erhobenem Speer auf Hory zueilte. Hory wollte der Waffe ausweichen, aber er rechnete nicht damit, dass der Soldat ihn über dem Kopf schwang, um den Schaft in seine Kniekehlen zu stoßen. Hart fiel er auf die Knie.
»Eine solche Unverschämtheit will ich nicht dulden«, ertönte eine Stimme von oben herab. Sie gehörte dem jüngeren Mann. Auf den Knien kauernd blickte Hory hinauf. Die Prinzessin legte eine Hand auf die Schulter des Mannes und redete auf ihn ein. Wollte sie ihn beschwichtigen? Er schüttelte jedoch nur wütend den Kopf und rüttelte den Pharao an der Schulter. Hory spürte, wie kalter Schweiß zwischen seine Schulterblätter hinabrann, und mühsam unterdrückte er den Drang, aufzuspringen und wegzulaufen.
Echnaton neigte sich über die Brüstung. »Er scheint nur ein Herumtreiber zu sein. Aton ist gnädig; er soll verschwinden.«
Dem guten Gott Aton sei Dank! Hory beeilte sich, weiterzukommen.
Er hatte es wohl eher Echnatons Gleichgültigkeit zu verdanken, dass er ungeschoren davonkam, weniger seiner Gnade. Dass er der königlichen Familie unangenehm aufgefallen war, schien ihm ein denkbar ungünstiger Anfang in seiner neuen Stadt zu sein. Als er unter der Brücke hindurch war, warf er einen Blick zurück. Alle standen noch auf der anderen Seite, nur jene Prinzessin war zurückgetreten, um ihm nachzublicken. Sie schien zu lächeln.
Er fand sich in einer Straße wieder, in der die Häuserwände mit Verkaufsbuden gesäumt waren. Hier starrten hochwohlgeborene Damen aus der Höhe ihrer Sänften herab und schickten ihre Diener vor, um dieses oder jenes genauer in Augenschein zu nehmen. Hory staunte mehr über die Pracht der vergoldeten Sänften und die feinen Stickereien auf den Baldachinen und Sonnenschirmen als über die Vielfalt der Waren. Er stellte sich vor, wie er selbst in einer solchen Sänfte hockte und über das einzige Problem nachsann, das ihn in seiner Stellung als erfolgreicher Arzt drückte, nämlich wie es ihm gelang, seinen Bauch flach zu halten. Allerdings schienen sich die männlichen Adligen darüber keine Gedanken zu machen, denn sie ließen ihre Bäuche fast stolz über den flatterhaften Stoffen hängen. Es war offenbar üblich, die Hüfttücher im Rücken hoch zu tragen, vorne jedoch tief, unterhalb des Bauches geknotet, mit Hilfe bunter, goldbestickter Bänder, die auf den Schenkeln auflagen und beim Gehen hin- und herschaukelten. Hory bewunderte die Pracht des Schmuckes: Da gab es Arm- und Fußreife in allen erdenklichen Formen, Halskragen, so breit, dass die Schultern darunter verschwanden, dazu schwere Ohrgehänge und Perücken. Die Damen trugen weite, durchscheinende Kleider, die ihre sinnlichen Körper mehr betonten als verbargen. Sie öffneten ihre Sänftenvorhänge und betrachteten neugierig den blonden jungen Arzt.
Hory wusste nicht, ob ihn die Blicke freuen oder ärgern sollten. Allmählich war es an der Zeit, sich Gedanken über die Art und Weise zu machen, wie er seinen Lebensunterhalt bestreiten sollte. Er fragte sich durch und fand sich bald auf einem Marktplatz wieder, wo tausend Dinge angeboten wurden, solche, die er kannte, und solche, die ihm völlig fremd waren. Der Geruch von gebratenem Geflügel und Rindfleisch machte ihn hungrig. Die Händler hatten ihre Stände scheinbar wahllos auf dem ausgedehnten Platz verstreut, oder sie hockten vor ausgebreiteten Tüchern, auf denen Töpferwaren lagen, Beutel mit Gewürzen, flache Brotfladen, Stoffballen, Käfige mit Tauben und Enten. Er wanderte umher und entdeckte einen Mann, der unter einem Sonnensegel saß, neben sich einen Tisch, auf dem allerlei Arzneibeutel und bronzene Instrumente lagen. Eine ältere Frau saß vor ihm auf einem Klapphocker und hielt ergeben still, während der Mann ihr linkes Auge säuberte.
Hory wartete in angemessener Entfernung. Die Frau quälte sich offenbar mit einem Gerstenkorn. Vorsichtig betastete sie die dicke Salbenschicht, die der Arzt aufgetragen hatte, und nickte zu den Ratschlägen, die er ihr auftrug. Sie bezahlte mit einem Hen Getreide und verschwand in der Menge, und sofort sprach ein Mann den Arzt an und zeigte seine rechte Hand.
Hory trat näher. »Sei gegrüßt. Du bist ein vielbeschäftigter Mann, nicht wahr? Ich suche eine Anstellung.«
»Bei mir?« Der Arzt, der unverwandt die Handverletzung seines neuen Patienten betrachtet hatte, hob den Kopf. Er musterte Horys Armreife. »Du bist doch selbst Arzt, warum willst du mein Gehilfe werden?«
Hory sah zu, wie er feuchte Salbeiblätter auf den Mittelfinger des Mannes legte. Offenbar hatte ein scharfer Gegenstand das Fleisch verletzt, das nun dick geschwollen war und eiterte. Er musste nicht überlegen, um zu dem Schluss zu kommen, dass die Behandlung, die der Arzt dem Fremden zukommen ließ, unangebracht war. Wenn eine Wunde eiterte, so bedeutete dies, dass sie verschmutzt war, selbst wenn sie sauber wirkte, wie diese hier. Außerdem beging der Arzt einen zweiten Fehler, denn er wickelte den Leinenstreifen zu fest um den Finger.
»Ich besitze nur wenige Arzneien«, erklärte Hory. »Und ich habe weder Papyrus noch Tinte, um Zaubersprüche aufzuschreiben. Deshalb kann ich mich nicht selbst hierher setzen.«
»Hm«, machte der Arzt. »Ich könnte wirklich jemanden gebrauchen, der mir meine Arzneien besorgt und zubereitet. Ich hatte vor kurzem einen Gehilfen, aber der war ausgesprochen dumm.«
Hory nickte. Der Gedanke, sich als Laufbursche für diesen Mann zu betätigen, war kein schöner. Aber vielleicht hatte er in drei oder vier Monaten genug verdient, um sich die wichtigsten Arzneien und Instrumente kaufen zu können, und dann konnte er sich irgendwo an den Straßenrand setzen, so wie dieser Arzt hier. Und in einem Jahr besaß er möglicherweise genug, um sich ein Haus zu mieten, wo er die Leute empfangen konnte. Niemand hatte ihm gesagt, dass der Weg, den er eingeschlagen hatte, ein leichter war.
»Ich glaube, mein Finger schmerzt noch schlimmer«, klagte der Mann und streckte hilflos die Hand hoch.
»Das vergeht«, brummte der Arzt.
»Du solltest die Wunde säubern«, warf Hory ein. Er hatte den Mund halten wollen, aber die Miene des Mannes war allzu kläglich.
»Sie ist sauber!«
»Sie könnte …«
»Ich glaube, ich will dich doch nicht haben. Ich brauche jemanden, der meine Anordnungen widerspruchslos ausführt, und so einer scheinst du mir nicht zu sein. Also mach, dass du weiterkommst.«
Hory machte auf der Ferse kehrt. Er bedauerte es nicht, fortgeschickt zu werden, aber das änderte nichts an seinem leeren Beutel und seinem leeren Magen. Mit seinen paar armseligen Kupferschati konnte er bestenfalls ein gefülltes Fladenbrot und eine Schlafgelegenheit in einer Schenke bezahlen.
»Warte«, rief jemand hinter ihm. Er drehte sich um. Es war der Mann mit der Handverletzung. Der muskulösen, untersetzten Statur nach war es ein Frachtschiffer. Der Mann hielt die rechte Hand an die Brust gedrückt. »Ich hab mich vor drei Tagen verletzt. Wir brachten Granitsteine aus Swenet, die als Opfertische im Gem-pa-Aton aufgestellt werden sollen …«
»Schon gut. Ich kann deine Wunde säubern, aber dazu brauche ich sauberes Wasser.«
Der Mann deutete auf einen Brunnen am Rand des Platzes. Hory nickte ihm zu, und sie ließen sich davor nieder. Der Brunnen besaß eine viereckige Sandsteineinfassung, neben der eine Sitzfigur des Pharao stand. Die länglichen Züge Echnatons waren seltsam verzerrt, als betrachte man sie durch einen Glassplitter.
Der Schiffer kniete vor der Statue und küsste ihre Zehen, dann streckte er die Hand vor. Hory wickelte den Leinenstreifen ab und legte ihn sorgsam auf die saubere Steineinfassung. Er hatte kein Leinen und würde ihn wieder benutzen müssen. Die Wunde sah zwar sauber aus, doch ob sie es war, würde er erst sehen, wenn der Eiter entfernt war. Er riss ein Stück des Leinenstreifens ab, tauchte es ins Wasser und benetzte die Wunde. Gleichzeitig begann er den Eiter herauszudrücken. Der Mann stöhnte leise, rührte sich jedoch nicht. Immer wieder drückte Hory die Wunde zusammen, bis es ihm gelang, ein Sandkörnchen herauszuschwemmen.
»Das war alles«, sagte er achselzuckend. »Leider habe ich keine Salbe, aber es genügt schon, wenn du die Wunde sauber hältst. Du musst …«
Hinter ihm lachte eine helle Stimme. Hory fuhr herum.
Eine junge Frau blickte auf ihn herab, aus der Höhe einer Sänfte, von zehn ölglänzenden Nubiern getragen. Sie hatte den Vorhang zurückgeschoben und offenbarte einen schlanken, auf den Kissen lagernden Körper. Es war niemand anderes als jene Prinzessin von der Brücke, die die Goldkette aufgefangen hatte.
»Du bist respektlos«, sagte sie und strich mit flüssiger Bewegung die Haare ihrer Perücke über die Schulter. »Dieser Brunnen ist meinem Vater geweiht. Man nähert sich ihm in ehrfürchtigem Gebet. Denn zu Aton kannst du nicht beten, da du nur ein Mensch bist.«
Hory wusste durchaus, dass der Pharao göttlich war, aber der Gedanke, zu diesem weibisch lächelnden, stark geschminkten Mann mit dem seltsam geformten Körper zu beten, den er auf der Brücke gesehen hatte, war ihm fremd.
»Und geh auf die Knie, wenn Merit-Aton, die Tochter des Gottes, dich anspricht.« Sie deutete mit ihrem Handfächer zu Boden. »Du kommst aus dem Delta, man sieht es dir an. Nun, das mag dein Unwissen erklären.«
Notgedrungen kniete er auf der Straße, unmittelbar vor der Sänfte. Der Schiffer hatte sich längst der Länge nach hingeworfen. Die nubischen Träger in ihren golddurchwirkten Schurzen und die jeweils zwei Palastsoldaten vor und hinter der Sänfte starrten teilnahmslos geradeaus, als sei es völlig selbstverständlich, dass eine Tochter des Gottes einen heruntergekommenen Arzt, noch dazu einen aus dem Delta, ansprach. Die Prinzessin ließ einen nackten Fuß herunterbaumeln und berührte mit den Zehen seinen Kopf.
»Als ich vorhin die Treppe vom Erscheinungsfenster herunterstieg, knickte ich mit dem Fuß um. Der Knöchel schmerzt.« Da er nicht sofort antwortete, fügte sie ungeduldig hinzu: »Die Brücke, weißt du nicht mehr? Du warst es, der den Pharao mit Gold beworfen hat! Wie heißt du eigentlich?«
Er streckte den Rücken und umfasste behutsam den königlichen Fuß. Dabei konnte er nicht umhin, sie zu betrachten. Sie war wahrhaftig das schönste Geschöpf unter der Sonne, die Königin Nofretete vielleicht ausgenommen. Die schwarze Perücke, die fast breiter als ihre Schultern war, umrahmte ein fein geschnittenes Gesicht. Der Mund war voll und glänzend, die Augen gerade, aber der Rahmen des Kohelstriches geschickt gemalt, sodass sie schräg wirkten.
»Hory«, brachte er endlich heraus.
»Hm, Hory«, erwiderte sie, »das ist ein bescheidener Name. Was ist mit meinem Fuß?«
Der Fuß war nicht geschwollen; er drehte ihn im Gelenk, was ihr keine Schmerzen zu bereiten schien. »Er ist völlig in Ordnung. Abgesehen von dieser hässlichen Warze an deiner Ferse.«
»Was?« Hastig zog sie den Fuß an und mühte sich, die Sohle nach oben zu drehen. Die Kissen gerieten in Bewegung. »Tatsächlich! Beket, sieh dir das an, so ein hässliches Ding! Ich muss sofort mit meiner Fußpflegerin reden. Das ist ja furchtbar!«
Nun erst bemerkte Hory die schmale Gestalt gegenüber der Prinzessin, die sich in den Kissen aufsetzte: ein elf, höchstens zwölfjähriges Mädchen, das noch den kahlen Kopf und die Kindheitslocke trug, aber nicht weniger königlich geschmückt war. Sie betrachtete Hory mit unverhohlener Neugier.
»Kennst du einen geeigneten Zauberspruch, Hory?«, fragte Merit-Aton. »Ich werde ihn dir gut bezahlen.«
Er kannte sehr viele, aber abgesehen davon, dass er sich mit einem Spruch an einen der alten Götter nur ihren Unwillen einhandeln würde, war er von der Wirkung ohnehin nicht sehr überzeugt. »Ein Brei aus Krokodilsgalle, Terpentin und Brot ist besser.«
»Das hört sich abscheulich an!«
»Du sollst ihn ja auch nicht essen, sondern auf die Warze auftragen.«
Nun lachte sie wieder, aber diesmal durchaus freundlich. »Na gut, dann besorge dein Wundermittel und bring es heute Abend in den Harem Maru-Aton. Ich werde dem Türhüter sagen, dass er dich einlassen soll. Aber tu mir einen Gefallen«, sie neigte sich vor, sodass die Zöpfe ihrer Perücke langsam nach vorne rutschten und die zarten Ansätze ihrer Brüste streichelten. In ihrer Üppigkeit ließ die Perücke nur erahnen, dass Merit-Atons Kopf ebenfalls über diesen eigenartigen hohen Schädel verfügte, wie er ihn bereits bei dem Königspaar und den jungen Töchtern gesehen hatte. »Zieh dir einen anständigen Schurz an.«
Sie rief einen Befehl, und die Sänftenträger setzten sich in Bewegung.
»Schreibst du mir auch keinen Zauberspruch auf?« Der Schiffer richtete sich auf. Hory kam auf die Füße und klopfte ein wenig Sand von seinen Knien.
»Womit könntest du mich denn bezahlen?«, fragte er stattdessen.
Der Schiffer deutete mit dem Daumen über die Schulter, wo der Arzt mit gefällig auf dem Bauch gefalteten Händen dasaß und der davonschwebenden königlichen Sänfte nachblickte. Er lächelte versonnen, aber überrascht schien er nicht zu sein. Hory erinnerte sich an die Worte des Alten, der behauptet hatte, man könne jederzeit auf königliche Sänften treffen.
Aber dass es so schnell geschehen kann, dachte er, hätte ich mir nicht träumen lassen.
»Ich hab doch dem da schon alles gegeben, was ich hatte«, klagte der Schiffer.
»Glaub mir, du brauchst keinen Spruch.« Hory schulterte seinen Beutel. Merit-Aton, dachte er versonnen, doch jäh stockte der Gedanke, als hätte ihn jemand mit einer Klinge von seinem Herzen getrennt. Seine Nackenhärchen richteten sich auf. Er spürte einen Blick im Rücken, brennend, abschätzig – bösartig. Abrupt wandte er sich zu der Sänfte um, aber er sah nur noch zwei Finger, die den Vorhang schlossen.