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Juli 1842

»Mir wirst du jedenfalls fehlen«, gestand Johanna Sperl. Katharina war vierzehn geworden. Die Bauersfrau hatte ihrem Zögling einiges an Essen in den Beutel gepackt, welchen sie ihr in die Hand drückte. »Pass auf dich auf und bleib anständig.«

»Was so viel heißt wie: Halte deine Beine zusammen.« Die Bäuerin bedachte Margarethe mit einem strengen Blick. »Was? Ist doch wahr!«, rechtfertigte sich Margarethe und fuhr an Katharina gerichtet fort: »Willst du dir dein Leben nicht ganz verderben, dann halte dich daran.«

»Ihr werdet mir fehlen«, sagte Katharina leise, dabei streichelte sie jedem der Kinder liebevoll über den Kopf. Die kleine Johanna versuchte, sich an ihrem Rock hochzuziehen, als wollte sie ihr beweisen, dass die Mühe, ihr das Gehen trotz Rachitis beizubringen, nicht umsonst gewesen war. Anerkennend streichelte sie dem Kind über die vollen Wangen, als es auf seinen krummen Beinen vor ihr stand.

»Du könntest bleiben«, gab die Bäuerin zu denken.

Katharina hatte sich entschlossen. Sie würde die Gelegenheit nutzen, mit dem Pfarrer Richtung Wien fahren zu können. Er hatte eine wichtige Angelegenheit zu erledigen und ihr angeboten, sie mitzunehmen. Sie würde bis zum Linienwall mit ihm reisen und sich dann zu Fuß auf den Weg zum Spittelberg machen, wo sie auf Milas Hilfe baute.

»Bist du bereit?«, fragte der Pfarrer.

Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Ihr fiel es nicht schwer, ihn zu mögen. Er hatte zum Schulabschluss ein Fest veranstaltet, auf dem er mit einem großen Papierdrachen erschienen war. Als dieser hoch oben in der Luft schwebte, drückte er Katharina die Schnur in die Hand und ließ sie Herrin über den Drachen sein. Die Leute konnten sich nicht satt sehen. Zur Abwechslung starrten sie mal nicht verstohlen auf seinen entstellten Rücken.

»Ich bin immer noch nicht überzeugt, ob deine Entscheidung richtig ist«, brachte er das Gespräch in Gang.

»Es wird alles gutgehen. Ich bin ja nicht ganz alleine.« Sie fixierte den Hintern des Pferdes, das vor den einfachen Wagen gespannt war.

»Fang mir nicht mit deiner guten, alten Freundin Mila an. Du weißt, dass ich von deiner Idee nichts halte«, schalt er sie. Katharina tat ihm den Gefallen und erwähnte die Frau seines Anstoßes lieber nicht mehr. Die restliche Fahrt schwiegen sie. Als sich Katharina verabschiedete, nahm der Pfarrer ihr noch das Versprechen ab, sich in Ottakring sehen zu lassen. Lange blickte der Geistliche dem Mädchen hinterher, bevor er mit einem Zungenschnalzen das Pferd in Bewegung setzte.


»Lange können wir sie nicht mittragen«, sagte Sepherl. »Auch wenn das Scheißerle wenig isst, wird sie irgendwann jemandem auffallen.« Sepherl verschränkte ihrerseits die Arme vor der Brust und schaute Mila ebenso herausfordernd an. »Ich wünsche mir für sie auch was Besseres, aber wie wahrscheinlich ist das?«

»Wir können versuchen, sie irgendwo als Dienstmädchen unterzubringen«, warf Mila hoffnungsvoll ein.

»Eine gute Idee. Als Dienstmädchen wird sie lediglich von ihrem Herrn bestiegen, dem sie den Dreck wegmachen darf.«

»Mir wird schon etwas einfallen. Es darf nur keiner erfahren, dass sie bei uns wohnt. Die Alte würde sie sofort für sich arbeiten lassen.« Mila zog sich die weißen Strümpfe zurecht und richtete ihre langen Locken. »Komm, lass uns gehen, sonst zetert die alte Hexe wieder. Und du«, ordnete Mila an Katharina gewandt an, »bewegst dich nicht vom Fleck. In ein paar Stunden sind wir zurück.«

Sie hatte während des Gespräches der beiden Frauen reglos auf einer Holzkiste gesessen. Seit Tagen musste sie in der düsteren Dachkammer ausharren, tagsüber und nachts. Mila hatte ihr den Grund dafür erklärt, was es jedoch nicht erträglicher machte. War es im Winter bitterkalt in den Kammern unter dem Dach, herrschte im Sommer drückende Hitze, die abends kaum besser wurde. Gerne wäre sie die schmale Treppe hinuntergeschlüpft, um die kühlere Abendluft einzuatmen, aber sie wollte Milas Sorgen nicht noch unnötig vergrößern. Und so legte sie sich auf den alten Strohsack ihrer lieben Freundin und versuchte zu schlafen.

Geweckt wurde Katharina von der knarrenden Tür, als Mila und Sepherl beim Morgengrauen zurückkehrten. Die beiden sahen müde aus, weshalb Katharina schnell aufsprang, um der Eigentümerin des Bettes Platz zu machen.

»Keine Eile«, sagte Mila, »ich will mich vorher sowieso noch waschen.« Als sie zu dem Wasserkrug trat, fand sie diesen leer vor. Ein dunkler Fleck auf den Dielenbrettern zeugte von Katharinas Missgeschick der letzten Nacht. Gepeinigt von einem Traum, war sie schlaftrunken zum Wasserkrug getaumelt, um die angeschwollene Zunge zu befeuchten und stieß dabei den Krug um. Das Gefäß blieb unbeschädigt, der Inhalt hatte sich dagegen über den Boden ergossen.

»Es tut mir leid«, presste Katharina hervor.

»Ist schon gut, ich wasche mich nach meinem Schläfchen. Mir fehlt jetzt die Kraft, Wasser vom Brunnen zu holen. Kommst du einstweilen ohne aus?«, fragte Mila. Katharina nickte heftig, obwohl ihre Kehle ganz ausgetrocknet war. Die Nacht war schwül gewesen und sie hatte viel geschwitzt. Sie dachte nicht daran, den beiden Frauen noch mehr Umstände zu machen, als sie es ohnehin schon tat.

Als zur Mittagsstunde die Temperatur in der kleinen Kammer schier unerträglich wurde, beschloss Katharina, sich den Krug zu schnappen und sich auf den Weg zum Brunnen zu machen. Milas Freude über das frische Nass würde ihren Zorn über den Ungehorsam hoffentlich überlagern. Lautlos tappte sie bis zur Tür und schlängelte sich die steile Treppe hinab. Draußen angekommen umfing sie gleißendes Tageslicht. Katharina hielt nach der Tafel Ausschau, von welcher Sepherl erzählt hatte. Tatsächlich, da war sie: Durch dieses Thor im Bogen ist Kaiser Josef II. geflogen. Sie lachte leise durch die Nase und schaute sich nach links und rechts um. Die Johannes Gasse war wie ausgestorben; auch aus dem Inneren des Weißen Löwen drang kein Laut.

Katharina konnte sich zum Glück noch an den Weg zum Brunnen erinnern. Mila und sie hatten ihn im November passiert. Sie blieb damals stehen und betrachtete den Brunnen, aus dessen Becken eine korinthische Säule ragte. Den Abschluss der Säule bildete eine wolkenumhangene Weltkugel, auf der die Heilige Dreifaltigkeit thronte. Den Ausdruck hatte Katharina vom Pfarrer, der ihr erklärt hatte, dass es sich bei den drei Figuren um Gott Vater, Jesus Christus und den Heiligen Geist handelte. Heute würde Katharina mehr Zeit haben, die Feinheiten des Brunnens zu erkunden, ohne dass Mila sie zur Eile wegen der Kälte antrieb. Sie fragte sich, wie sie die drei Heiligen voneinander unterscheiden sollte.

Nur wenige Menschen waren zur Mittagsstunde unterwegs. Hie und da stand eine Dirne auf Kundenfang vor einem der zahlreichen Gasthäuser. Mit jedem potenziellen Freier wurde getändelt und geplänkelt, um ihm Appetit auf einen Besuch in der Schenke am Abend zu machen. Von Katharina nahm keine der Frauen Notiz und so erreichte sie den Brunnen nach nur wenigen Minuten. Durstig füllte sie den Krug aus den Antik-Köpfen, aus denen das lebensspendende Wasser quoll, und trank gierig in großen Schlucken. Danach tauchte sie ihre Hände in das Becken. Sie befeuchtete ihr Gesicht, ihren Hals und ihre Arme, bevor sie sich dem eingehenden Studium des gusseisernen Brunnens widmete.

»Durch Großmuth und Gemeinsinn 1821«, las sie laut vor.

»Ich erinnere mich gut daran, als wir das Wasser noch vom Arsch der Welt anschleppen mussten«, vernahm Katharina eine Stimme hinter sich, die sie zusammenfahren ließ. »Seitdem ist nichts für uns Spittelberger getan worden.« Katharina wurde von Kopf bis Fuß gemustert. »Kommst mir bekannt vor. Wem gehörst an?«, fragte die Alte.

Katharina hörte in Gedanken die Schimpftirade Milas und hütete sich, nur ein Wort an die Fremde zu richten.

»Kannst nicht sprechen?«

Katharina drückte sich an der Frau vorbei.

»Oder willst nicht?« Es war eine Feststellung keine Frage.

Hätte sie nur ein einziges Mal zurückgesehen, wäre ihr aufgefallen, dass die neugierige Alte ihr in geringem Abstand folgte.

Erst Stunden später rührten sich Mila und Sepherl und waren beim Anblick des aufgefüllten Kruges weniger verärgert als erfreut. Die drei Frauen hockten sich auf die Holzkisten, tranken das Wasser und nagten an ihrem harten Brot.

»Heute Abend werde ich versuchen, Fleisch und Käse von den Gästen zu stibitzen«, versprach Mila zwischen zwei Bissen. »Dann hast du morgen ein herzhaftes Frühstück. Ich werde Wasser mitbringen, damit du nicht wieder auf die Idee kommst, alleine durch die Gassen zu streunen.« Wenn Mila von der Begegnung am Brunnen wüsste, würde sie vermutlich einen weniger milden Ton anschlagen. Nein, ihre liebe Freundin würde sie nicht ausschimpfen, sondern in tiefes Brüten verfallen.


»Ist es deines?«

»Was meines?«

»Dein Kind?«

»Mein Kind?«, hauchte Mila.

»Stell dich nicht dumm«, forderte die Löwenwirtin barsch, »denn das bist nicht. Genauso wenig wie ich. Ich habe das Mädchen heute am Brunnen gesehen. Sie ist zu eurer Dachkammer hochgestiegen. Ist sie deine Tochter?« Die Vermutung der Wirtin war gar nicht so abwegig. Sogar das Alter passte fast. Milas Tochter wäre nur zwei Jahre jünger, hätte sie das Säuglingsalter überlebt. Das Kind war nach nur wenigen Wochen in der Außenpflege verstorben. Mila hatte diesen Teil ihres Lebens fest in ihrem Inneren verschlossen. Nur Sepherl kannte die Einzelheiten.

»Hätte doch sein können, dass es deines ist. Würde mich wundern, wenn du nicht schon geworfen hättest.«

Mila äußerte sich zum Ärgernis der Löwenwirtin nicht. Diese hochnäsige Madame hielt sich, was ihre Vergangenheit betraf, immer bedächtig verschlossen. Man wusste lediglich, dass sie, bevor sie auf dem Spittelberg als Bierhäuslermensch angefangen hatte, eine gefragte Grabennymphe war, die unter ausgewählter Kundschaft verkehrte. Nur ein teurer Mantel zeugte von ihrem damaligen Leben. Diesen teilte sie sich mit Sepherl. Wer zu hoch hinauswollte, fiel tief.

»Ich führe kein Waisenhaus! Mir wird die Geschichte des Mädchens nicht das Herz erweichen«, entgegnete die Bordellwirtin, bevor die andere versucht war, sie zur Nächstenliebe gegenüber einem heimatlosen Kind zu überreden. »Wenn sie unter meinem Dach leben will, soll sie gefälligst dafür arbeiten. Außerdem ist sie kein Kind mehr. Warte noch den Sommer ab und das kleine Pflänzchen wird prachtvoll erblühen. Sie könnte gutes Geschäft machen.«

»Für dich! Ihr selbst bleibt davon nichts!«

Die Wirtin bleckte die Zähne.

»Sie wird nicht ihren Körper verkaufen! Niemals.«

»Na gut, deinem Täubchen wird nicht an die Wäsche gegangen. Arbeiten wird sie trotzdem für ihre Unterkunft. Das wäre ja noch schöner, wenn meine Untermieter meine Zimmer mit heimatlosem Gesindel vollstopften! Es gibt genug zu tun in der Schenke.«


»Nicht ums Verrecken glaube ich der. Sobald sich die erste Gelegenheit bietet, sie einem Interessenten zu verkaufen, werden ihr die Röcke hochgeschoben. Ob sie will oder nicht«, sagte Mila. Sie trat im Dunkeln des Stiegenhauses auf etwas Weiches und ein anklagendes Quietschen ertönte.

»Ich weiß«, entgegnete Sepherl. »Das heißt für uns, wir müssen eine Stellung für Katharina finden.«

»Aber was? Und wo? Und wie?«, schrie Mila fast.

»Wir haben, sagen wir mal, Kontakte.«

»Kontakte?«

»Kontakte, die erpressbar sind.«

Mila verstand erst nach einigen Sekunden, wovon ihre Freundin sprach, und auf ihrem Gesicht erschien ein breites Grinsen.


»Die Alte vom Weißen Löwen hat Mila mit ihren Spekulationen über deine Herkunft aus der Bahn geworfen«, versuchte Sepherl Katharina zu erklären, wieso diese sie seit geraumer Zeit von der Seite her anstarrte.

»Halt deinen Mund«, drohte Mila.

»Meine Herkunft. Wie meinst du das?«

»Die Löwenwirtin dachte, du seist Milas Tochter.«

»Jedes Kind könnte sich glücklich schätzen, eine Mutter wie dich zu haben«, sagte Katharina aufrichtig.

Da kullerte eine Träne über die Wange der großgewachsenen Frau. Sepherl blickte mit besorgter Miene auf ihre Freundin. Es hatte Jahre gedauert, bis Mila aufgehört hatte zu weinen. Die Worte der Bordellbesitzerin hatten alte Wunden aufgerissen und vergrabene Erinnerungen an die Oberfläche zurückbefördert.

»Ich traf ihn das erste Mal im November 1829. Clemens Fürst von Metternich, der österreichische Staatskanzler, der Kutscher Europas, wie er aufgrund seines Einflusses gerne betitelt wurde.«

Das Kreuz im Apfel

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