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Ottakring

Mit dem Schreiben aus der Findelanstalt in ihrer Rocktasche trottete Katharina dem verdrossen dreinblickenden Beamten mit dem geschwungenen Schnauzbart hinterher. »Das Schreiben hast du bei dir?«, versicherte er sich überflüssigerweise. Er hatte ihr dabei zugeschaut, wie sie es eingesteckt hatte. Zufrieden mit der Antwort schritt er auf den Pfarrhof zu. Das Häuschen sah anders aus, als sie es in Erinnerung hatte. An die Brücke, welche über den Bach an die Tür führte, konnte sie sich nicht erinnern. Der Beamte klopfte dreimal und blickte auf seine beschlagene Taschenuhr. Sie verzog den kindlichen Mund und zupfte den Beamten am Ärmel.

»Mit Asche bekommen Sie die Uhr zum Glänzen«, beratschlagte Katharina ihn. Sie hatte den Bediensteten vor dem Weihnachtsfest geholfen, das kostbare und selten verwendete Silbergeschirr auf Hochglanz zu polieren.

»Kannst dir gleich angewöhnen, dass auf dich nichts gegeben wird«, fuhr er sie an.

»Gott zum Gruß«, sagte der Pfarrer und schaute den Mann fragend an. Katharina erkannte Pfarrer Lutner sofort. Wie sie zugeben musste an seinem Buckel.

»Kommissär Traxler mein Name, ich komme vom Magistratsdepartment der k. k. Haupt- und Residenzstadt Wien und soll ihnen Katharina Hochstätter, normalalt geworden und somit aus der Findelanstaltspflege entlassen, überstellen.« Galt früher noch als Normalalter fünfzehn Jahre, konnten die Kinder seit einigen Jahren nur mehr mit einer zehnjährigen Versorgung rechnen. Üblicherweise hatte den ersten Anspruch auf das Kind die Mutter, danach die Pflegefrau.

Johann Lutner blickte auf das Mädchen herab und erinnerte sich deutlich an die Fünfjährige, die ihn darüber aufgeklärt hatte, dass der Teufel keine Hörner hatte.

Da der Geistliche wortlos dastand, ergriff der Beamte erneut das Wort. »Es hat ein Schreiben mit den entsprechenden Anweisungen der Findelanstalt bei sich. Ich empfehle mich.« Katharina blickte Pfarrer Lutner an. Dieser fasste sich und reichte dem Mädchen eine rötlich gefleckte Hand, mit stark geschwollenen Fingergelenken.

»Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt! Groß bist du geworden. Wenn ich daran denke, wie klein und schmächtig du warst, als …«, der Pfarrer hielt inne. Er wusste nicht, ob sich das Kind überhaupt erinnerte und hoffte für sie, sie täte es nicht.

»Das Pfarrhaus habe ich anders in Erinnerung«, sagte sie in bemühtem Deutsch. Ihre Sprechweise war ganz anders als die seiner Seelsorgegemeinde.

»Deine Erinnerung trügt dich nicht«, entgegnete er. »Vor drei Jahren wurde der Pfarrhof neu gebaut und mit Ziegeln gedeckt.« Er deutete nach oben.

»Schaut das Haus, in dem ich geboren wurde, auch anders aus?«

»Das Haus steht nicht mehr. Vor drei Jahren hat es hier in Ottakring gebrannt. Vormittags gegen zehn Uhr stiegen aus dem an den Pfarrhof angrenzenden Bauernhaus heftige Flammen auf. Durch den starken Wind griff das Feuer rasch auf die umliegenden Gebäude über. Über fünfzig Häuser wurden vernichtet. Lediglich die Kirche und rund dreißig Häuser blieben von dem Feuerinferno verschont. Komm rein und zeig mir den Brief.«

Er hatte Mühe, die lange Litanei des Verfassers zu entziffern. »Kann der Pflegling von keiner der beiden aufgenommen werden, obliegt das Kind der Armenfürsorge durch die Heimatgemeinde. Die Vormundschaft für das Kind ist von dem geschätzten Herrn Pfarrer auszuwählen. Ab dem vierzehnten Lebensjahr ist der Findling dazu angehalten, für sich selbst zu sorgen. Die Vormundschaft endet zu diesem Zeitpunkt, ebenso die Zuständigkeit der Armenfürsorge«, las er den Brief zu Ende.

Er wusste, wie die übliche Fürsorge für familienlose Kinder aussah. Das Reglement der Armeneinlage sah vor, dass diese Kinder meist von Haus zu Haus wanderten, dazu genötigt, sich ihren Lebensunterhalt durch die niedrigsten Arbeiten zu erbetteln, häufig gedemütigt und bar jeder verständigen oder teilnehmenden Führung.

»Ist die Brücke neu?«, fragte Katharina.

Pfarrer Lutner nickte abwesend. »Nach dem Umbau wurde eine Pfarrkanzlei eingerichtet und die Pfarrbibliothek vermehrt.«

»Eine Bibliothek!« Das Mädchen schien sich über die Tragweite des Schreibens nicht im Klaren zu sein.

»Warst du in Böhmen in einer Schule?«, fragte er.

»Ja, Herr Pfarrer.«

»Und wie liegt dir das Lesen und Rechnen?«, hakte er nach.

»Gut, Herr Pfarrer. Ich habe gerne gelernt.«

»Dann sollten wir zumindest schauen, dass du regelmäßig die Schule besuchen kannst.« Ihm kam dieser Anlass gelegen, dem Lehrer Jakob Bartsch zu zeigen, wer das Sagen hatte. Die Gemeindeschule unterstand der Aufsicht des Pfarrers. Sein Wort war Gesetz, zumindest auf der untersten Stufe. Seit Jahren intervenierte der Jakob Bartsch für die Errichtung eines neuen, geräumigeren Schulhauses, wohlgemerkt in größerer Entfernung zur Kirche. Der Bartsch täuschte sich, wenn er glaubte, er ließe das zu. »Schaden kann es jedenfalls nicht. Lange hast du nicht mehr Zeit, bis du für dich selbst sorgen musst.« Er knetete seine schmerzenden Gelenke. »Wir werden sehen, dass du auf einem anständigen Hof unterkommen kannst. Ich werde die Bäuerin anweisen, dich regelmäßig in die Schule zu schicken. Das wöchentliche Schulgeld von vier Kreuzern wird von der Armeneinlage bezahlt werden. Es wird dir nicht erspart bleiben, dass du mitanpackst. Die Gemeinde würde es nicht dulden, dass du fürs Daumendrehen versorgt wirst. Hast du Hunger? Ich bin jedenfalls hungrig, obwohl einem die ganze Sache den Appetit verderben kann.«

»Der Onkel sagte immer, der Appetit kommt beim Essen.« Katharina sah den freundlichen Mann, der so gut Geschichten erzählen konnte, tot im Sarg liegen. Sie holte aus ihrer Rocktasche ein Taschentuch hervor, das sie von der Tante zum letzten Geburtstag bekommen hatte. Zierliche Blümchen in Blautönen hatte diese eigenhändig draufgestickt. Katharina brachte es anfangs nicht über sich, das hübsche Tuch zu verwenden. Es war zu schön anzusehen, um den Rotz hineinzublasen. Die Tante meinte, auch schöne Dinge seien da, um verwendet zu werden.

»Dir ist etwas auf den Boden gefallen«, machte sie der Pfarrer aufmerksam. Katharina blickte zu ihren Füßen und entdeckte das gefaltete Zettelchen. »Was ist das? Noch etwas aus dem Findelhaus?«

»Das ist die Adresse meiner Freundin aus dem Gefangenenhaus.« Mila hatte ihr gesagt, sie solle sich die Adresse notieren. Für alle Fälle. Es war nicht einfach gewesen, den Gefangenenwärter zu überreden, Schreibmaterial zu bringen. Mila hatte offenbar die richtigen Argumente.

»Aus dem Gefangenenhaus?«

»Aus der Findelanstalt brachten sie mich ins Gefangenenhaus, um dort auf den Kommissär zu warten. Dort lernte ich Mila kennen.«

»Ist Mila aus dem Findelhaus?«

»Nein, Mila ist schon erwachsen und wunderschön. Sie hat so einen Busen«, dabei deutete Katharina den beachtlichen Brustumfang Milas an ihr selbst. »Eigentlich heißt sie Milleta, aber das ist ihren Kunden zu lange.«

»Ihren Kunden«, echote ihr Gegenüber. »Heilige Maria Mutter Gottes!« Die Kinder mussten die Nacht vor dem Transport gemeinsam mit Vagabunden, Schüblingen und Dirnen verbringen! Solch eine demoralisierende Umgebung kann sich nur nachteilig auf das Seelenheil der ohnehin verwirrten Wesen auswirken. Gleich morgen würde er eine schriftliche Eingabe an den Landesausschuss verfassen.

»Warum war diese Frau in dem Gefangenenhaus?«, nahm der Pfarrer das Gespräch wieder auf.

Erschrocken sog Katharina die Luft ein. »Herr Pfarrer! Ich weiß es nicht! Ich war so mit meiner Traurigkeit beschäftigt, dass ich nicht auf die Idee gekommen bin, sie zu fragen. Ich habe nur von mir geredet.«

»Mädchen, ich glaube nicht, dass diese Mila die richtige Freundin für dich ist. Weißt du, ich meine, sie geht einem Gewerbe nach, das … Gib mir den Zettel«, forderte sie der Pfarrer nach seinem Gestottere schlussendlich auf.

»Herr Pfarrer, bitte nicht. Sie sagte, wenn ich eines Tages Hilfe bräuchte, könnte ich zu ihr kommen. Wie soll ich sie ohne Adresse finden? Ich habe doch niemanden und sie war sehr nett zu mir, weil ich traurig war, dass ich vom Forsthaus wegmusste und weil ich mit meinem Schicksal gehadert hab.«

»Mit deinem Schicksal gehadert …«

»Das hat Mila gesagt. Sie meinte, hadere nicht mit deinem Schicksal, sondern mache das Beste daraus! Stimmt das nicht, Herr Pfarrer?«

»Hm«, machte er nachdenklich, »in der Bibel heißt es: Vertraue auf Gott, er wird dich führen.«

Katharina ließ sich beide Ratschläge durch den Kopf gehen.

»Ich vertraue lieber auf mich selbst. Wenn man auf andere vertraut, wird man nur zurückgelassen.«

»Kind, neben dem Unterricht wirst du außerdem die Bibel lesen und fleißig zu den Messen kommen«, damit schloss der Pfarrer das Gespräch und bestrich sein Brot mit Butter.

Katharina steckte das Zettelchen in ihre Tasche und griff zum Buttermesser. Es stellte sich heraus, dass der Onkel recht gehabt hatte. Der Appetit kam tatsächlich beim Essen.

Das Kreuz im Apfel

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