Читать книгу Die gefährliche Unausweichlichkeit der Liebe - Saleem Matthias Riek - Страница 13

Kapitel 5

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Regen prasselt auf das Dach des Carports. Das Notebook unter dem Arm versucht Alex, trockenen Fußes zum Hauseingang zu gelangen. Es regnet schon den ganzen Tag. Als hätte der Himmel seine Schleusen geöffnet, denkt er grimmig. Er hasst diese platten Redensarten – wie Hunde, die man nicht mal vor die Tür schickt. Carsten liebt sie, aber in diesem Punkt hat er eben keine Ahnung, was guter Stil ist. Vor lauter Hektik fällt Alex der Schlüssel aus der Hand. Beim Versuch, ihn wieder aufzuheben, kommt das Notebook gefährlich ins Rutschen. Scheiße! Er kann sich gerade noch beherrschen, es nicht einfach hinzupfeffern. Carstens Tempel-Manuskript ginge gleich mit über den Jordan. Shit! Aber seine Stilblüten spielen bald eh keine Rolle mehr. Wenn Carsten erfährt, was sein Chef vorhat, wird er ihm erst richtig die Hölle heiß machen.

Als Alex die Wohnung betritt, ertönt zur Begrüßung Beethovens Rondo Allegro. Er muss verrückt gewesen sein, diese feierliche Melodie als Klingelton zu verhunzen. Sein Sakko fliegt auf den Ständer im Flur, er eilt zum Telefon, doch kurz vor dem Abheben bleibt er stehen. Was, wenn Carsten dran ist? Der weiß ja noch von nichts. Hat er seine Idee wirklich irgendwo geklaut? Der Signalton ertönt und dann poltert Carsten auch schon los. »Heb ab, wenn du zu Hause bist! Was ist denn das für ein Scheiß! Glaubst du im Ernst, ich hätte abgekupfert? Wie lange kennen wir uns, Alex? Du hast mich doch bei der Entwicklung des Plots selbst beraten! Traust du mir das zu? Das muss ein verrückter Irrtum sein, hast du das deinem Chef nicht gesagt? Ich bin echt enttäuscht, Alex. Also, wenn du das hier hörst, ruf bitte an, und zwar sofort! Ich glaub, ich bin im falschen Film und der ist wahrlich kein großes Kino! Ich werde die Kündigung auf keinen Fall hinnehmen, damit das schon mal klar ist. Wenn du dich nicht bald rührst, muss ich leider einen Anwalt ...« Piep, piep, piep, piep.

Das Band bricht ab und Alex Stimmung ist restlos im Eimer. Erst mal hinsetzen. Nicht sein Tag. So beschissen wie alle diese Redewendungen. Seit dem Desaster vor einer Woche hat er sich voll in die Arbeit gestürzt, nur um dort mit leerem Kopf vor dem Bildschirm zu sitzen. Aber irgendwann muss ja jeder mal nach Hause. Er blickt sich um. Alles, einfach alles erinnert ihn an Simone. Ihre Schuhe, ihre Zeitschriften, die Oster-Deko, das Chagall-Poster aus Paris. Und über dem Sofa das Foto.

Thailand. Khao Lak. Verliebt lächeln sie beide in die Kamera, von den Verwüstungen ist kaum noch etwas zu sehen. Er nimmt das Foto von der Wand und wirft es in die Schublade, in der Simone ihre Accessoires aufbewahrt. Ich will das alles nicht mehr sehen. Aber es hilft nichts, er denkt trotzdem an sie. Wie konnte das nur so dermaßen schiefgehen? Manchmal beschleicht ihn klopfenden Herzens das Gefühl, sie käme plötzlich mit Einkaufstüten beladen zur Türe herein. Begrüßte ihn mit einem unbeschwerten Hallo. Manchmal meint er sogar, sie auf vertraute Weise über den Boden schlurfen zu hören. Aber da ist nur Stille.

Und jetzt auch noch der Trouble im Büro. Er reibt sich die Stirn. Seit wie vielen Wochen arbeitet er jetzt an Carstens Manuskript? Vier? Fünf? Er lebt ja schon fast selbst in Dominiks Tempel. Und Dallmann, dieser stolze Verleger mit seinen großartigen Visionen, kündigt einfach den Vertrag? Wegen eines Plagiats? So dumm kann Carsten gar nicht sein, bei aller Liebe für abgestandene Redewendungen, die niemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Am Thema kann es auch nicht liegen, visionäre Erotik liegt doch genau auf Dallmanns Linie. Zu später Stunde hat er sich sogar mal zu der Äußerung verstiegen, Verlage seien ihrem Wesen nach literarische Bordelle und Autoren deren Callboys ...

Fuck! Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. Seit dem frühen Nachmittag ist auch sein Arbeitsplatz kein friedlicher Ort mehr. Immerhin hat es trotz allem Spaß gemacht, Carstens Manuskript zu redigieren. Die erotischen Episoden führen ihm überdeutlich vor Augen, was er seit Jahren vermisst. Vermisst hat. Da steht das alles schwarz auf weiß und höllisch saftig geschrieben! Lichtjahre entfernt von seinem tristen Beziehungsalltag. Tantrische Rituale, heilige Huren, Sextoys, EWS-Partys, um Gottes willen, Simone würde schreiend davonrennen, wenn er davon anfinge.

Sie ist davongerannt. Nein, davon stolziert. Erhobenen Hauptes, lässt ihn zurück wie einen Haufen Elend. Alex holt einen großen Müllsack aus der Küche und wirft die ganze Dekoscheiße hinein, Osterhasen, Nester, Holzherzen, Duftkerzen, eins nach dem anderen, weg mit dem Kitsch, ab in den Keller. Hat er noch nie gemocht. Als die Tüte voll ist, geht es ihm noch schlechter. Er bescheißt sich selbst. Er hat all diesen Kitsch geliebt. Es tut nur einfach zu weh, den Kram Tag für Tag anzustarren. Langsam lässt er sich auf dem Sofa nieder, den traurigen Müllsack auf dem Schoss.

Es ist genau so, wie jeder leidlich bewanderte Briefkastenonkel weiß: Man schätzt viel mehr, was einem fehlt, als was man hat. Als sie noch da war, kreisten seine Sehnsüchte um Erotik und Sex. Jetzt, wo sie weg ist, vermisst er die alltägliche Vertrautheit. Ihr niedliches Reihenhaus, gleich um die Ecke das Naturschutzgebiet, nicht mehr sein Zuhause. Es ist kalt und abweisend. Aber immer noch besser als obdachlos, immerhin gehört es ihr, pure Gnade, dass er nicht schon auf der Straße steht.

Alex läuft durch die Räume, als suche er irgendetwas. Aber was? Er setzt sich auf das Bett von Finn. Wie wird sein Junge die Trennung aufnehmen? Scheiße, der hat wahrscheinlich andere Sorgen. Missmutig schleppt er sich an seinen Schreibtisch und startet den Browser.

Ab ins digitale Nirvana des Vergessens. Er besucht erst die Nachrichtenseite, Eilmeldung, drei Babyleichen in Camping-Kühlboxen, oh Gott, das ist ja schlimmer als im übelsten Krimi, er klickt sich weiter zur Sportseite. Bayern hat gegen Real gewonnen, auch das noch, beim Sportclub ist schon der dritte Innenverteidiger verletzt, bestimmt werden sie absteigen, bevor er das Weihnachtsgeschenk für Finn einlösen konnte. Okay, besonders begeistert war Finn sowieso nicht. Wie ferngesteuert öffnet Alex Joy of Sex, das Tor zu einer anderen Welt, wie es ihm in großen roten Lettern entgegenschreit. Aber auch hier lässt seine üble Laune nicht nach, nicht im Geringsten. Sie schlägt ihm stur auf den Magen.

Kurzentschlossen stürmt er ins Schlafzimmer und reißt alle Pornos und Spielzeuge aus dem Schrank. Kommt alles in den Müll. Wenn Simone wüsste, wie viel von diesem Zeug er besitzt ... Jetzt hasst er den Kram plötzlich selbst. Bin ich wirklich so sexsüchtig, wie sie immer behauptet? Ab in die graue Tonne! So ein Moment kommt so schnell nicht wieder. Er rennt die Treppe runter und holt noch einen Plastiksack.

Als er wieder hochkommt, hält er plötzlich inne. Warum ausgerechnet jetzt, wo doch eh alles aus ist? Er setzt sich auf den Boden, vor ihm sein beeindruckendes Sortiment. Sollte er tatsächlich mal einen Therapeuten aufsuchen? Einem Fremden anvertrauen, was er heimlich so alles treibt? Nein! Denk nach, Alex! Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder kann der Typ ihn verstehen oder er kann ihn nicht verstehen. Und wie er es auch dreht und wendet: Keins vom beidem ist verlockend! Als alles wieder im Schrank verstaut ist, geht er runter und klappt sein Notebook zusammen. Nicht mehr drüber nachdenken! Sonst dreht er noch durch.

Er holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank, wirft sich auf das Sofa und schaltet die Glotze ein. Er hat noch Stig Larssons Millennium auf Lager, Teil zwei und Teil drei. Noomi Rapace als punkige Lisbeth Salander, einfach genial. Das wird helfen, den ganzen Scheiß zu vergessen, zumindest für heute Abend. Er hat gerade eingeschaltet, da macht sich sein Magen bemerkbar. Klar, seit dem Frühstück nichts gegessen, vielleicht ist ihm deswegen so übel. Mühsam steht er auf und schiebt eine Pizza in den Ofen. Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer hört er sein Handy, eine SMS. Nein Carsten, ich werde deine SMS noch nicht einmal von Ferne betrachten, schreit Alex die Wände an und schaltet sein Handy ab. Carsten wird verdammt noch mal warten müssen. Er wird auf keinen Fall heute noch zurückrufen, auch wenn Carsten zehnmal mit dem Anwalt droht. Und wieso droht er überhaupt ihm? Soll er doch Dallmann drohen! Nein, heute ist Alex für niemanden mehr zu sprechen.

Mikael Blomkvist schaut gerade mit wachsendem Entsetzen auf den Bildschirm, auf dem Lisbeth von ihrem Vormund brutal vergewaltigt wird, als Beethoven Alex schon wieder rausreißt. Der reinste Terror! Wehe, Carsten! Als sich die Melodie zum fünften Mal wiederholt, begreift Alex, dass das Band voll ist und sich deswegen nicht einschaltet. Er steht auf und schaut aufs Display. Ein Glück, Marcel ist dran. Dem kann er ohne weiteres beibringen, dass er nicht in Stimmung ist, und sich wieder Salander zuwenden. Er hebt ab.

»Hi Alex, ich bins, Marcel! Ich hab gerade das mit Simone gehört, warum hast du mich denn nicht angerufen, dafür sind Männerfreunde doch da, hey, Alter, wie gehts dir? Hoffe, du bist nicht völlig durch den Wind.«

Er muss schleunigst eingreifen, sonst ist der Typ nicht mehr zu stoppen. »Bin schon okay, aber bitte sei mir nicht böse, mir ist gerade echt nicht nach quatschen. Ich ruf dich an ...«

»Was geht denn da ab?«, platzt Marcel dazwischen. »Hast du eine Frau in deiner Hütte? Hört sich abgefahren an!«

Scheiße, das Video. Marcel hört die stöhnende Frau natürlich sofort. »Junge, laber keinen Mist! Das ist der Fernseher ...«

»Ah ja? Was schaust du dir denn Prickelndes an? Hilft das, um von Simone loszukommen? Ich hätte dich da eher für ein Weichei gehalten.«

Ärger steigt auf und schießt ihm bis in die Kehle. »Das ist kein Porno, du monothematischer Hornochse, das ist die Millennium-Trilogie. Und jetzt lass gut sein, Marcel, ich ruf dich an!«

Aber der lässt sich nicht stoppen. »Halt, warte, du scheinst ja wirklich übel drauf zu sein. So ausgebombt kann ich dich doch nicht allein lassen! Soll ich vorbeikommen? Ich bin in dreißig Minuten da.«

Marcel kann richtig nerven, das war damals in der Männergruppe auch schon so, aber irgendwie ist Alex gerührt, dass er sich Sorgen um ihn macht. Vielleicht hat er ja recht? Dafür sind Freunde doch da!

»Das ist lieb von dir, Marcel, aber ich komm echt klar. Wir sprechen uns morgen!«

»Ich bin gleich da, Alex. Mir kannst du nichts vormachen, ich bin gleich da.«

Alex setzt sich langsam auf den Hocker neben dem Telefon. Sind denn heute alle verrückt geworden? Er wird Marcel einfach draußen vor der Tür stehen lassen! Genau. Oder alle Lichter ausschalten und so tun, als sei er nicht zu Hause. Nein, er bittet ihn kurz herein, damit Marcel sich davon überzeugen kann, dass er allein klarkommt, und dann wieder abzieht. Mannomann, ist er etwa ein Halbwüchsiger, der die Bude abfackelt, wenn man ihn unbeaufsichtigt lässt? Im Hintergrund läuft immer noch der Fernseher, tatsächlich brennt dort gerade eine Hütte. Er greift nach der Fernbedienung und schaltet aus. Erst mal Marcel wieder loswerden.

Das Unwetter draußen hat nachgelassen, beunruhigende Stille breitet sich aus. Nur der Kühlschrank brummt freudlos vor sich hin. In seinem Inneren fühlt Alex sich ausgebrannt, aber immer noch latent explosiv. Heute darf ihm nichts mehr in die Quere kommen.

Die Türglocke reißt ihn aus seinem Dämmerzustand. Alex erhebt sich langsam und öffnet die Haustür. Marcel, mit seinem smarten Lächeln und seinem Dreitagebart, macht keine Anstalten, reinzukommen. Er blickt ihn einfach nur an. Dann macht er einen Schritt nach vorne und nimmt ihn fest in den Arm. Zuerst fühlt Alex sich überrumpelt, aber als Marcel nicht lockerlässt, hört er auf sich zu wehren. Er saugt die wortlose Umarmung auf wie ein trockener Schwamm. Sein Vorsatz, Marcel gleich wieder hinauszuwerfen, schmilzt wie Schnee in der Sonne. »Danke, dass du gekommen bist«, murmelt er. »Komm rein! Willst du was zu trinken?«

»Alex, du brauchst jetzt nicht den Gastgeber zu spielen. Mann, siehst du fertig aus! Was ist denn los? Hat es dich doch so mitgenommen? Dabei hast du uns doch ständig vorgejammert, wie ätzend es mit Simone ist! War doch nur noch eine Frage der Zeit. Komm, Kopf hoch! Wird schon wieder!«

Alex spürt schmerzhafte Stiche in der Lebergegend. »Das ist noch gar nicht alles! Im Job ... Du kennst doch Carsten, oder?«

Marcel zieht die Augenbrauen zusammen, dann hellt sich seine Miene auf. »Der süße Kellner aus dem La Bóveda? Ja klar! Der war doch auch mal in der Männergruppe, leider nur kurz, den hätte ich nämlich auch gerne mal ...«

»Marcel, die Nummer ertrage ich heute nicht.«

Marcel blickt betreten zur Seite. »Sorry.«

»Schon gut. Jedenfalls hat Carsten einen Roman geschrieben, einen erotischen Roman ...«

»Echt? Cool. Sowas kann der? Der war doch so schüchtern!«

Alex spricht einfach weiter. »... und ich habe ihn bei uns im Verlagsprogramm untergebracht. Jetzt behauptet mein Chef, er habe abgeschrieben, und hat ihm den Autorenvertrag gekündigt. Einfach so, ohne vorher mit mir darüber zu reden. Der hat echt einen Knall. Carsten ist stinksauer auf mich! Dabei kann ich gar nichts dafür. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er abgeschrieben hat. Jedenfalls ... ich sitze gerade zwischen allen Stühlen.«

»Ja, dann ruf ihn doch einfach an und mach ihm klar, dass das Übel nicht von dir aus über ihn hereinbricht!«

»Er ist schon auf meinem Band und droht mit Anwalt und so. Ich packe es gerade nicht, mir das auch noch reinzuziehen! Ich rufe ihn morgen an.«

Marcel schaut mitleidig. »Verstehe. Du bist echt auf dem Hund. Und ein Unglück kommt selten allein, sage ich ja immer, und der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Hey Junge, du darfst dich jetzt nicht einfach hängen lassen. Das ist jetzt keine Floskel! Du musst raus aus dem Loch, sonst bescheißt er dich immer weiter ... Komm, ich hole uns ein Bier.«

Alex kann nicht anders, er muss lachen. Marcels Output an Phrasen pro Minute ist guinessbuchverdächtig, aber ihn kann kein Wässerchen trüben. Er würde noch eine Trauergesellschaft zum Singen und Tanzen bringen. Beim Thema Beziehungen, naja ... Er ist nie länger mit einer Frau zusammen, dafür meistens mit mehreren gleichzeitig. Mit Männern in letzter Zeit nicht mehr. Er hat Marcel oft beneidet, nicht nur, weil er extrem gut aussieht, auch weil er das Glas immer dreiviertelvoll sieht. Aber verdammte Axt, Alex will eigentlich nicht aus seiner Trauer gerissen werden. Fühlt sich hohl an. Oder ist es nur wieder sein verfluchtes Selbstmitleid, in dem er ausgiebig baden will?

Marcel kommt zurück, reicht ihm eine Flasche und prostet ihm zu.

»Marcel, ich weiß, dass du nichts von Trübsal blasen hältst, aber ich kann nicht einfach einen auf let’s have fun machen. Weißt du überhaupt, wie das ist, wenn eine Liebe zerbricht?« Alex nimmt einen tiefen Schluck. »Es fühlt sich richtig scheiße an. Ich habe sie mehr geliebt, als ich dachte ...« Scheiß Pathos. Egal.

»Alex ...« unterbricht Marcel ungeduldig.

»Nein, warte. Ich weiß schon, was du sagen willst.«

»Nein, weißt du nicht, aber rede halt weiter!«

»Also ich frage mich, was für ein Teufel mich geritten hat, auf dem Seminar mit ihr, ich meine mit Martina, zu schlafen. Hätte überhaupt nicht sein müssen.«

»Wer sich selbst treu bleiben will, kann nicht immer anderen treu bleiben.«

»Seit wann wirfst du mit Zitaten um dich?«

»Ich hab da so einen Freund, weißt du, der ist Lektor ... Aber, was für ein Seminar war das denn? Eine Fortbildung für Pornoautoren?«

»Du bist ätzend!«

»Lektoren?«

Alex verzieht das Gesicht. »Unsäglich!«

»Du hast recht. Ich bitte höflichst um Entschuldigung. Kommt nicht wieder vor.«

»Das glaubst du selbst nicht. Egal. Ich war auf einem Tantra-Seminar.«

»Echt? Wow! Wo?«

»Haus Schwalbennest. Leela-Tantra.«

Marcel schaut ihn verständnislos an.

»So heißt das Institut.«

»Lila Tantra? Bedeutet das, ich meine, ist das irgendwie ... feministisch?« Marcels Augenbraue geht nach oben.

Alex braucht einen Moment, bis er versteht. »Nein, nicht die Farbe Lila, du Holzkopf. Leela. L-e-e-l-a. Heißt soviel wie Kosmisches Spiel

»Und da hast du dich ein bisschen verzockt?«

»Marcel, mir ist nicht nach Rumblödeln. Simone wusste von dem Seminar, aber es war klar ausgemacht, kein Sex.« Immerhin, Marcel hat seinen warnenden Blick verstanden und hält die Klappe.

Alex setzt sich im Wohnzimmer in seinen Lieblingssessel, sein Freund schlendert unschlüssig hinterher und fragt vorsichtig: »Gehört das nicht dazu, bei so einem Seminar?«

»Nein. Aber dass ich Schwachkopf nicht in der Lage bin, eine klare Vereinbarung einzuhalten, das macht mich fertig. Ist auch nicht okay. Ist infantil.«

»Du klingst, als wärst du bei einer Therapeutin gewesen.«

»Manchmal denke ich, ich war mit einer zusammen. Nur dass die Therapie leider nicht angeschlagen hat.«

Marcel lacht. Dann bohrt er weiter nach: »Ja, und weiter? Du hast dort jemanden kennengelernt?«

»Ja klar, aber ... dabei blieb es halt nicht. Die Stimmung am Abend war einfach unwiderstehlich. Andererseits, es war klar ausgesprochen, dass das eine einmalige Episode bleibt, dass da also nichts weiter draus entsteht. Aber ich kam gar nicht mehr dazu, das zu erklären.«

»Um was zu erklären?« fragt Marcel, plötzlich ganz nüchtern und sachlich.

»Naja, auf solchen Seminaren kommt man sich halt sehr nah. Wir haben da so ein Ritual gemacht, immer ein Mann mit einer Frau ...«

»Verstehe!« Es gelingt dem Deppen nicht, sein Grienen zu verbergen.

»Nein, scheiße, du verstehst überhaupt nichts! Es war kein Sex-Ritual. Es ging um Präsenz. Wie man mit einer Person zwei Stunden lang präsent bleiben kann.« Alex Stimme klingt schrill. Es gefällt ihm nicht, wohin sich das Gespräch entwickelt.

»Und dabei habt ihr miteinander gevögelt.« Marcel kann einem den letzten Nerv rauben.

»Nein, haben wir nicht, jedenfalls nicht in dem Ritual!«

Marcels Mundwinkel gehen steil nach oben. »Aber danach!?«

»Ja, verdammt! Warum denn auch nicht? Der Gruppenraum war geschmückt wie ein Liebestempel. Die Energie – so spricht man da! – war total aufgeladen. Und es war klar, dass sie nur diese eine Nacht will, das wars. Martina war da echt cool, ich wusste gar nicht, dass Frauen so sein können.«

»Können sie! Aber egal, du hast also die Vereinbarung mit Simone gebrochen?«

Alex reißt sich zusammen, um nicht loszuschreien. »Nein! Ich meine Ja! Das heißt, wie man’s nimmt. Ja, weil wir Sex hatten. Nein, weil ich mich nicht tiefer auf sie eingelassen habe. Nichts, was die Beziehung bedroht hätte. Und darum gehts doch letztlich bei so einer Vereinbarung. Als sie mich am Morgen unter der Dusche noch mal anmachen wollte, habe ich sie total abgeblockt. Ich wollte das nicht. Ich hatte fast schon Widerwillen.«

»Häh? Also irgendwie ... ich verstehe das alles nicht. Warum vögelst du eine Frau, die dich schon am nächsten Morgen anwidert? Und für die du dann noch deine Beziehung ruinierst?« Marcel klingt plötzlich wie ein Wanderprediger und setzt gleich noch einen drauf. »Wobei ... meiner Meinung war da sowieso nichts zu retten. Außer ihr hättet die Beziehung geöffnet, aber sowas wie polyamor stand ja wohl nicht zu Debatte, oder?«

Alex schlägt die Hände vors Gesicht. Karina hatte sie gewarnt, lieber keinem von dem Ritual zu erzählen. Und schon gar keinem, der nichts davon versteht. Sie hat leider recht behalten. Marcel versteht gar nichts. »Wenn du verdammter Elch keine längere Beziehung auf die Reihe kriegst, weil du bei jeder Missstimmung gleich die Biege machst, dann spiel dich hier nicht als Beziehungsexperte auf. Das ist erbärmlich!«

Marcels Augen funkeln ihn an, nicht böse, eher wie bei einem sportlichen Wettkampf.

»Und jetzt komm mir nicht mit Polyamorie«, schiebt Alex schnell nach. »Das ist nämlich etwas fundamental anderes, als sich gar nicht erst einzulassen.«

»Okay, okay, Alex. Ich habe keine Ahnung von Beziehung, aber dafür umso mehr von Frauen. Fakt ist, dass Frauen und Männer sich nicht verstehen, vor allem wenn es um Sex geht, und deswegen drehen sie regelmäßig durch, wenn wir unserem Schwanz nachgeben, versuchen, ihn uns madig zu machen, uns Schuldgefühle einzureden, nur weil wir unsere gottgegebene Geilheit leben und dafür nicht jedes Mal ihre Genehmigung einholen. Was sie uns als Treue verkaufen, ist nichts als sexuelle Leibeigenschaft. Nee du, ich ziehe es vor, mich gar nicht erst ernsthaft zu binden, ich lasse mich nicht abrichten wie ein Schoßhündchen. Schau sie dir doch an, die müden, traurigen Ehemänner, bei denen die Dressur erfolgreich verlaufen ist, das sind doch keine Männer mehr! Sie machen es ihrer Frau recht und am Ende werden sie noch dafür verachtet. Oder sie gehen in den Puff und werden erst recht verachtet. Wenn nicht wie bei Elchen üblich eingebuchtet.«

Marcel kommt richtig in Wallung, offensichtlich hat Alex einen Punkt getroffen. Aber andererseits: Ist durchaus was dran. Frauen können Männer nicht verstehen. Marcel steht zu seiner Männlichkeit, lässt sich kein Jota davon abbringen und findet immer wieder Frauen, die genau darauf abfahren. Alex greift zur Bierflasche und saugt den letzten Rest in sich hinein.

Marcel hat inzwischen neu Anlauf genommen: »Ich sehe schon, was du jetzt denkst: Wo bleibt da die Liebe? Ich gebe es ganz offen zu, ich habe keine Ahnung, was Liebe ist«, er dehnt das Wort wie Kaugummi, »aber so viel ist klar: Das Elend, das in den allermeisten Beziehungen abgeht, das kanns echt nicht sein!«

»Gedankenlesen musst du noch üben!«, gibt Alex zurück und verschluckt sich dabei fast. »Aber in einem hast du recht. Du hast von Liebe keine Ahnung. Komischerweise scheint dir das nicht viel auszumachen. Aber mich zerreißt es. Ich hasse Simone, weil sie mit ihrer Sexualität nicht klarkommt. Aber ich liebe sie auch.«

»Nein, du liebst sie nicht, du brauchst sie, Schätzchen, das ist etwas vollkommen anderes!« Marcels Grinsen verzieht sich zu einer breiten, hämischen Visage.

Dieses verdammte Großmaul! Seine Swingerclub-Philosophie kann er sich sonst wo hinschieben! Macht das Gespräch überhaupt noch irgendeinen Sinn? Er kennt doch Marcels Einstellung in Liebesdingen zur Genüge. Der wird ihn niemals verstehen. Erkläre mal einem Eisbären das Fliegen. Hoffnungslos!

»Egal, wie auch immer, es hat dich total mitgenommen.« Marcel nimmt die beiden leeren Flaschen. »Komm, ich hole uns noch ein Bier. Soll ich den Wodka auch gleich mitbringen?«

Eine Stunde später ist Marcel immer noch da. Der Alkohol hat dem Gespräch erstaunlicherweise ungeahnte Tiefen verliehen. Aber auch Untiefen.

»Ich finde ja, dass unsere Gesellschaft immer noch total verklemmt mit Sex umgeht. Okay, okay, bei Google kannst du animal sex eingeben, und prompt hast du Bilder von Weibern auf dem Bildschirm, die von Pferden gefickt werden, also, ich bin ja hart gesotten, aber das ist wirklich krank.« Marcel verzieht angewidert sein Gesicht. »Hat mir Pit neulich erzählt.«

»Schon klar, wärst du von allein nie draufgekommen.« Erstaunlich, dass Marcel überhaupt irgendetwas peinlich ist!

»Nee, echt, also wirklich nicht! Aber was ich sagen wollte, trotz aller Freizügigkeit wird immer noch rumgeheuchelt und rumgezickt, was das Zeug hält. Inzwischen ist es ja ein offenes Geheimnis, dass auch Frauen mal schnellen, unkomplizierten Sex suchen. Das Internet ist voll davon, aber welche gibt das schon offen zu, ich meine, ohne den Schutz der Anonymität? Oder in einem Club Gleichgesinnter. Also ich weiß ja nicht, aber deine Martina scheint doch auch so eine zu sein. Die machen dann Tantra, weil, da geht es ja um etwas Höheres. Warum kann man nicht einfach dazu stehen? Braucht man doch keine teuren Kurse für zu buchen!«

»Fickclubs tuns auch, ich weiß, Marcel.

»Das sind keine Fickclubs. Das sind hocherotische Events, mit gehobenem Dresscode und Gesichtskontrolle. Sogar dann, wenn später alle eine Maske tragen müssen. Ist also nicht unbedingt weniger anspruchsvoll als Tantra ...«

»Junge, rede nicht über Sachen, von denen du nichts verstehst. Beim Tantra gehts nicht um Dresscodes. Es geht um innere Entwicklung. Dir täte so ein Workshop vielleicht auch mal gut. Da könntest du dir anschauen, warum du feste Beziehungen meidest wie der Teufel ...«

»Kein Bedarf«, grätscht Marcel dazwischen. »Weiß ich alles schon, habe ich dir doch erklärt.« Marcel macht sich noch breiter auf der Couch. Muss immer noch den Souveränen spielen, selbst im bedudelten Zustand.

»Du weißt bei dir Bescheid? Nichts als billige Schutzbehauptungen«, kontert Alex grantig. »In so einem Kurs bekämst du sehr schnell mit, wie zu du bist. Panzerherz, kommt keiner ran. Nur Sexappeal und Zynismus, mehr ist da nicht. Und weißt du was: Das kommt da echt nicht gut an.«

»Deswegen geh ich ja auch gar nicht erst hin.« Smile!

»Solltest du aber. Du kannst die Nummer noch eine Weile schieben, aber immer nur Party, das läuft sich irgendwann tot. Wenn du so ein Ritual mitmachst, wirst du vielleicht – vielleicht! – mal deine Sehnsucht spüren. Weißt du, was das ist? Sehnsucht? Dich wirklich auf jemanden einlassen? Du würdest es kennenlernen, weil du es bei den anderen mitbekommst und weil du dich der Schwingung im Raum nicht ewig entziehen kannst.«

»Wow! Schwingung! Was habt ihr denn in dem Ritual gemacht? Also das will ich jetzt doch mal genauer wissen! Ich habe immer gedacht, es geht da um Sex mit Räucherstäbchen«, blubbert Marcel.

Alex Augen fahren Karussell.

»Nun sag schon, Alter. Was geht da ab?« Marcels Blick wirkt tatsächlich interessiert.

Also gut! »Ich hab keinen Bock, dir den genauen Ablauf zu erklären, du ziehst es doch nur ins Lächerliche! Aber so viel sei verraten: Es kribbelt bis in die Haarspitzen. Diese abgefahrenen Atemtechniken! Alles kribbelt, wenn du in diesem Zustand stillsitzt und ihr in die Augen schaust ... ist wie auf Droge. Nein, viel besser! Du willst die ganze Welt umarmen. Manchmal kommt auch ein Schwall Trauer hoch, einfach nur so, vom in die Augen schauen. So wie ... mit Simone.« Alex spürt einen stechenden Schmerz in der Brust. Die Trauer schluckt er gleich wieder runter, bloß keinen dummen Spruch mehr.

Er fühlt sich immer einsamer, je länger das Gespräch dauert. Am besten wirft er Marcel jetzt endlich raus. Er geht in die Küche und holt noch ein Bier.

»So, das ist jetzt das letzte für heute. Ich muss ins Bett. Darf gar nicht dran denken, was morgen ...«

»Okay, aber erst erzählst du noch, wie das Ritual weiterging. Wart ihr nackt? Habt gevögelt? Oder alles nur Trockenübungen?«

Anders wird er ihn sowieso nicht los. »Trockenübungen. Wir haben eine halbe Stunde in Yabyum gesessen ...«

»Ist das so was wie Jacuzzi?«, fragt Marcel trocken.

»Du machst mich fertig«, stöhnt Alex.

»War ein Scherz. Also, mach weiter! Vielleicht sollte ich doch mal dorthin ...«

»Schon mal eine Tantra-Statue gesehen, wo die Frau auf dem Schoss des Mannes sitzt, Arme und Beine um ihn geschlungen? Das ist Yabyum, die tantrische Stellung par excellence. Wir haben eine halbe Stunde so gesessen und geatmet.«

»Kenn ich, man trinkt gegenseitig den Atem, wow, das habt ihr gemacht, habe ich auch schon mal probiert, ist echt eine Droge.«

»Hörst du mir jetzt mal zu?«

»Ja! Jaaaaa! Bin ganz Ohr.«

Die gefährliche Unausweichlichkeit der Liebe

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