Читать книгу Vermisst - Sam Hawken - Страница 23
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ОглавлениеJack versuchte schon seit über einem Jahr einen Krimi zu Ende zu lesen. Das Buch war an sich okay. Nur war Jack nie ein eifriger Leser gewesen, deswegen dauert es so lange. Er las ab und an ein paar Seiten, hatte Mühe sich zu erinnern, was vorher passiert war, und legte das Buch wieder beiseite. Weil es so lange offen dagelegen hatte, war der Buchrücken zerknickt.
Das Badezimmer des Anwalts war fertig. Jack hatte den Großteil der Arbeit alleine erledigt und sich nur dann Hilfe geholt, wenn es unumgänglich gewesen war. Er hatte die Männer nicht nach ihren Namen gefragt und nicht mit ihnen gesprochen. Und immer hatte er Ausschau nach dem schwarzen SUV und den Cops gehalten, aber niemanden gesehen. Er zahlte den Männern ihren Lohn und schickte sie anonym wieder ihres Weges. Es war besser so.
Jetzt hatte er frei. Und Lust, ein paar Seiten zu lesen, also machte er sich einen Krug Kool-Aid und setzte sich auf die hintere Terrasse. Er besaß einen kleinen, runden Tisch aus Eisen, der die richtige Höhe hatte, um das Getränk darauf abzustellen und sich daneben in einen Klappstuhl zu setzen. Eine rot-weiße Markise hielt die Sonne ab, nicht aber die Hitze. Krug und Glas begannen sofort zu schwitzen.
Er las zwei Stunden am Stück, was mehr war als in den letzten drei Monaten zusammen. Der Held hatte gerade den Kopf des Mannes entdeckt, den er suchen sollte. Die Story nahm Fahrt auf. Jack bekam kaum mit, dass die Hintertür aufgeschoben wurde.
»Jack.«
»Hmm?«
Lidia trug kühle, helle Kleidung und verströmte vom Liegen auf ihrem Lieblingsplatz, dem Sofa, schwach den Geruch des Hauses. Sie baute sich vor Jack auf und sah mit verschränkten Armen auf ihn herab. »Wir müssen reden«, sagte sie.
Jack legte das Buch auf den Tisch. Die Seiten streiften über den Krug, die Feuchtigkeit färbte das Papier dunkel. »Worüber?«
»Marina geht heute Abend zum Konzert.«
»Ja, stimmt, ich weiß.«
»Was ist mit mir?«
»Was soll mit dir sein?«
»Ich meine, was soll ich heute Abend machen? Krieg ich nichts Besonderes?«
Lidia war ein Teenager, aber in solchen Momenten sah Jack immer noch das kleine Mädchen in ihr. Die verschränkten Arme wirkten so pummelig wie früher als Kind. Sie zog einen Schmollmund.
Jack hob die Hände. »Ich weiß nicht, was schwebt dir vor?«
»Du hast mich nie gefragt, ob ich heute irgendwo bei einer Freundin übernachten möchte.«
»Hätte ich das tun sollen?«
»Du hättest fragen können.«
»Schon gut. Okay. Tut mir leid, dass ich nicht gefragt habe. Möchtest du irgendwo bei einer Freundin übernachten?«
»Jetzt ist es zu spät dafür, Jack. So kurzfristig klappt das nicht mehr.«
»Warum hast du dann nicht früher was gesagt?«
»Ich dachte, du würdest fragen.«
Jack rieb sich mit Daumen und Zeigefingern die Augen, bis er Farben sah. Er atmete ein, dann aus, und sagte: »Es tut mir leid, dass ich nicht gefragt habe. Was soll ich jetzt tun?«
»Ich weiß nicht. Was Besonderes.«
»Wir könnten eine Pizza bestellen.«
»Ich würde lieber essen gehen.«
»Okay, gehen wir essen. Wo möchtest du hin?«
»Wie wäre es mit italienisch?«
»Gut. Italienisch klingt gut.«
»Und ich will einen Film ausleihen.«
»Wir können uns auch einen Film ausleihen, wenn du das möchtest. Im Supermarkt steht jetzt so ein Automat. Du kannst dir einen Film aussuchen. Welchen du willst.«
Lidia sah ihn an, die Arme noch immer verschränkt. Dann ließ sie sie sinken. »Okay.«
Jack versuchte es mit einem Lächeln. »Okay?«
»Es ist bloß, ich darf nie was Cooles machen.«
»Weil du dreizehn bist. Wenn du älter wirst, darfst du mehr machen. Deine Zeit wird kommen«, sagte Jack.
»Ich will nicht zickig sein.«
»Das weiß ich doch.«
»Können wir vor Marina losgehen, damit sie weiß, dass sie was verpasst?«
»Das können wir machen«, sagte Jack. »Ich ziehe mir sogar ein frisches Hemd an. Willst du Kool-Aid?«
»Nein, danke. Von den Farbstoffen kann man krank werden.«
Jack schenkte sich nach. Der Krug war halb leer. »Hat mich noch nie krank gemacht«, sagte er.
»Dich kann nichts unterkriegen, Jack«, sagte Lidia und ging wieder ins Haus.
Er betrachtete die rote Flüssigkeit im Glas, in der halbgeschmolzene Eiswürfel trieben. Von Lebensmittelfarbe konnte man krank werden? Was würden die sich als Nächstes ausdenken? Jetzt mussten schon Kinder auf Dreirädern Ellbogenschützer und Helme tragen, und jeden Tag kam eine neue Warnung, was man besser nicht essen sollte. Vilma hatte es besser gewusst. Sie hatte ihre Kinder nie überbehütet.
Ihre Kinder. Seine und ihre.
Zuerst hatten sie gedacht, Vilma wurde nur deswegen nicht schwanger, weil sie schon älter war oder zu viel arbeitete oder aus irgendeinem anderen Grund, den noch keiner entdeckt hatte. Dann hatten sie eine Zeit lang geglaubt, Jack wäre das Problem. Sie hatten nicht geahnt, dass das Schicksal die Dinge in die Hand genommen hatte und ihnen dieses Eine verweigerte, weil es ihnen noch viel mehr nehmen würde.
Vielleicht wären sie sonst besser vorbereitet gewesen, hätten eher auf die frühen Warnzeichen geachtet. Die Ärzte hatten versichert, nein, es hätte keinen Unterschied gemacht, aber Jack wurde das Gefühl nicht los, irgendeinen schrecklichen Fehler begangen zu haben. Wenn er nur auf einen weiteren Test bestanden hätte, auf noch eine weitere Untersuchung. Aber das hätte Vilma die Verantwortung abgenommen und sie allein in seine Hände gelegt. So funktionierte es nicht.
Er trank das Glas aus, die Eiswürfel klackerten gegen seine Zähne. Er öffnete den Mund und schluckte sie herunter: zwei kalte Klumpen rutschten in die Tiefe, wo sie wie schlechte Gefühle und Zweifel verschwinden würden. Ihre Kinder. Seine und ihre.
Heute würde er nicht mehr weiterlesen. Die Lust hatte ihn verlassen, das Buch lag da und würde auf ihn warten. Eines Tages würde er erfahren, was es mit dem Kopf des toten Mannes auf sich hatte, aber nicht jetzt.
Jack stand auf und sammelte seine Sachen ein. Er musste sich um die Wäsche kümmern.