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ОглавлениеAm Morgen stand Jack leise auf, duschte und rasierte sich und ging in Shorts und T-Shirt in die Küche. Heute musste er nirgendwohin und nichts tun, was ihm ausgesprochen gut gefiel. Der Essensgeruch lockte Lidia aus ihrem Zimmer, sie genossen das gemeinsame Frühstück.
»Wann kommt Marina nach Hause?«, fragte Lidia.
»Keine Ahnung. Warum?«
»Ich dachte, wir könnten schwimmen gehen. Du kannst auch mit.«
»Nee, ich schwimme nicht gern.«
»Du musst ja nicht schwimmen. Du kannst auch nur die Füße ins Wasser halten.«
»Mal sehen.«
Sie erledigten den Abwasch, Lidia ging sich anziehen. Jack hörte das Klingeln seines Handys im Schlafzimmer erst, als fast schon die Mailbox angesprungen wäre. Er lief hin.
»Hallo?«
»Jack, Bernardo hier.«
»Hey, Bernardo. Ich wollte dich nachher anrufen.«
»Jack, ist Patricia bei dir?«
Bernardos Ton war scharf, und die Frage blieb lange im Raum hängen, bevor Jack begriff, was sie bedeutete. Er stürmte zu Marinas Zimmer und stieß die angelehnte Tür auf. Das Bett war ordentlich gemacht, Marinas Sachen aufgeräumt.
»Jack? Bist du noch da?«
»Ich bin da. Nein, Patricia ist nicht hier. Marina ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Sie sollte doch bei euch übernachten.«
»Ich weiß, Jack. Ich habe spät abends einen Anruf auf dem Handy bekommen, bin aber nicht drangegangen. Es war Patricia. Sie hat keine Nachricht hinterlassen. Ich dachte, vielleicht haben sie es sich anders überlegt und sind zu dir gefahren.«
Jack suchte Halt an der Wand. Lidia tauchte mit fragender Miene aus ihrem Zimmer auf, Jacks Blick ließ sie verstummen. »Davon weiß ich nichts«, sagte er zu Bernardo. »Ich habe keine Nachricht bekommen.«
»Das ist nicht gut«, sagte Bernardo, und Jack hörte die Angst in seiner Stimme. »Ich rufe die Polizei an. Ich lege jetzt auf und rufe die Polizei an.«
»Okay, okay. Ruf die Polizei an. Ich komme rüber, so schnell ich kann.«
»Ist gut, Jack. Bis nachher.«
Sie legten auf.
»Jack, was ist los?«, fragte Lidia.
»Es geht um deine Schwester«, sagte er. Er sah die Panik in ihrem Gesicht und streckte beruhigend die Hand aus. »Ihr ist nichts passiert. Das ist es nicht. Onkel Bernardo hat gesagt, sie und Patricia sind letzte Nacht nicht nach Hause gekommen.«
»Woher willst du dann wissen, dass ihr nichts passiert ist?«
»Ich will im Moment nicht daran denken. Hol deine Schuhe, wir fahren los. Ich ziehe mich um. Wir müssen los.«
Zuerst wählte er noch Marinas Nummer. Es klingelte fünf Mal, dann ging die Mailbox an. Er hinterließ eine Nachricht und wählte die Nummer erneut. Wieder Klingeln. Wieder die Mailbox.
Während Jack sich umzog, wartete Lidia schon ungeduldig am Truck. Beim Abschließen der Haustür zitterte seine Hand, aber als er am Wagen war, hatte sie sich beruhigt.
So früh am Morgen rollte nur wenig Verkehr in Richtung Nuevo Laredo. Vor dem amerikanischen Zoll zitterte Jacks Hand wieder, er packte das Lenkrad fester.
Er versuchte, nicht das Offensichtliche zu denken: dass Marina niemals hätte gehen dürfen, dass er es nicht hätte erlauben dürfen. »Nicht jetzt«, sagte er laut.
Der Grenzbeamte forderte ihn auf, das Fenster zu öffnen. Jack hatte seinen Pass bereits auf dem Schoß liegen, und Lidia reichte ihren hinaus.
»Schön, Sie wiederzusehen«, sagte der Beamte.
Jack sah ihn scharf an. »Was?«
»Schön, Sie wiederzusehen. Sie sind neulich erst hier durchgekommen.«
Jack zwang sich, den Namen des Mannes zu lesen. Gallego. Er erinnerte sich nicht, nickte aber und bemühte sich zu lächeln. »Stimmt«, sagte er. »Wir kommen öfter.«
»Ist alles in Ordnung?«
Gallegos Augen waren hinter der Sonnenbrille nicht zu erkennen, die er trug, obwohl es gar nicht besonders hell war. Jack suchte sich einen Punkt auf seiner Stirn und konzentrierte sich darauf.
»Wir haben heute Morgen schlechte Nachrichten bekommen«, sagte er. »Familiensache.«
»Nichts Ernstes, hoffe ich.«
»Das hoffe ich auch.«
Gallego hielt die Pässe noch ein wenig länger in der Hand, und Jack dachte schon, er würde sie zum Aussteigen auffordern, doch dann gab er sie zurück. »Seien Sie drüben vorsichtig«, sagte er. »Anscheinend ist es heute Morgen zu einer heftigen Schießerei gekommen. Da will man nicht zwischen die Fronten geraten.«
»Wir passen auf.«
»Okay. Fahren Sie weiter.«
Jacks Gedanken schwirrten schon, bevor er das Fenster wieder zugemacht hatte. Er stellte sich alle möglichen Szenarien vor, die er nicht in Worte fassen wollte. Eine Schießerei am Morgen, aber wo? Wer hatte geschossen? Wer war verletzt worden? Marina war sicher so spät nicht mehr unterwegs gewesen, redete er sich beruhigend ein, selbst wenn die Mädchen beschlossen hatten, nicht bei Bernardo zu übernachten. Außerdem, wenn eine Amerikanerin verletzt worden wäre, wäre das bestimmt schon bekannt, oder nicht?
Eine Straßensperre der Armee blockierte den direkten Weg zu Bernardo, sie mussten einen Umweg nehmen. Militärfahrzeuge summten durch die Innenstadt wie wütende Hornissen, die man in ihrem Nest gestört hatte. Ihr Anblick beruhigte Jack. So viele Soldaten, einer musste doch etwas gesehen haben. Vielleicht hatte Marina an einer Straßensperre umdrehen müssen und sich dann verfahren. Das konnte doch sein.
Mit einer Hand am Steuer rief Jack erneute Marinas Handy an. Klingeln, Mailbox. Er musste sich zusammenreißen, um nicht sein Telefon aus dem Fenster zu schmeißen. »Tu mir einen Gefallen«, sagte er zu Lidia. »Ruf deine Schwester an. Immer wieder, auch wenn sie nicht antwortet.«
»Okay, Jack«, sagte Lidia, und Jack hörte, dass ihre Stimme sich vor Angst zu überschlagen drohte. Nicht jetzt. Noch nicht.