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ОглавлениеGonzalo wurde vier Stunden vor seinem Dienstbeginn einbestellt, um zum Ort der Schießerei zu fahren. Die narcos hatten sich gegenseitig umgebracht, bis die Armee aufgetaucht war und alle erschossen hatte. Dann mussten Fotos gemacht, die Leichen weggebracht, die Patronenhülsen eingesammelt werden, bis am Ende nur noch Blutlachen übrig waren. Gonzalo blieb am Tatort, bis endlich eine Ablösung kam, und hatte dann keine Zeit für ein Frühstück oder einen Kaffee, weil er aufs Revier musste, um lange Berichte darüber zu schreiben, was er gesehen und getan hatte und was noch zu tun blieb.
Von seinem Schreibtisch aus sah er Menschen kommen und gehen. Sein Computer war völlig veraltet, für einen neuen gab es kein Geld. Alles Neue ging an die Policía Federal.
Gonzalo sah zwei Männer eintreten, einen Amerikaner und einen Mexikaner. Der Amerikaner war nicht zu übersehen, im Vergleich zu seinem Begleiter war er groß und breitschultrig. Sie hielten am Empfang inne, Gonzalo hörte den Mexikaner aufgeregt reden. Und vernahm seinen eigenen Namen.
Er ging zu ihnen. Der kleinere Mann, der Mexikaner, wirkte panisch. Der Amerikaner war ruhiger, aber auch in seinem Blick lag Angst. Gonzalo gab beiden die Hand. »Ich bin Gonzalo Soler«, sagte er. »Und wer sind Sie?«
»Ich heiße Bernardo Sigala«, sagte der Mexikaner. »Das ist mein cuñado, Sr. Jack Searle. Man hat uns gesagt, wir sollen mit Ihnen sprechen.«
»Ich bin hier«, erwiderte Gonzalo. »Also sprechen Sie mit mir. Aber gehen wir erst mal an meinen Schreibtisch und setzen uns.«
Er holte einen dritten Stuhl, und der Amerikaner und der Mexikaner nahmen vor seinem Schreibtisch Platz. »Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen«, sagte Bernardo.
»Spricht Ihr Schwager Spanisch?«, fragte Gonzalo.
»Ja«, sagte Jack.
»Oh, gut. Ich kann Englisch, aber auf Spanisch geht es schneller, ist das in Ordnung?«
»Kein Problem.«
»Erzählen Sie, Sr. Sigala, was führt Sie zu mir?«
Atemlos erzählte Bernardo die ganze Geschichte, als könnte er sie nicht schnell genug loswerden. Er berichtete von dem Konzert und dass seine Tochter und seine Nichte gestern Abend losgefahren und nicht mehr nach Hause gekommen waren. Der Amerikaner, Jack Searle, saß mit versteinertem Gesicht daneben, die Finger im Schoß verschränkt. Nur das Zucken der Muskeln an seinen Unterarmen verriet seine Unruhe.
Gonzalo machte sich Notizen. Als Bernardo fertig war, fragte er: »Und Sie haben die Freunde Ihrer Tochter angerufen? Sind das die, mit denen sie gestern Abend auf dem Konzert war?«
»Ja.«
»Und die sagen, dass die Mädchen sich nach dem Konzert verabschiedet haben und nach Hause gefahren sind, ist das richtig?«, fragte Gonzalo.
»Ja.«
Er sah Jack an. »Sr. Searle, haben Sie mit den Freunden Ihrer Tochter gesprochen?«
»Noch nicht. Aber keiner von denen hat mit ihr die Brücke überquert.«
»Aber sie könnte trotzdem gestern Nacht nach Texas zurückgefahren sein.«
»Ich wüsste nicht, warum sie das tun sollte.«
»Ich muss alles in Betracht ziehen. Sr. Sigala, Sie sagen, Ihre Tochter hat gestern Nacht noch angerufen, aber keine Nachricht hinterlassen. Wann war das?«
»Nach Mitternacht.«
»Ignorieren Sie grundsätzlich Anrufe um die Uhrzeit?«
»Nein.«
Bernardos Augen röteten sich, er drohte, in Tränen auszubrechen. Gonzalo behielt seine ausdruckslose Miene bei. »Hätten Sie den Anruf bloß angenommen. Dann wüssten wir vielleicht, wo sie hingegangen sind, nachdem sie sich von ihren Freunden verabschiedet hatten.«
»Ich weiß«, brachte Bernardo hervor. Jack legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Machen Sie sich keine Sorgen, señor«, sagte Gonzalo. »Wir tun alles, was wir können, um Ihre Tochter zu finden. Aber es ist möglich, dass sie letzte Nacht irgendwo anders übernachtet und Sie angerufen hat, um Ihnen Bescheid zu geben.«
»Aber wo ist sie jetzt?«
»Ich weiß es nicht. Aber wir finden es heraus.«
Jack beugte sich vor. »Ist es eine Frage des Geldes? Weil, wenn es darum geht …«
Gonzalo wurde steif und konnte sich einen säuerlichen Gesichtsausdruck nicht verkneifen. Er legte schwungvoll den Stift beiseite. »Nicht jeder ist auf mordida aus, Sr. Searle. Ich habe gesagt, dass ich Ihnen helfen werde, Ihre Töchter zu finden, und das werde ich tun. Bevor wir weitermachen können, sind ganz einfach ein paar Fragen zu klären. Verstehen Sie das?«
Jack wurde rot und lehnte sich im Stuhl zurück. »Ich verstehe. Tut mir leid.«
»Sind Sie schon auf dem amerikanischen Konsulat gewesen?«
»Nein. Nein, noch nicht.«
»Wenn wir hier fertig sind, sollten Sie am besten mit dem Konsulat sprechen.«
»Was bringt das?«
»Ihre Tochter ist amerikanische Staatsbürgerin?«
»Natürlich.«
»Dann sollte das Konsulat Bescheid wissen. So ist es am besten.«
Bernardo schniefte laut und hielt sich die Hand über den Mund. Seine Augen glänzten.
»Es ist wichtig, dass Sie Ruhe bewahren, Sr. Sigala«, sagte Gonzalo. »Nicht alles in Nuevo Laredo endet schlecht. Die meisten Vermissten tauchen nach ein paar Stunden wohlbehalten wieder auf. Ihre Tochter ist bestimmt irgendwo in Sicherheit, und wenn das Ganze vorbei ist, werden Sie über Ihre Befürchtungen lachen.«
»Sofern sie nicht tot ist«, brachte Bernardo heraus, dann flossen die Tränen. Sein Körper zitterte, er schlug die Hände vors Gesicht. Jack zog ihn an sich, legte den Arm um ihn und sagte leise etwas, das Gonzalo nicht verstand.
Gonzalo sagte etwas lauter: »Sr. Searle, ich halte es für das Beste, wenn Sie alle Freunde Ihrer Tochter anrufen, falls sie doch irgendwo ist. Das mag Ihnen wie Zeitverschwendung erscheinen, aber vielleicht erleben Sie eine Überraschung.«
Jack nickte. »Mache ich.«
»Aber erst mal müssen wir einige Formulare ausfüllen. Meinen Sie, Sr. Sigala ist dazu in der Lage?«
»Lassen Sie mich das machen«, erwiderte Jack.
»Ich hole sie. Bitte warten Sie hier.«
Gonzalo verließ den Schreibtisch und blieb eine Weile weg. Er trödelte am Fotokopierer, um Bernardo Sigala Zeit zu geben, sich wieder zu beruhigen. Als er zurückkam, war der Mann halbwegs gefasst, auch wenn er noch stoßweise atmete und die Lippen zitterten. Gonzalo gab Jack die Formulare und wartete, bis sie Zeile für Zeile ausgefüllt waren. Als er sie entgegennahm, sah er, dass Jack Searle die Handschrift eines einfachen Mannes hatte, er schrieb in großen Druckbuchstaben.
»Wann … werden Sie irgendwas wissen?«, fragte Jack.
»Ich werde das hier sofort an unsere Streifenpolizisten weiterleiten«, sagte Gonzalo. »Es wäre hilfreich, wenn Sie uns ein paar Fotos der Mädchen geben könnten. Aktuelle, wenn möglich. Die werden Sie auch auf dem Konsulat brauchen.«
»Marina hat ihren Pass bei sich«, sagte Jack.
»Die amerikanischen Behörden speichern solche Angaben. Alles kann helfen.«
»Gracias«, zwang sich Bernardo zu sagen. »Danke für Ihre Hilfe.«
»Denken Sie daran, was ich gesagt habe: Die meisten Vermisstenfälle lösen sich von alleine. Morgen um diese Zeit … nun, ich will nichts versprechen. Ich kopiere die Formulare, dann können Sie sie mitnehmen.«
Er ließ die beiden Männer wieder allein, die die Köpfe zusammensteckten und sich berieten. Gonzalo fragte sich, ob Bernardo in diesem Zustand nach Hause fahren konnte. Vielleicht sollte sein amerikanischer Schwager das übernehmen. Der war genauso besorgt, hielt sich aber besser, und würde das Ganze wahrscheinlich unbeschadet überstehen.
Gonzalo kehrte zurück zu Bernardo und Jack und händigte ihnen die Kopien aus. Er versuchte, ihnen mit einem Lächeln Mut zu machen, aber keiner der beiden sprang darauf an. »Das ist erst mal alles«, sagte er. »Bringen Sie mir so schnell wie möglich die Fotos. Ich bin heute noch bis zwanzig Uhr im Dienst. Hier ist meine Karte. Sie können mich mit Fragen jederzeit anrufen, und ich werde sie nach Möglichkeit beantworten.«
»Ich besorge Ihnen die Bilder sofort«, sagte Jack. Er half Bernardo beim Aufstehen. »Sie kümmern sich darum, dass sie an die richtigen Stellen weitergeleitet werden?«
»Natürlich. Sie haben mein Wort.«
»Nur, weil Sie ja sonst noch viel zu tun haben.«
Gonzalo sah Jack an. »Ich nehme meine Arbeit sehr ernst, Sr. Searle. Wenn ich Ihnen mein Wort gebe, können Sie sich darauf verlassen. Das hier hat oberste Priorität für mich.«
»Okay. Danke sehr.«
»De nada. Jetzt fahren Sie bitte mit Ihrem Schwager nach Hause, damit er sich ein wenig ausruhen kann. Ich melde mich, sobald es etwas Neues gibt.«
Er begleitete sie zur Tür und wartete, bis sie um die Ecke verschwunden waren. Ein Militär-Humvee röhrte in entgegengesetzter Richtung die Straße entlang und zog eine Wolke aus Staub und Dieseldämpfen hinter sich her. Als Gonzalo sicher war, dass die beiden Männer nicht wiederkommen würden, kehrte er an seinen Schreibtisch zurück.
Er las sich die Formulare durch. Die Mädchen waren neunzehn und siebzehn und wollten mit ihren Freunden Spaß haben. Ihr Verschwinden war nicht ungewöhnlich. Er wusste von einem halben Dutzend Vermisstenfällen wie diesem und machte sich keine großen Sorgen.
Amando Armas war der diensthabende stellvertretende Inspector. Gonzalo winkte ihn zu sich. »Fax das bitte an alle Reviere«, bat er ihn. »Und schreib dazu, dass noch Fotos folgen.«
»Was ist das?«, fragte Armas.
»Nichts Aufregendes. Zwei Mädchen, die letzte Nacht nicht nach Hause gekommen sind. Das hat sich bis zum Feierabend sicher geklärt.«
Armas sah die Papiere durch. »Warum machen wir uns dann die Mühe, es rauszuschicken?«
»Die Väter sind in Sorge. Selbst wenn es nichts bringt, kann ich wenigstens sagen, wir haben unser Bestes getan.«
»Du hast ein zu weiches Herz, Gonzalo.«
»Verrat’s keinem.«
»Okay. Ich übernehme das.«
»Danke, Amando.«
Armas ging, und Gonzalo wandte sich wieder seinem Computer zu. Kurz kam ihm Iris Contreras in den Sinn. Gonzalo hatte ihren Vater kaum gekannt, aber er hatte sich bestimmt genauso gefühlt wie die beiden Männer eben, deren Töchter nicht nach Hause gekommen waren. Hoffentlich würde diese Sache anders ausgehen.
Er wollte nicht mehr daran denken. Er hatte immer noch die Berichte über die Schießerei zu schreiben. Wenn er Glück hatte, bekam er sie fertig, bevor der nächste Notfall reinkam.