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Prolog

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England 1790

Ein hohes, efeuumranktes Tor markierte die Einfahrt zur Farleigh Hall. Dahinter wand sich mitten durch symmetrisch angelegte Terrassengärten ein langer, breiter Weg zum Hauptgebäude hinauf. Durch die großartige Anlage führten kreuz und quer Spazierwege, die von Eibenhecken gesäumt waren. Doch es war eigentlich viel mehr Farleigh Hall selbst, das mit seiner würdevollen Backsteinfassade und seiner imposanten Größe unweigerlich die Blicke des Betrachters auf sich zog. Zu beiden Seiten der breiten, geschwungenen Steintreppe erstreckten sich endlose Fluchten hoher Flügelfenster mit goldschimmernden Seidenvolants … ein überwältigender, aber auch ein etwas furchteinflößender Anblick.

Am östlichen Ende des Herrenhauses unterrichtete der Hauslehrer Mr. Findley zwei Kinder im Alter von sechs beziehungsweise zehn Jahren, und seinem wachsamen Auge entging nicht, daß die Blicke der beiden immer häufiger zum Fenster des Unterrichtszimmers abschweiften, das an diesem warmen Juninachmittag halb offen stand. Es waren zwei kräftige, robuste Knaben, der eine – der ältere – blond, der andere dunkel, aber beide mit den gleichen durchdringend grauen Augen des Vaters.

Es war denn auch ihr Vater, auf den die beiden so ungeduldig warteten. Sie zappelten unruhig an ihrem Tisch aus edlem Kirschbaumholz herum, bis Mr. Findley mit einem anklagenden Blick gen Himmel schließlich die Arme hochwarf.

»Ab mit euch!« sagte er widerstrebend. »Ich könnte genausogut Stroh in eure Köpfe stopfen! Euer Vater wird nicht vor Anbruch der Dunkelheit aus London zurück sein, aber ihr hört ja nicht auf einen wie mich. Bildung ist wirklich das erstrebenswerteste Gut im Leben, aber begreift das einer von euch? Wohl nicht.«

Er warf einen letzten geringschätzigen Blick auf die Knaben und murmelte noch etwas von ›Ungerechtigkeit des Schicksals‹ vor sich hin. Er war frustriert und auch nicht ohne Neid. Denn eines stand fest: Auch wenn ihre Köpfe später leer sein würden, ihre Brieftaschen wären es bestimmt nicht …

Nicht die der Söhne des 17. Herzogs von Farleigh, einem der reichsten Männer von ganz England.

In diesem Moment hörte man draußen auf der Auffahrt das Geratter von Kutschenrädern. Mr. Findley nahm keine Notiz davon, er hing weiter seinen trüben Gedanken nach.

Draußen bog die Kutsche um die letzte sanft geschwungene Kurve der Auffahrt. Der ältere der beiden Jungen sprang locker die breiten Steinstufen hinunter, während der jüngere sich mit seinen kurzen Beinen vergeblich bemühte, Schritt zu halten. Er hatte gerade erst die große Flügeltür erreicht, als die Tür der Kutsche aufflog. Ein gutaussehender, tadellos gekleideter Herr in einem elegant gestreiften Gehrock und hellen Pantalons sprang behende auf den Boden.

»Papa!« Sehnsüchtig leuchtende Augen blickten zu ihm empor. »Wir haben Sie vermißt. So sehr ich die Reitstunden mit Ferris auch genossen habe, lieber hätte ich statt dessen Sie als Lehrer gehabt.«

Der Herzog senkte den Blick auf seinen Sohn mit dem goldblonden Haar und ließ ihn über dessen aristokratische Züge gleiten, die ihn so sehr an jemand anderen erinnerten … Mein Gott, wie ähnlich er seiner Mutter sah!

Er lachte. »Und mir wäre das ebenfalls lieber gewesen, Stuart. In der Tat habe ich während meiner Abwesenheit auch oft an unsere Stunden gedacht – was sage ich, ich habe so sehr daran gedacht, daß ich nicht widerstehen konnte, dir dies hier mitzubringen.«

Der Herzog gab seinem Lakaien ein Zeichen, woraufhin erneut Hufgetrappel zu hören war. Ein anderer Reiter erschien, doch was die Augen von Stuart immer größer werden ließ, war das kleine weiße Pony, das er hinter sich herzog.

»Papa!« hauchte er. »Sie haben mir ein Pony mitgebracht! Ein Pony ganz für mich allein! Ich werde es White Dancer nennen!«

Ein mildes Lächeln spielte um den Mund des Herzogs, als er das Pony nach vorne führte. »Ist doch selbstverständlich, daß ich dir ein Geschenk mitbringe. Du weißt doch, für den künftigen Herzog von Farleigh ist nichts zu gut.«

Keiner von beiden hatte den kleinen Gabriel bemerkt, der wie ein Pfeil nach vorne schoß. »Ein Pony!« rief er strahlend. »Papa, Sie haben uns ein Pony mitgebracht!« In seinem Eifer warf er direkt vor den Nüstern des Ponys die Hand hoch.

Die plötzliche Bewegung erschreckte das Tier. Es stieg hoch, tänzelte zurück und schlug instinktiv mit seinen Vorderbeinen aus. Stuart wich zurück und entging nur knapp den blitzenden Hufen.

Der Herzog wirbelte zu dem Kind herum. »Das Pony ist für deinen Bruder, Junge, nicht für dich. Und paß um Himmels willen auf, was du tust! Fällt dir nichts Besseres ein, als ein Pferd zu erschrecken? Dein Bruder könnte jetzt tot sein!«

Stuart blickte seinen Vater an. »Er hat es nicht mit Absicht getan, Papa.« Sein Ton war ernst. »Er wollte doch nur das Pony sehen, nicht wahr, Gabriel?«

Gabriel sagte nichts. Er litt unter der stillen Mißbilligung seines Vaters. Sein dunkler Kopf senkte sich auf seine Brust, seine Unterlippe zitterte, und aus seinen Augen war jeder Glanz gewichen.

»Ja, ich nehme an, du hast recht.« Der Herzog bemühte sich jedoch in keiner Weise, seinen Ärger zu verhehlen. »Aber es stände ihm gut an, dir ein bißchen nachzueifern, Stuart. Dein Bruder ist von Zeit zu Zeit ein kleiner Tunichtgut.«

Die Schultern des kleinen Kerls zuckten immer noch. In der Absicht, ihn ein bißchen aufzuheitern, blickte Stuart seinen Vater an und fragte neugierig: »Papa, und was haben Sie Gabriel mitgebracht?«

Der Herzog seufzte. »Ach, mein Lieber, ich fürchte, Wills und ich waren so sehr damit beschäftigt, ein Pony für dich zu finden, daß ich das ganz vergessen habe. Was soll’s – ich werde versuchen, das nächste Mal daran zu denken.« Er winkte seinen älteren Sohn mit dem Finger heran. »Komm jetzt, Stuart. Wir haben viel zu bereden, denn ich habe beschlossen, daß du mich bei meinem nächsten Besuch in London begleitest.«

Mit stolzgeschwellter Brust schritt Stuart auf seinen Vater zu und stellte sich neben ihn. Der Herzog drehte sich um, so als wolle er schon losgehen, besann sich dann aber doch noch einmal und tätschelte Gabriel kurz den Kopf – so wie man es bei einem verhätschelten Haustier tut. Dann drehte er sich um und ging mit Stuart an seiner Seite davon.

Doch der Junge war weder verhätschelt noch ein Haustier. Er war nur ein Kind, das nicht verstehen konnte, warum sein Vater es so wenig beachtete.

Aber seine Mutter wußte es.

An einem der Fenster des Hauses glitt eine Falte der Seidenvorhänge wieder an ihren Platz zurück. Unbemerkt von den dreien hatte Lady Caroline Sinclair, Herzogin von Farleigh, die Szene von weitem beobachtet. Eine melancholische Traurigkeit senkte sich auf sie herab, als sie sich vom Fenster abwandte, denn sie fühlte – so wie es nur das Herz einer Mutter vermag –, wie tief verletzt der kleine Kerl war. Sie allein verstand die geheime Sehnsucht und den stillen Schmerz in den Augen ihres Sohnes, die Pein in seiner Seele. Sie hätte weinen können, denn der Junge war immer so bemüht zu gefallen, er buhlte so sehr um die Aufmerksamkeit seines Vaters. Aber Edmund war für die Ergebenheit seines Sohnes blind. Er nahm kaum wahr, daß der Junge überhaupt existierte.

Denn der Liebling des Herzogs war nun einmal sein Erstgeborener. Und Caroline hatte den furchtbaren Verdacht, daß ein zweiter Sohn nicht viel besser war als eine zweite Ehefrau …

Bitter dachte sie an den längst vergangenen Tag, da Edmund zu ihr gekommen war und ihr eröffnet hatte: »Stuart braucht eine Mutter. Und ich brauche wohl eine Frau.« Oh, wie dreist er gewesen war, wie forsch und arrogant und wie entschlossen, keinen Widerspruch zu dulden! Aber Caroline hatte keinen Gedanken daran verschwendet, sie hatte sich keine Sorgen gemacht, denn sie hatte Edmund Sinclair seit dem Augenblick, da sie ihn zum erstenmal gesehen hatte, geliebt – und dann der Gedanke, daß er sie unter allen anderen ausgewählt hatte. Ihr törichtes Herz war voller Freude und Hoffnung gewesen. Sicher würde er sie eines Tages lieben; eines Tages, ganz sicher …

Und so bemühte sie sich nach Kräften, eine liebende Ehefrau zu sein, die hingebungsvoll all ihre Pflichten erfüllte, damit er sie lieben könnte. Doch obwohl ihre Liebe sie für immer an den Mann band, der ihr Herz besaß, hatte sie erkennen müssen, daß seine Liebe bis in alle Ewigkeit nur der einen galt, die jetzt da oben unter den Engeln weilte …

Wenn Edmund nicht fähig wäre zu lieben – wieviel leichter wäre das zu ertragen.

Sie preßte ihre zitternden Finger gegen die Stirn. Sie mußte stark sein, wenn nicht um ihretwillen, dann doch um Gabriels willen. Für dieses Kind ihres Herzens, dieses Kind, das in der Tat alles war, was sie besaß, alles, was sie vielleicht je besitzen würde, könnte sie die Verletzungen und den Schmerz, könnte sie alles durchstehen. Mit schwerem Herzen, aber entschlossen, diese Schwäche nicht zu zeigen, eilte sie die Galerie hinunter und hinaus in den Sonnenschein.

Der Junge stand immer noch da, wo man ihn zurückgelassen hatte, still und in sich gekehrt, klein und allein. – Vergeben … und vergessen.

Doch das Kind vergaß nicht, und es vergab auch nicht. Mit freundlicher Entschiedenheit entzog sich Gabriel der liebevollen Umarmung seiner Mutter. Zu ihrer Überraschung wollte er weder Mitleid noch Trost. Es flossen auch keine Tränen. In seinen Augen glomm nur ein Funke von unerschütterlichem Stolz. Denn Gabriel war der Sohn seines Vaters …

Weit mehr, als irgend jemand von ihnen ahnte.

Die andere Braut

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