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Erstes Kapitel

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Charleston, South Carolina

1815

Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet. Ein wolkenbruchartiger Sommerregen verwandelte die ohnehin durchfurchten, übelriechenden Straßen in wahre Schlammlöcher, und wer mutig genug war, sich jetzt hinauszuwagen, wurde bis auf die Haut durchnäßt. Im Schankraum von Black Jack’s Inn dagegen pulste das Leben, und die Luft vibrierte von heiseren Männerstimmen und rauhem Gelächter.

Obwohl die Kneipe nur wenige Blocks vom Hafenbezirk entfernt lag, gehörte Black Jack’s doch zu den besseren Gasthöfen der Stadt. Er war bekannt für ausgezeichnetes Essen, saubere Wäsche und guten Service, und das alles zu annehmbaren Preisen.

An diesem naßkalten, trostlosen Abend hatten an dem Tisch in der hintersten Ecke des Raumes zwei gutgekleidete Männer Platz genommen; der eine auffallend dunkelhaarig, der andere eine schlanke Erscheinung mit haselnußbraunem Haar. Nach vielen Wochen auf See hatten sie beschlossen, die engen Schiffskojen gegen die Annehmlichkeiten einer warmen, bequemen Matratze zu tauschen.

»Auf eine sichere Heimkehr nach England – und auf den Grafen von Wakefield und seine zukünftige Braut!«

Die lachende Stimme gehörte einem Herrn namens Christopher Marley. Doch Lord Gabriel Sinclair war nicht gerade erbaut von dem Trinkspruch. Kein Wunder, denn der Gedanke an seine bevorstehende Hochzeit erfüllte ihn kaum mit Freude … Die Hochzeit war jedenfalls nicht seine Idee gewesen.

Er starrte in sein Glas, als könne es ihm die Geheimnisse der Welt offenbaren. Diese letzten Wochen hatten sich zu einem dunklen Traum entwickelt – zu einem Alptraum.

Stuart war tot, gefallen in der Schlacht von New Orleans.

Stuart. Eine unsichtbare Hand schien sich um sein Herz zu legen und es zusammenzudrücken. Der Tod seines Bruders war in der Tat etwas, woran Gabriel niemals irgendeinen Gedanken verschwendet hatte. Er und Stuart hatten sich eigentlich nie wirklich nahe gestanden, und im Laufe der Jahre waren sie immer weiter voneinander abgerückt. Gabriel hatte Farleigh am Tag des Begräbnisses seiner Mutter verlassen und war nicht wieder zurückgekehrt. Er hatte seinem Vater den Rücken gekehrt und ein eigenes erfolgreiches Schiffahrtsunternehmen aufgebaut. Und mit diesem Schritt hatte er seiner Vergangenheit endgültig den Rücken gekehrt.

Bittere Erinnerungen stiegen in ihm auf. Sein Herz krampfte sich zusammen. Doch warum quälte er sich? Er mußte der Wahrheit ins Auge sehen: Sein Vater hatte sich nie nach ihm erkundigt, nicht einmal, als er weggegangen war, um mit den englischen Truppen gegen Napoleon zu marschieren. Nein, in knapp fünf Jahren hatte sein Vater sich nicht ein einziges Mal herabgelassen, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Es war in der Tat so, als habe er nie existiert …

Aber all das hatte sich mit Stuarts Tod geändert.

Es war wohl nicht zu umgehen gewesen … Gabriels Gedanken wanderten zurück zu seinem letzten Treffen mit seinem Vater in dessen Londoner Stadtwohnung, wo er erfuhr, daß sein Bruder tot war.

Sein Vater hatte sich nicht verändert. Er war genauso arrogant, genauso beherrschend … genauso kalt wie eh und je.

»Du bist jetzt der Graf von Wakefield, der nächste Herzog von Farleigh«, sagte sein Vater in jenem kühlen, formellen Ton, an den Gabriel sich so gut erinnerte und den er so inbrünstig haßte. »Es ist deine Pflicht, zu heiraten und mir einen Enkel zu schenken, damit der Name unserer Familie nicht ausstirbt.«

Pflicht – das Wort hatte plötzlich etwas Gemeines. Gabriel hatte herzlich wenig über Pflichten und Pflichtgefühl eines Herzogs mitbekommen, denn das war die Rolle, auf die Stuart getrimmt worden war.

Er zwang sich, sich zu entspannen, und lächelte müde. »Oh, ich habe vielerlei Verwendung für Frauen, Vater, sowohl im Schlafzimmer als auch außerhalb.« Er machte eine Pause. Der Gesichtsausdruck seines Vaters, das augenscheinliche Mißfallen, das seine Worte erregt hatten, bereiteten Gabriel ein geradezu perverses Vergnügen. Er lachte kurz auf und fuhr dann fort: »Glücklicherweise hat keine von ihnen je an Heirat gedacht.«

Edmund Sinclair zog seine Augenbrauen zusammen, die ebenso eisengrau waren wie die Strähnen, die sein immer noch fülliges Haar durchzogen. Doch Gabriel wich vor diesem stechenden Blick nicht mehr zurück, wie er es als Kind so oft getan hatte. »Ja, das scheint mir auch so.« Die Stimme des Herzogs klang eisig. »Ich bin über deine … Aktivitäten informiert. Wie es den Anschein hat, hattest du zwar manche Mätresse, aber niemals eine Ehefrau.«

Gabriels Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Der Mann hatte es gewagt, ihm nachzuspionieren! Er starrte seinen Vater an, kaum fähig, sein Temperament zu zügeln.

»Ein Titel bringt Verantwortung mit sich. Angesichts deines bisherigen … Lebenswandels erscheint es mir wichtig, erst einmal hier klare Verhältnisse zu schaffen. Du mußt heiraten. Sofort. Du selbst hast angedeutet, daß du diesbezüglich keine konkreten Wünsche hast. Ich schlage deshalb folgende Lösung vor. Da Stuart Lady Evelyn nicht mehr heiraten kann, erscheint es mir logisch, daß du seinen Platz einnimmst.«

Gabriel hatte natürlich von Stuarts Verlöbnis mit Lady Evelyn gehört, der einzigen Tochter des Herzogs von Warrenton, dessen Besitzungen an den Landsitz von Farleigh in Kent angrenzten.

»In der Tat«, fuhr sein Vater fort, »sehe ich keinen Grund, warum die Hochzeit nicht wie geplant stattfinden sollte.«

Einen Moment lang war Gabriel zu verblüfft, um etwas zu erwidern. Erst später machte er sich klar, daß er sich auf ein derart arrogantes, vermessenes Verhalten von vornherein hätte einstellen müssen – immerhin war es sein Vater, mit dem er es zu tun hatte.

Der Drang, einfach wegzugehen, war überstark, und beinahe hätte er es auch getan, hätte seine sogenannte Pflicht Pflicht sein lassen, und zur Hölle mit seinem Vater. Doch irgend etwas hielt ihn zurück …

Gabriel mochte vieles sein, doch er war auf keinen Fall ein Dummkopf. Farleigh war ein großes Anwesen, und die in Aussicht stehende Herzogswürde war in der Tat eine große Verlockung …

»Nun?« Die Ungeduld in der Stimme seines Vaters war ihm nur allzu vertraut. »Hast du nichts dazu zu sagen, Gabriel? Wenn dem so ist, dann muß ich annehmen, daß du keine Einwände gegen die Heirat mit Lady Evelyn hast.«

Gabriel ballte heimlich die Fäuste. »Vater«, sagte er gelassen, »die Jahre haben dich nicht verändert. Es zählt nur das, was du willst. Was die anderen wollen, interessiert dich nicht. Würde es dich wirklich kümmern, wenn ich irgend etwas einzuwenden hätte?« Doch ihn beschäftigte, noch während er sprach, ein ganz anderes Problem. Er brauchte Zeit, um zu überlegen, brauchte Zeit, um sich so oder so zu entscheiden …

Eines stand für ihn ganz außer Zweifel. Wenn er sich entscheiden sollte, Lady Evelyn zu heiraten, dann nicht, um seinem Vater zu gefallen, sondern einzig und allein um seiner selbst willen.

Wie Gabriel nicht anders erwartet hatte, entschied sich der Herzog, seine Spitze zu ignorieren. »Dann ist ja alles bestens. Warrenton und seine Tochter haben bereits zugestimmt. Wir sollten sie also unverzüglich über den neuesten Stand der Dinge informieren …«

»Nein. Ich muß geschäftlich nach Amerika. Mein Schiff läuft morgen früh aus. Ich fürchte, ich muß darauf bestehen, damit bis zu meiner Rückkehr zu warten.«

Die Abneigung des Herzogs gegen die Yankees war ein offenes Geheimnis. Kein Wunder, wenn man an das Schicksal seiner ersten Frau dachte – und nun auch noch Stuart. Der Herzog preßte seine Lippen zusammen. »Ich sehe keinen Grund für einen Aufschub«, begann er.

»Aber ich. Ein paar Monate zu warten, wäre angesichts von Stuarts Ableben sicher angebrachter. Außerdem glaube ich kaum, daß es der Etikette entspricht, von so einem Ereignis ohne meine persönliche Anwesenheit unterrichtet zu werden.« Gabriel zuckte die Achseln. Seine Stimme klang überlegt und völlig ruhig. »Ein paar Monate spielen gewiß keine große Rolle.«

Der Herzog biß die Zähne zusammen. Sein Blick war kalt. »Du hast selbstverständlich recht«, sagte er gedehnt. »Wir werden die offizielle Bekanntgabe deiner Entscheidung bis zu deiner Rückkehr nach London verschieben.«

Sein Vater war wütend, stellte Gabriel selbstgefällig fest. Es war zwar nur ein kleiner Sieg, aber immerhin ein Sieg, und den wollte er genießen.

Eine Lachsalve hinter seinem Rücken brachte Gabriel wieder in die Gegenwart zurück. Was hatte Christopher gerade gesagt? Auf den Grafen von Wakefield und seine zukünftige Braut. Als Antwort auf den Toast hob er nur leicht seine Augenbraue anstelle seines Kruges. So wie er sich jetzt fühlte, würde er eher eine häßliche Hexe zur Frau nehmen, als dem Wunsch seines Vaters nachzukommen.

»Wir sind doch gerade erst angekommen«, sagte er leichthin. »Bist du denn so versessen darauf, schon wieder aufzubrechen, daß dich all das, was Charleston zu bieten hat, gar nicht interessiert?« Er zog verächtlich einen Mundwinkel hoch. »Wenn ich mich recht erinnere, hat sich nach unserem letzten Besuch in Charleston nahezu jedes Mädchen in Sehnsucht nach einem englischen Haudegen verzehrt!«

Wenn Gabriel bisweilen auch verschlossen, ja oftmals sogar unnahbar war, kannte Christopher seinen Freund doch zu lange, um nicht zu bemerken, daß sein Humor nur aufgesetzt war. »Irgend etwas macht dir zu schaffen«, sagte er langsam.

»Ich werde bald eine Frau heiraten, die aus einer der ältesten Familien in ganz England kommt. Du hast recht, Christopher. Laß uns auf die Verbindung zwischen dem Haus Warrenton und dem Haus Farleigh trinken.« Er hob sein Glas. »Auf die Mächtigen und die Verdammten!«

Diesmal war es Christopher, der nur zuschaute, als Gabriel seinen Bierkrug bis zum letzten Tropfen leerte. Vor seinem geistigen Auge sah er die vornehm blasse, durchscheinende blonde Frau, die seinen Freund heiraten würde. Er seufzte. Was würde er nicht darum geben, in Gabriels Schuhen zu stecken. Aber für einen einfachen Baron wie ihn war die liebliche Evelyn unerreichbar wie die Sterne am Firmament.

»Lady Evelyn ist beileibe kein Unhold, Gabriel. Sie ist so hübsch wie jede andere! Ehrlich, wenn ich an deiner Stelle wäre«, scherzte er, »würde ich eine Heirat mit ihr keineswegs als Unglück empfinden.«

Gabriel sagte nichts. Er hatte bereits Stuarts Titel geerbt, dachte er finster. Warum nicht auch seine Frau?

In Wahrheit war es nicht die Heirat an sich, die Gabriel so verabscheuungswürdig fand. Christopher hatte recht. Evelyn war wohl wirklich ziemlich hübsch. Und vielleicht war es sogar ein Vorteil, daß sie still und schüchtern war und ein bißchen Angst vor ihm hatte. Sie würde tun, was man von ihr verlangte, und nicht wagen, ihm dumme Fragen zu stellen. Und war es wirklich von Belang, daß er bald eine Ehefrau haben würde? Heirat und Treue waren nicht unbedingt das gleiche. Die Gesellschaft akzeptierte es, daß ein Mann schlief, wo er wollte und mit wem er wollte. Nein, sein Leben brauchte sich in keiner Weise zu ändern.

Und dennoch, das ungute Gefühl blieb. Was ihn aufrieb, war die Tatsache, daß sein Vater diese Heirat angeordnet hatte. Und sein Vater erwartete nun einmal, daß man seinen Wünschen stets Folge leistete. Zum Teufel mit seinem arroganten, autoritären Gehabe!

Er brütete noch eine Weile vor sich hin, bevor er sein Schweigen brach. »Ich habe nicht damit gerechnet, aus Pflichtgefühl zu heiraten«, sagte er schließlich. »Um genau zu sein« – er bemühte sich nicht, seinen Ärger zu verstecken –, »ich habe nicht damit gerechnet, überhaupt zu heiraten.«

Während der Gastwirt ihnen ein großes, saftiges Stück Braten mit gebackenen Süßkartoffeln und Honigschinken servierte, sah Christopher seinen Freund prüfend an. Sie hatten sich in Cambridge kennengelernt, und Gabriel war immer wild und tollkühn gewesen, ein ewiger Rebell. Auch damals war das Verhältnis zu seinem Vater schon unterkühlt gewesen. Doch jetzt war er verhärtet, und zwar in einem Maße, wie er es nie gewesen war – bevor seine Mutter starb.

Tatsächlich hätte Christopher schwören können, daß Gabriel seinen Vater für den Tod seiner Mutter verantwortlich machte … Doch Caroline war bei einem Unfall ums Leben gekommen, einem tragischen Unfall, sicher … doch es war nichtsdestoweniger ein Unfall gewesen.

Aber Christopher hatte nie gefragt, warum Gabriel seinem Vater die Schuld daran gab. Denn es gab eine Grenze, die er nicht zu überschreiten wagte.

Christopher schüttelte den Kopf. »Nur wenige von uns sind versessen darauf zu heiraten, mein Freund. Ich fürchte, es ist im allgemeinen eher eine Frage der Notwendigkeit.«

Gabriel lachte böse auf und nahm seine Gabel in die Hand. »In dem Punkt hast du wirklich recht. Die Frauen beklagen sich immer darüber, daß die Männer alle Freiheiten besitzen. Aber die Heirat ist dazu da, daß man bekommt, was man nicht hat. Es ist wirklich eine Ironie des Schicksals, oder? Wenn eine Frau einiges an Schönheit besitzt, schafft sie es im allgemeinen, ein Vermögen zu heiraten. Und wenn sie schon vermögend ist, braucht sie überhaupt nicht zu heiraten. Aber ein Mann … tja, wenn ein Mann einen Erben haben will, dann muß er sich eine Ehefrau suchen!«

Christophers blaue Augen blitzten auf. »Vielleicht schafft es die Dame – beziehungsweise die Heirat – ja, dich zu zähmen.« Sein Freund lachte in sich hinein. »In der Tat finde ich die Möglichkeit ziemlich beunruhigend!«

Gabriel lächelte. Er hatte offensichtlich seinen Humor wiedergefunden. »Ja, beunruhigend«, sagte er gedehnt. »Aber auch wahrscheinlich?« Er schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht.« Gabriel war sich wohl bewußt, daß sein Ruf als Frauenheld nicht gerade unverdient war. Bei Lastern kannte er sich aus, über Tugenden aber wußte er herzlich wenig.

»Nun«, fuhr er heiter fort, »ich schlage vor, wir wenden uns jetzt den weitaus angenehmeren Dingen des Lebens zu. Wer weiß, ob während unserer Abwesenheit nicht neue Blumen erblüht sind?«

Er ließ seinen Blick durch den Schankraum gleiten und unterstrich damit unmißverständlich, was er meinte. Christopher war nur zu froh über die Ablenkung. Ein grobknochiges Barmädchen mit breiten Hüften, runden braunen Augen und roten Pausbacken machte sich gerade daran, die leeren Bierkrüge von einem soeben freigewordenen Tisch abzuräumen. Als sie bemerkte, daß sie die Aufmerksamkeit der beiden auf sich zog, schenkte sie ihnen ein strahlendes Lächeln und beugte sich nach vorne über den Tisch. Ihr offenherziges Mieder gab dabei den Blick auf zwei bloße, üppige Brüste frei.

»Ah«, murmelte Christopher, »ein Angebot weiblichen Liebreizens, das nicht zu verachten ist, oder bist du anderer Meinung?«

»Bei Gott.« Gabriel war über die Schäkerei des Mädchens leicht amüsiert. Die dralle Kleine war ganz offensichtlich zu haben. Sie war jung und schien gute Zähne zu haben. Aber sie war ein bißchen plump … »Ich fürchte«, murmelte er, »sie ist ein bißchen zu trampelig für meinen Geschmack.«

Christopher lachte. »Sie gäbe zweifellos eine gute Bauersfrau ab.«

Gabriel sah sie zuerst – sie, die andere Magd. Sie kam gerade aus der Küche und band sich eine Schürze um die Taille.

Und dieses Mädchen war alles andere als plump. Ihr Haar leuchtete wie ein Feuerschein in einer Kombination aus Bernstein und Gold. Aber es war in ihrem Nacken zu einem Knoten so straff zusammengewunden, daß sich die Haut auf ihrer Stirn spannte. Ihm schoß der Gedanke durch den Kopf, daß sie versuchte, ihre Schönheit zu verstecken.

Christopher folgte seinem Blick. Als er sah, wem Gabriels Aufmerksamkeit galt, zog er eine seiner buschigen haselnußbraunen Augenbrauen hoch. »Aah«, murmelte er und rieb sich das Kinn, »ja, das ist eine Maid, die nicht nur heiße Küsse verspricht, sondern auch noch ein verlockender Anblick ist. Die Natur hat sie, weiß Gott, nicht stiefmütterlich behandelt, mein Freund. Ja, ich wage zu behaupten, daß sie es mit soviel erlesener Schönheit weit bringen kann … Ist keine Frau für einen Bauern, die da, oder? Die kann zweifellos höher hinaus.«

Gabriel hatte keine Lust zu antworten. Mußte er auch nicht, entschied Christopher. Gabriels intensives Interesse an dem Mädchen sagte ihm alles, was er wissen mußte. Er stieß einen leisen Seufzer des Bedauerns aus. Der Gedanke, mit dem Mädchen etwas anzufangen, war in der Tat sehr verlockend, doch Gabriel hatte sie zuerst entdeckt, und deshalb verbot sich für ihn jeglicher Gedanke an ein frivoles Abenteuer mit ihr ganz von selbst.

Gabriel betrachtete das Mädchen immer noch. Sie war fast genauso gekleidet wie die andere Dirne: ein abgetragenes Musselinkleid, das früher einmal grün gewesen sein mochte, und ein rechteckig ausgeschnittenes Mieder. Sie trug ein schwer beladenes Tablett und hatte gerade begonnen, die Gäste auf der anderen Seite des Raumes mit Bierkrügen zu bedienen.

Gabriel bemerkte, wie ihre Hand immer wieder nervös an ihren Ausschnitt flog. Sie gab nicht die geringste Andeutung ihrer sanften Rundungen preis. Ein zynisches Lächeln spielte um seinen Mund, denn seltsamerweise faszinierte ihn das, was dieses Dienstmädchen so keusch verbarg, mehr als das, was das erste Barmädchen so offenherzig zur Schau gestellt hatte.

Mit ihrer Zartgliedrigkeit und Zerbrechlichkeit war sie hier irgendwie fehl am Platz, ging es Gabriel durch den Kopf – wie eine zarte rosa Blüte inmitten von Dornensträuchern … Was für ein Unsinn, rief er sich zur Räson. Er ärgerte sich über sich selbst. Eine Dirne mit Rosen zu vergleichen? Er war plötzlich wütend und zornig auf sich. Doch dahinter schwelte die Erkenntnis, daß eine Erinnerung in ihm wachgerufen worden war, der er nicht entfliehen konnte …

Seine Mutter hatte Rosen geliebt.

Er hörte neben sich Röcke rascheln. Das erste Mädchen schlängelte sich zwischen ihn und Christopher. »Ich hoffe, es hat Ihnen geschmeckt, meine Herren.« Sie blickte mit ihren dunklen Augen vielsagend von einem zum anderen.

Ganz Gentleman, versicherte Christopher herzlich: »O ja, vielen Dank, mein Fräulein. Ein Kompliment an den Koch. Das Brot war knusprig und warm, das Fleisch zart und gut gewürzt.«

Sie lächelte und befeuchtete ihre Lippen. »Ich heiße Nell«, stellte sie sich vor. »Ihr seid Engländer, ihr beide, stimmt’s?«

»Gewiß doch.« Christopher erhob sich und deutete eine Verbeugung an. »Ich bin Sir Christopher Marley, und das ist Gabriel Sinclair, der neu ernannte Graf von Wakefield.«

Nells Augen weiteten sich. Sie machte einen Knicks – jedoch nicht, ohne erneut Einblick in ihr üppiges Innenleben zu geben. Ein Knicks mit Hintergedanken, dachte Gabriel und nickte bestätigend.

»Nur damit Sie Bescheid wissen: Neu hat nichts gegen euch Engländer. Wir hatten seit dem Kriegsende hier im Black Jack’s schon einige einquartiert, und es waren wirklich feine Leute, nicht solche, wie es sie hier manchmal gibt.«

Gabriel lächelte höflich. Er deutete mit seinem Kopf in die Richtung des anderen Barmädchens. »Wer ist das andere Mädchen?«

Nells Lächeln verschwand. »Oh, das ist Cassie. Ihre Mum war hier vor Jahren Barmädchen.« Sie zwinkerte ihm zu. »Jeder hier in Charleston wußte, daß ihre Mum ’n leichtes Mädchen war – sie war keine, die mit ein und demselben Kerl zwei Nächte hintereinander verbrachte, wenn Sie wissen, was ich meine. Noch nich’ lange her, daß sie die Fliege gemacht hat und ihr Balg hier zurückließ. Aber die spielt sich hier vielleicht auf – nur weil se besser spricht als ich. Aber das is’ nur, weil Bess ihr das beigebracht hat. Bess war nämlich mal Zofe bei einer echten Lady, versteh’n Sie?«

Gabriel nickte. »Aha. Und wer ist Bess?«

»War Bess«, verbesserte Nell. »Starb einen Monat nach der Geburt ihres Babys. Echt, die beiden klebten immer wie die Kletten zusammen, wie ein Baby an den Titten seiner Mutter!«

Nell zog verächtlich ihre Mundwinkel nach unten, als sie sah, daß Gabriel seinen Blick immer noch nicht von dieser Person lösen konnte. Sie rümpfte die Nase. »Viel zu wenig Arsch, um den Rücken ’nes Mannes zu wärmen, und vorn is’ auch nich’ viel, wenn Sie mich fragen.«

Sie warf ihren Kopf hoch und fuhr dann dreist mit dem Finger den Kragen von Christophers Jackett entlang. »Für den Fall, daß ihr noch was wollt, immer nur nach Nell fragen.«

Als sie gegangen war, lachte Christopher trocken auf. »Lieber Gott, sag bloß nicht, daß die nicht scharf ist.«

Gabriel zog die Augenbrauen zusammen. »Beziehungsweise beschränkt.« Christopher nickte und wandte gerade rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie neben dem Eingang ein massiger Mann mit Doppelkinn einen Arm um Nells Taille schlang und sie grob auf seinen Schoß hinunterzog. Nell lachte und schlang ihre Arme um seinen Hals. Der Mann griff in ihr Mieder und tätschelte ganz offen ihre Brust. Gabriel fand die Darbietung außergewöhnlich geschmacklos.

In diesem Augenblick tauchte das Mädchen, das offensichtlich Cassie hieß, aus der Küche auf. Auch Christopher ließ seinen Blick zu ihr hinübergleiten. Sein Lächeln verschwand. »Kannst du dir das vorstellen? Ihre Mutter hat sie einfach sich selbst überlassen, als sie noch ein Kind war?« Er schüttelte den Kopf. Sein Gesicht verdunkelte sich plötzlich.

Gabriel streckte seine langen Beine unter dem Bohlentisch aus. Dieser Teil von Charleston war, weiß Gott, kein hübscher Fleck. Überall Kühe und Pferde, selbst in den engen Alleen. Die Leute hatten keine Skrupel, ihre Abfälle überall abzuladen, wo es ihnen gerade gefiel. Kein Wunder, daß die Straßen matschig waren und üblen Geruch verströmten. Wenn das, was Nell gesagt hatte, stimmte, dann war das Mädchen eine von hier, das Produkt eines harten Lebens.

»Ihre Lage ist bedauernswert, ja«, stimmte er zu. »Aber wir haben in London auch Kinder, die auf der Straße leben, arme Kinder, die hungern und nicht wissen, wohin sie sich vor der Kälte des Winters oder der Dunkelheit der Nacht flüchten sollen.«

Christopher klopfte ihm auf die Schulter und sagte leichthin: »Hey, Gabriel, ich hatte keine Ahnung, daß du solche Dinge überhaupt wahrnimmst. Vielleicht besteht ja noch Hoffnung für dich.«

Neben ihnen erscholl lautes Gelächter. Er drehte sich halb um und bemerkte, daß die Männer am Nebentisch wohl beschlossen hatten, sich mit Cassie ein bißchen zu amüsieren, während sie versuchte, die Bierkrüge mit Bier nachzufüllen und gleichzeitig die grapschenden Hände abzuwehren.

»Hey, komm schon, Kleine. Zeig uns doch mal, was du da drin versteckt hast!«

Ein anderer schnaubte. »Was habt ihr denn. Is’ doch klar, daß da lang nich’ so viel Holz is’ wie bei Nell …«

»Aber ich möchte wetten, was da drin ist, is ’n ganzes Stück hübscher als bei Nell. Rund wie ’n saftiger Pfirsich mit kirschroten Nippeln …« Der Mann deutete mit seinen Fingern eine zwickende Bewegung an.

Die Runde schrie vor Lachen. Die Männer fuchtelten mit ihren Händen in der Luft herum und zupften mit ihren Fingern in die Richtung ihrer Brust. »Hey, das ist es!« tönte eine Stimme von einem noch anderen Tisch herüber. »Ein bißchen drehen, damit wir sehen, was sie hat!« Jemand ließ seine Hand über die Rundung ihres Hinterteils gleiten und kniff hinein. Als sie beiseite sprang, fingen drei von ihnen an zu grölen, während ein vierter sie begehrlich in lüsterner Erwartung anstarrte.

Gabriel hob langsam seinen Krug an die Lippen und spielte weiter den stillen Beobachter. Er fühlte sich in seinen Gefühlen keineswegs verletzt, denn solche Obszönitäten waren in Etablissements wie diesem gang und gäbe. Und in seinem Club in London war der Ton manchmal sogar noch weitaus rüder. Was das Mädchen anbetraf, so war ihr das Spielchen gewiß auch nicht fremd. Ihr gefiel das sicherlich. Den meisten von ihrer Sorte gefiel das …

Doch er hatte unrecht. Ein kräftiger Seemann griff nach ihrem Rock. Sie riß ihn weg und wirbelte herum. Sie sagte kein Wort, doch in ihren Augen blitzte für einen Moment Haß auf. Haß? Langsam stellte Gabriel seinen Krug wieder auf dem Tisch ab. Nein. Das konnte nicht sein. Er hatte das sicher mißverstanden. Höchstwahrscheinlich war das Mädchen eine Hure, genauso wie die andere …

Cassie McCellan knallte das Tablett auf den langen Arbeitstisch in der Küche. Oh, wie sie das alles haßte! Den Geruch nach Schweiß und Bier. Die grapschenden Männerhände und die feuchten Lippen. Sie schauderte. Es war ekelhaft, wie ihre Pranken nach ihr griffen und sie betatschten. Weitaus lieber hätte sie Zwiebeln geschält, ihre Finger an heißen Kesseln verbrüht oder auch Fußböden geschrubbt, bis ihre Hände rauh und rissig wären. Ja, das wäre ihr wirklich viel lieber gewesen, als wieder zu dieser johlenden Horde zurückkehren zu müssen. Allein schon beim Gedanken daran krampfte sich ihr Magen zusammen.

Aber Black Jack war schon seit eh und je darauf bedacht gewesen, den Wünschen seiner Gäste entgegenzukommen – ganz gleich, wie diese die Barmädchen behandelten. Sie schauderte und durchlebte erneut das Gefühl grapschender Hände und kneifender Finger. Oh, wie sie diese Schweine haßte. Sie suchten Erleichterung im Alkohol und – in derben Späßen mit den Frauen, die sie bedienten.

Und dann war da heute abend noch er gewesen, der eine Dunkelhaarige in der Ecke, der sie anstarrte und unentwegt beobachtete.

Seltsamerweise haßte sie das am meisten. Zu wissen, daß er sie beobachtete, während diese schrecklichen Männer nach ihr griffen und sie tätschelten, verstärkte nur noch ihre Scham und das Gefühl ihrer Erniedrigung … und ihren Zorn. Der weiche Schwung ihrer Lippen verhärtete sich. Hatte er sich dabei gut amüsiert? Hatte er vielleicht heimlich gelacht? Oh, welch eine Gemeinheit von dem Mann!

Trotzdem hätte sie gern gewußt, wer er war und wer sein Freund war. Ein reicher Kapitän und sein erster Offizier, vielleicht von dem Schiff, das im Hafen vor Anker lag? Oder Plantagenbesitzer aus dem Tiefland? Oder vielleicht wohlhabende Kaufleute, die Charleston bereisten? Black Jack hatte höchstpersönlich die Zubereitung des Abendessens überwacht und ihnen ihr Essen selbst serviert. Das allein schon zeichnete sie als Männer von hohem Rang aus.

Während sie sich die Hände an einem Stoffstreifen abwischte, warf sie einen flüchtigen Blick durch die schwingende Flügeltür, die zum Schankraum führte. Durch die Rauchschwaden, die in der Luft hingen, konnte man nur schwer etwas erkennen, aber immerhin doch genug, um mitzubekommen, daß Black Jack schon wieder an ihrem Tisch stand.

Die Flügeltür flog mit einem Zischen auf, und Nell rauschte herein. Ihr Zopf hing schief, die angeschnittenen Ärmel ihres Kleides waren zerknittert und von den Schultern gerutscht. Cassie wandte schnell ihren Blick ab. Nell sah aus, als sei sie gerade aus einem Bett gekrabbelt.

Nell kicherte. »Himmel, kannste dir das vorstellen? Ein englischer Graf hier im Black Jack’s? Du hast’n gesehen, gib’s zu, Mädchen. Die beiden Herren in der hinteren Ecke? Der Schwarzhaarige, das isser, der Graf. Unverschämt gutaussehend, echt. Da wird’s ein’m heiß und kalt bei dem.«

Sie tauchte ein halbes Dutzend schmutziger Bierkrüge in das Spülbecken. »Ich hab’ bei ’nem Mann noch nie solche Hände gesehen – so sauber und gepflegt, sogar die Nägel, hörste! Und dann der Anzug, den er trägt … haste den gesehen, Cassie? Aus Samt is’ der! Weiß eigentlich gar nicht, warum ich so von seinen Klamotten schwärme – das darunter, das interessiert mich weit mehr!« Sie lachte scheppernd auf.

Cassie sagte nichts, doch innerlich zuckte sie zusammen. Nell war aus demselben Holz, wie es ihre Mutter gewesen war. Sie liebte oft zu wahllos und zu gut. Ja, ihre Mutter war mit ihren Gunstbezeugungen viel zu großzügig gewesen, aber Cassie hatte sich schon vor langer Zeit geschworen, nicht denselben Fehler zu machen. Sie duckte sich unter den Schinken und Rinderhälften hindurch, die am Deckenbalken zum Trocknen hingen, und trat vor den Küchenschrank. Sie drehte Nell den Rücken zu und versuchte sie zu ignorieren, während sie ein paar saubere Bierkrüge in den Schrank einräumte.

Nell schenkte ihr keine Beachtung. »Und auch der andere – als Sir Christopher Marley hat er sich vorgestellt –, der ist fast so gutaussehend wie der Graf! Wirklich, ich bin heut’ abend sehr großzügig, Cassie. Der Sir Christopher Marley, der gehört dir!« Sie kicherte vor sich hin. »Ach, du wüßtest ja gar nicht, was du mit ’nem Mann wie dem machen sollst. Wie wär’s zur Abwechslung mal mit Liebe?«

Cassie wurde rot und stachelte damit Nell dazu an, noch dreckiger zu lachen. Würde sie sich nie daran gewöhnen, wie Nell sich über sie lustig machte? Oh, wenn sie nur durch die Tür marschieren und für immer von hier verschwinden könnte! Und was den Grafen anbetraf, es war ihr ziemlich egal, ob er nun der König von England war oder der Gockel auf einem Misthaufen.

Black Jack stieß die Tür mit seinen Wurstfingern auf. Er war ein großer, bulliger Kerl mit zotteligen Haaren, und Cassie war schon vor langem der Gedanke gekommen, daß seine finstere Ausstrahlung ihm wohl zu seinem Namen verholfen hatte. »Was, zum Teufel, hängt ihr beiden hier herum?« schnauzte er. »Bewegt eure faulen Ärsche dahin, wo sie hingehören! Wir haben Gäste, die warten!« Sein Blick heftete sich auf Cassie. »Und du«, knurrte er, »du bringst eine Flasche Portwein zu den beiden Herren am hinteren Tisch. Und nimm die besten Kristallgläser.«

Nell fuhr herum. »Cassie braucht sich nicht bemühen«, sagte sie eifrig. »Ich mach’ das schon …«

»Nicht du, Nell, sie.«Er nickte mit dem Kopf in Richtung Cassie.

Cassie war plötzlich ganz still geworden. In ihr klingelte eine Alarmglocke. Ihn bedienen? Ihn, der sie so dreist angestarrt hatte? Cassie hatte sehr wohl gemerkt, daß Nell ihr Angebot nicht aus reiner Nächstenliebe gemacht hatte. In Wirklichkeit konnte sie es wahrscheinlich gar nicht erwarten, das Bett der beiden Gentlemen heute nacht zu wärmen.

Nervös benetzte sie sich ihre Lippen. »Es macht mir nichts aus, wenn Nell …«

»Aber mir macht es etwas aus!« Cassie zuckte zusammen, als er nach einem Holzlöffel griff, der in einer langen Reihe mit Kupferpfannen und anderen Küchenutensilien von einem der Deckenbalken hing, und ihn drohend in der Luft herumschwang. »Ich habe gesagt, du gehst, mein Fräulein, nicht sie! Und nun tu’ es, bevor ich die Geduld verliere. Lächle und sei nett zu den Herren – und versteck nicht andauernd deinen Busen!«

Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie verfluchte Black Jack, und sie verfluchte sich selbst wegen ihrer Schwäche. Halbblind vor Tränen griff sie nach einer Flasche Portwein und nach Black Jacks besten Kristallgläsern. Sie versuchte sich einzureden, daß es dumm von ihr war, so widerborstig zu sein. Und überhaupt, sie hatte das alles doch schon tausendmal gemacht. Diese beiden waren sicher nicht schlimmer als irgendeiner von den anderen da draußen.

Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, stieß die Flügeltür auf und ging zurück in den lärmerfüllten Schankraum. Sie wurde mit großem Hallo empfangen. Ohne auf die frechen Zurufe und die grapschenden Hände zu achten, bahnte sie sich ihren Weg zwischen den Tischen hindurch.

Ihre Schritte wurden immer langsamer, je näher sie ihrem Ziel kam. Sie war fast angelangt, als der Mann mit dem schwarzen Haar seinen Kopf umwandte.

Ihre Blicke kreuzten sich und hielten sich fest.

Cassie war zumute, als zuckten tausend Blitze durch ihren Körper. Sie hatte nur noch einen Gedanken im Kopf: sich umzudrehen und wegzulaufen, so weit und so schnell sie konnte. Warum, das wußte sie nicht.

Aber einen endlos scheinenden Augenblick lang konnte sie sich nicht bewegen. Was hatte Nell doch gleich gesagt? Unverschämt gutaussehend sei er. Doch im Augenblick brannte sich nur das Wort unverschämt in ihr Gehirn ein.

Oh, sein gutes Aussehen ließ sich in keiner Weise leugnen. In ihrem ganzen Leben hatte Cassie noch nie einen Mann mit so ebenmäßigen Gesichtszügen gesehen. Hohe, sanft geschwungene Wangenknochen über glattrasierter Haut, eine Kieferpartie wie gemeißelt, das ziemlich kurzgeschnittene Haar schwarz wie die Flügel einer Krähe. Dunkle Locken kräuselten sich auf seiner Stirn in einer Weise, wie Cassie es noch nie zuvor gesehen hatte. Bei aller Ebenmäßigkeit und Schönheit war es dennoch ein äußerst männliches Gesicht.

Doch Cassie entdeckte auch eine gewisse Härte in diesem Gesicht. Um seinen ernsten Mund lag ein herber Zug. Die Augen unter den geschwungenen schwarzen Augenbrauen blickten frostig. Sie waren kalt und stechend wie gesplittertes Glas.

Cassie löste ihren Blick als erste. Sie schluckte und zwang ihre Beine, sich voranzubewegen, um die restlichen Meter, die noch zwischen ihnen lagen, zu überwinden. Doch er starrte sie weiterhin an, aus brennenden, silbrigglänzenden Augen, so als wolle er all das sehen, was sie verborgen hielt. Nell hatte recht, dachte sie in einem Anflug von Panik. Er ließ sie durch und durch erschaudern, doch es war kein angenehmes Gefühl.

»Hier bitte, meine Herren.« Es war keineswegs Zufall, daß sie sich neben den hellhaarigen Mann stellte, den Nell Christopher Marley genannt hatte. Sie stellte schnell die Kristallgläser auf den Tisch.

Christopher Marley lächelte zu ihr hoch. »Du bist Cassie, nicht wahr?«

Widerstrebend erwiderte Cassie seinen Blick. Ein leiser, aber tiefer Seufzer der Erleichterung entrang sich ihrer Brust. Ihr Instinkt sagte ihr, daß sein Blick nicht annähernd so bedrohlich war wie der seines Freundes. Er hatte gütige Augen, und ein warmes, freundliches Lächeln spielte um seinen Mund. »Ja, Sir«, murmelte sie. »Cassie McClellan.«

»Ist Cassie die Abkürzung für Cassandra?«

»Ja.« Sie nickte. »Aber niemand hat mich je anders als Cassie genannt.« Sie fühlte sich ein bißchen entspannter und wagte ein kleines Lächeln.

Sein Lächeln verstärkte sich. »Ich muß sagen, Cassie paßt zu dir.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete sie neugierig. »Ist Charleston schon immer dein Zuhause gewesen?«

Cassies Lächeln erstarb. Ihr Zuhause? Sie hatte kein Zuhause. Den engen, winzigen Raum, in dem sie mit Nell zusammen schlief, konnte man schwerlich ein Zuhause nennen. Ehrlich gesagt, war ein Zuhause der eine große Wunsch, den sie schon lange sehnsüchtig in ihrem Herzen bewegte. Sie und Bess hatten so oft davon geträumt, ihre Pfennige zusammenzusparen, um sich eines Tages vielleicht eine eigene Hütte kaufen zu können. Dort würden sie dann für feine Damen nähen. Denn beide waren sehr geschickt mit Nadel und Faden. Es würde auch nichts ausmachen, wenn es nur ein einziger Raum wäre. Was zählte, war nur, daß sie dann niemandem mehr Rede und Antwort stehen müßten, nur sich allein wären sie verantwortlich.

Bess – es traf sie plötzlich wie ein Hammerschlag. Liebe, teure Bess. Obwohl Bess nicht so viel älter als sie gewesen war, war sie für Cassie weit mehr eine Mutter gewesen als ihre eigene. Sie hatte sie aufgenommen, beschützt und nach ihr gesehen, wenn sich sonst niemand um sie gekümmert hatte.

Eine dunkle Bitterkeit schlich sich in ihr Herz. Nein, dachte sie erneut, sie hatte kein Zuhause und würde es wahrscheinlich auch nie haben.

Sie schlug ihre Augen nieder und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Entkorken der Flasche.

»Ja«, sagte sie ruhig. »Ich habe mein ganzes Leben in Charleston verbracht.« Sie lächelte leichthin. »Tatsache ist, daß ich die Stadt noch nie verlassen habe.«

Er hatte das Gefühl, als stimme irgend etwas nicht. Ein peinliches Schweigen breitete sich aus, als sie sich mit dem Flaschenkorken abmühte. Sie spürte, daß der Graf sie immer noch beobachtete und etwas sagen wollte. Die Nervosität machte sie unbeholfen. Sie zerrte geradezu hektisch an dem Korken.

Dann brach der Graf endlich das Schweigen. Mit kaum verhohlener Ungeduld in der Stimme sagte er barsch: »Gib schon her.« Cassie sah ihn bestürzt an. Ihr Mund öffnete sich. Doch was sie sagen oder tun wollte, das wußte sie auch später nicht. Starke Finger hatten sich bereits um den Flaschenhals gelegt, und für den Augenblick eines Herzschlags berührten die Knöchel seiner Faust die Rundung ihrer Brust. Cassie mußte all ihre Kraft aufbieten, um nicht laut aufzuschreien, nicht etwa weil sie schockiert war, sondern wegen der Reaktion, die diese Berührung in ihr auslöste. Es war wie ein Feuer, das sich ihr bis ins Mark brannte.

Der Korken flutschte mit einem lauten Plop aus der Flasche. Cassie zuckte bei dem Geräusch zusammen, als hätte eine Kanonenkugel eingeschlagen.

Sie errötete und machte sich daran, die beiden Kelche zu füllen. »Danke, Sir.« Und wieder erfaßte sie das unbändige Verlangen zu fliehen, doch dann fing sie einen Blick von Black Jack auf, der auf der anderen Seite des Raumes stand. Er schaute zu ihr herüber, und sein Gesichtsausdruck war eisig wie der Wind, der im Winter vom Meer herüberweht. Innerlich bebend und in der Hoffnung, daß niemand bemerkte, wie aufgewühlt sie war, schlug sie die Augen nieder und verneigte sich mit einem Knicks. »Haben Sie sonst noch irgendeinen Wunsch, meine Herren?«

Sie spürte kein Verlangen, den Grafen anzublicken. Doch er zog ihren Blick mit solcher Macht auf sich, daß sie nicht widerstehen konnte. Seine Augen taxierten sie kalt und abschätzig. Sein Blick wanderte über ihr Dekolleté und blieb dann mit kühler Berechnung – dessen war sie sich sicher – auf ihrer Brust oberhalb der ausgefransten Spitzenborte ihres Mieders haften.

»Im Augenblick nicht«, sagte er schließlich gedehnt.

Wütend, aber auch besorgt wegen seiner dreisten Musterung, nickte sie. »Ich räume dann nur schnell den Tisch für Sie ab.« Ganz gleich, wie galant sein Partner auch sein mochte, nur schnell weg hier, dachte sie und griff hastig nach den beiden Bierkrügen, die die Männer beiseite geschoben hatten. Doch in ihrer übertriebenen Eile, die Krüge auf das Tablett zu stellen, stieß sie mit dem Ellbogen gegen die Flasche Portwein und kippte sie polternd um. Die dunkelrote Flüssigkeit zog eine gerade Spur quer über den Tisch und tropfte an der Seite herunter. Beide Männer sprangen von ihren Stühlen auf, nahmen aber wie durch ein Wunder keinen Schaden.

»Mein Gott, was bist du für ein Tollpatsch. Als Barmädchen bist du aber wirklich eine blutige Anfängerin.« Der Graf sah sie an. Weder sein Blick noch seine Stimme ließen Nachsicht erkennen.

Cassie hatte bereits damit begonnen, den Tisch abzuwischen, um das angerichtete Unheil wieder zu beheben. Sie hielt kurz inne und erwiderte fest seinen Blick. »Das ist beileibe nicht mein erster Abend hier. Ich bin tatsächlich schon fast so lange hier wie Nell.«

»Dann wundere ich mich aber wirklich«, kam es grimmig zurück, »daß Black Jack überhaupt noch Wein in seinem Keller hat.«

Das war zuviel! Woher nahm er sich das Recht, sie als unfähig zu beschimpfen. Sie richtete sich kerzengerade auf und schrie ihn entrüstet an: »Und wer sind Sie, daß Sie meinen, mich kritisieren zu können? Wenn Sie jemals in Ihrem Leben mit ehrlicher Arbeit Ihr Brot verdient hätten, dann wären Sie vielleicht nicht so schnell bei der Hand, andere zu verurteilen, die nur ihr Bestes zu geben versuchen!«

Cassie sah nicht, daß Black Jack sich ihrem Tisch näherte. Sie rang nach Luft, als ihr Arm plötzlich mit eisernem Griff gepackt wurde, der, das wußte sie aus Erfahrung, wieder blaue Flecken hinterlassen würde. »Wie kannst du es wagen, so zu Seiner Lordschaft zu sprechen! Entschuldige dich auf der Stelle!«

Cassies Gesicht war purpurrot angelaufen. Wut stieg in ihr auf. Es war so demütigend, vor all den Gästen abgekanzelt zu werden, von denen keiner begriff, daß er für ihr Mißgeschick verantwortlich war … Wenn er sie schließlich nicht so angestarrt hätte, wäre sie vorhin auch nicht so ungeschickt gewesen.

Die Wurstfinger gruben sich tiefer in ihren Arm. »Los, mein Fräulein, mach schon!«

Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie hatte Angst, jeden Moment in Tränen auszubrechen. Sie haßte den Grafen dafür, daß er sie in diese Situation gebracht hatte, mehr noch aber haßte sie sich selbst für ihren mangelnden Stolz. Nur die Gewißheit, daß Black Jack es genießen würde, sie erniedrigt zu sehen, brachte sie dazu, ihr Kinn zu heben.

»Es tut mir leid«, preßte sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor.

Black Jack sah sie mürrisch an und ließ ihren Arm fallen. Dann wandte er sich den beiden Männern zu. »Ich lasse Ihnen gleich eine neue Flasche bringen«, begann er.

Christopher Marley wehrte mit der Hand ab. »Nicht für mich, danke. Ich hab’ für heute genug gehabt.« Er drehte sich um und drückte beruhigend Cassies Schulter. »Nichts passiert, Mädchen. Zerbrich dir nicht weiter dein hübsches Köpfchen.«

»Nein, bloß nicht«, spöttelte der Graf. »Das würden wir nicht ertragen.«

Der Graf war vergessen, als Black Jack sie zur Küche schleifte und ihr – die Tür war noch nicht ganz zu – seine geballte Wut entgegenschleuderte. »Diesmal bist du zu weit gegangen, Mädchen! Ich habe nie verlangt, daß ein Mädchen einen Mann in ihr Bett nehmen muß, wenn sie ihn nicht mag. Aber jetzt lass’ ich mir deine Hochnäsigkeit und deine Widerborstigkeit nicht länger gefallen. Damit kommst du mir nicht mehr davon, hast du kapiert? Tja, ich hab’ immer gedacht, wenn die erst mal ’nen Mann hatte, dann is’ die auch nich’ mehr so zickig. So, und jetzt wird es höchste Zeit, das herauszufinden.«

Plötzlich schien sich alles um sie herum zu drehen. Sie schauderte. Lieber Gott, er meinte doch nicht etwa … Ganz betäubt sah sie zu, wie er herumwirbelte und eine neue Flasche Portwein und ein Glas auf das Tablett stellte.

Er drehte sich zu ihr um und knurrte: »Du wirst den Schaden bei seiner Lordschaft wiedergutmachen – und bei mir auch, meine Gnädigste.« Er deutete mit dem Kopf auf das Tablett. »Bring das in das Rosenzimmer. Der Graf schläft dort. Wenn jemand bei mir mehr für eine Übernachtung bezahlt, dann bekommt er, so wahr mir Gott helfe, auch mehr dafür. Und tu’ ja nicht so, als wüßtest du nicht, wovon ich rede! Wenn du ihm gefällst, gefällst du auch mir. Ich würd’ mir das merken, wenn ich du wär’. Denn ansonsten sitzt du morgen früh auf der Straße. Das schwör’ ich dir.«

Cassie riß den Kopf hoch. So schrecklich es hier auch war, auf der Straße war es noch weitaus schlimmer. Gerade gestern hatte man wieder eine junge Frau in einer Allee aufgefunden, halbnackt und mit aufgeschlitzter Kehle.

Sie zögerte nicht länger. Seine Worte hatten ihr Beine gemacht. Sie schnappte sich das Tablett und hastete los, als sei der Teufel hinter ihr her.

Das Rosenzimmer war das beste Zimmer in dem Gasthof. Black Jack quartierte dort immer seine wohlhabenden Gäste ein. Der Blickfang des geräumigen Zimmers war ein breites Himmelbett mit einem hübschen rosenbestickten Bettüberwurf. Dazu passend war das Fenster mit farblich abgestimmten Brokatvorhängen dekoriert.

Als ihre Mutter angefangen hatte, bei Black Jack zu arbeiten, war Cassie manches Mal hier hineingeschlüpft und hatte ihrer Fantasie freien Lauf gelassen. Sie hatte sich vorgestellt, sie sei eine feine Lady und Herrin eines riesigen Hauses mit einem Dutzend solcher Zimmer. Sie litte niemals Hunger, und ihr wäre niemals kalt.

Nun war ihr einziger Gedanke zu fliehen – diesem schrecklichen Gasthaus, dieser Schufterei, dieser endlosen Plackerei zu entkommen.

Sie stellte das Tablett auf dem Tischchen neben dem Fenster ab und preßte ihre kalten Hände gegen ihre glühenden Wangen. Ihr Herz schrie in stummer Verzweiflung. War es falsch, mehr zu wollen? Sie wollte nicht viel, nur eben ein bißchen mehr als das Wenige, was sie hatte. Eine kleine Hütte mit einem Zimmer, das wirklich ihr gehörte, wo sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, womöglich auf der Straße zu enden. Ein paar Münzen, um sich ein neues Kleid zu kaufen – und vielleicht eine neue Haube.

Lieber Gott, sie wollte nicht wie Bess sterben, in dieser stinkenden Dachkammer, in der es nach Tod und Moder roch.

Wenn es nur einen Ausweg gäbe. Wenn nur …

Sie mußte sich zusammenreißen. Sie straffte die Schultern und wischte sich die nassen Wangen trocken. Erwartete Black Jack wirklich von ihr, mit dem Grafen zu schlafen? Panik ergriff sie. Wie konnte sie hier stehen und warten wie ein Lamm, das man zur Schlachtbank führte?

Sie fuhr herum. Ihr Blick fiel auf die Kommode direkt neben der Tür. Ein kleiner Berg mit Silbermünzen glänzte ihr entgegen. Es war sicherlich kein Vermögen. Aber es war weit mehr, als sie in all den Jahren gesehen hatte.

Sie brauchte nur die Hand auszustrecken, und es gehörte ihr …

»Ein verlockendes Sümmchen, nicht wahr? Aber wenn du es haben willst, Kleine, dann mußt du es dir, fürchte ich, verdienen.«

Die andere Braut

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