Читать книгу Der Weg nach Roseworthy - Samina Haye - Страница 10
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ОглавлениеMontag, 10. Jänner 2011
Um Punkt sechs Uhr morgens läutete seit Langem wieder mal Zoes Wecker. Mit einem flauen Gefühl im Magen stand sie auf und führte ihr tägliches Morgenritual durch. Ab unter die Dusche, danach in die Küche und einen starken Kaffee genießen.
In den Wintermonaten pflegte Zoe immer zu Fuß in die Schule zu gehen und so stand sie auch diesmal nach kurzer Zeit vor dem Eingangstor der Schule. Sie blieb kurz stehen, atmete nochmal tief durch und betrat dann die Schule.
Zoe wollte als erstes den Direktor begrüßen und machte sich auf in Richtung seines Büros.
Doch als sie den Flur entlangging wuchs ihre Unruhe. Es war so ungewöhnlich ruhig, niemand war zu sehen. Als sie um die Ecke bog standen alle Lehrer versammelt.
Hinter ihnen an der Wand hing ein großes Willkommensplakat, das die Schüler gemeinsam mit den Lehrern gemalt hatten.
Alle riefen wie aus einem Mund: “Herzlich Willkommen!“ und kamen ihr lächelnd entgegen.
Ihre Kollegen waren froh, sie wiederzusehen und endlich wieder bei sich in der Schule zu haben.
Direktor de Mol ging zu Zoe, nahm sie in die Arme und räusperte sich kurz.
„Guten Morgen, Zoe, wir sind glücklich, Sie wieder hier zu haben. Ihre Schwester war so lieb und hatte mir vor ein paar Tagen bescheid gegeben, damit wir Sie herzlich begrüßen können.“
Zoe musste tief durchatmen. Dieser herzliche Empfang ging ihr doch sehr nahe, und sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.
Sie sah in die Runde und begann zu weinen. Direktor de Mol nahm ihren Arm und brachte sie in sein Büro.
„Es tut mir leid, Herr Direktor, es war wohl zu viel auf einmal.“
Die Direktionsassistentin brachte ihr ein Glas kaltes Wasser.
Sie hörte, wie die Lehrer am Gang miteinander sprachen.
Als sie sich wieder gefasst hatte kam ihr Chef und setzte sich neben Zoe.
„Wenn es Ihnen zu viel wird, sagen Sie es, Sie können jederzeit zu mir ins Büro kommen, abschalten und einige Minuten für sich alleine sein. Ich kann gut verstehen, wenn es nicht von heute auf morgen geht, dass Sie sich wieder wohl fühlen. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen.“ Zoe sah ihm in die Augen.
„Vielen Dank. Ich finde es sehr nett von Ihnen, dass Sie mich so unterstützen, aber dieser Schritt zurück ins Leben, in den Beruf, ist längst überfällig. Schließlich muss es irgendwie weitergehen, auch wenn das Leben nicht mehr so viel wert ist, als es mal war.“
Der Direktor blickte Zoe mitfühlend an und berührte ihre Hand.
„Oh, bitte sagen Sie so etwas nicht. Das Leben ist noch genau so viel wert. Ich weiß, es ist schwierig, geliebte Menschen zu verlieren, die einem Kraft und Liebe im Leben gaben. Ohne sie zu sein scheint anfangs unmöglich, doch Sie werden es schaffen.“
Draußen läutete die Schulglocke. Nun war es an der Zeit, wieder ihren Schülern gegenüberzutreten.
Die Schüler freuten sich, ihre geliebte Lehrerin wieder zu sehen, doch sie waren sehr still und befangen weil sie nicht wussten, wie sie darauf reagieren sollten.
Als zum Mittag die Glocke erklang war sie sichtlich froh darüber, dass sie den ersten Tag überstanden hatte.
Sie ging noch kurz zum Direktor und teilte ihm mit, dass sie ganz gerne kürzer treten wolle. Er gab ihr sein Okay.
Vor Freude, so einen Chef zu haben, fiel sie ihm um den Hals und bedankte sich. Danach machte sie sich auf den Heimweg.
Beim Abendessen und einem Glas Wein berichtete sie ihrer Schwester von ihrem ersten Arbeitstag.
Lina freute sich sehr, dass Zoe diesen ersten Schritt geschafft hatte. Endlich schien sie wieder an etwas Freude zu haben.
Am nächsten Tag stand Zoe gut gelaunt auf und machte sich nach dem Frühstück auf den Weg zur Schule.
Beim Gehen genoss sie die winterliche Natur, in Gedanken schon ganz bei ihren Schülern und Kollegen.
Im Lehrerzimmer unterhielt sie sich wie früher mit ihren Kollegen über Schularbeiten, Tests und natürlich über die Schüler.
Die Grundschule in Luxemburg ist in verschiedene Gruppen aufgebaut. Zoe hatte die erste Gruppe zu betreuen, das sind die jüngsten Kinder, vom fünften bis zum siebten Lebensjahr.
In dem letzten Jahr hatte sie auch ihren Sohn Nick unterrichtet.
Am Montag war sie mit so vielen Sachen beschäftigt gewesen, dass ihr gar nicht aufgefallen war, dass ihr Sohn nicht in der Klasse war.
Doch heute, vorm Unterricht, die Schüler waren noch nicht da und sie saß alleine in der Klasse und bereitete ihre Unterlagen vor, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen:
Ihr Sohn fehlte.
Früher war er mit ihr in die Schule gekommen, hatte sich auf seinen Platz gesetzt, gemalt oder Fleißaufgaben gemacht.
Dies alles ging ihr nun durch den Kopf, vor ihrem inneren Auge lief ab, was sie alles mit ihren kleinen Sohnemann hier in der Schule erlebt hatte.
Sie sah ihn weinend, fröhlich und inmitten seiner Freunde.
Zoe überkam Panik. Wo ist er? Hab ich ihn zuhause vergessen? Doch dann kam es ihr zu Bewusstsein und sie fühlte wieder diesen grausamen Schmerz. Er wurde ihr genommen. Er war weg, und das für immer.
Sie wollte davon laufen, doch dann klingelte die Glocke und die Schüler stürmten lustig und fröhlich in die Klasse.
Sie atmete tief durch, sagte sich, dass sie jetzt stark sein müsste.
Die Schüler begrüßten sie und jeder setzte sich brav auf seinen Platz. Sie wartete, bis alle da waren und es still war.
Dann begrüßte sie die Kinder und fing mit dem Unterricht an.
Die paar Stunden bis zum Schlussklang der Glocke schienen heute ewig zu dauern, doch als sie es geschafft hatte, die Kinder zu verabschieden, ging sie schnell nach Hause, denn sie wollte endlich für sich alleine sein.
Ihre Schwester war gerade dabei, das Essen zuzubereiten als Zoe hereinstürmte, alles auf den Boden warf, hinauf ins Schlafzimmer rannte und die Tür zuknallte.
Lina fragte sich, was denn passiert sein könnte, lief hinterher und klopfte an die Tür.
„Süße, was ist denn los? Darf ich reinkommen?“ Es kam keine Antwort. Aber Lina machte sich solche Sorgen, dass sie einfach die Tür still und leise öffnete.
Zoe lag zusammengerollt auf dem Bett, hatte die zerknüllten Polster über den Kopf gelegt und weinte.
Lina ging zu ihr, setzte sich auf das Bett, streichelte sie am Rücken und sprach zu ihr. Doch es dauerte lange, bis sich Zoe beruhigen konnte, und nach langer Zeit, drehte sie sich um und setzte sich auf.
„Zoe, was ist denn passiert? Warum bist du denn so aufgelöst?“ Sie sah Lina an und begann zu erzählen.
„Heute in der Schule kam mir wieder alles zu Bewusstsein. Gleich am Morgen saß ich alleine im Klassenzimmer und wollte meine Unterlagen sortieren, als mir auffiel, dass Nick nicht da war. Ich bekam Panik, dass ich ihn zu Hause vergessen hätte, bis mir wieder einfiel, dass er ja weg ist, mein Sohn ist für immer weg und kommt nie wieder zu mir zurück.“
Lina nahm Zoe in die Arme, auch sie musste heftig weinen, weil auch sie die Trauer wieder übermannte.
Erst jetzt kam ihr der Gedanke, wie schwer es für ihre Schwester sein musste, wieder an dieser Schule zu unterrichten.
Festzustellen, man hat einen Schüler weniger und genau dieser eine ist der eigene Sohn. Unfassbar.
„Ich werde noch ein bisschen kürzer treten müssen und darum werde ich jetzt den Direktor anrufen und ihm Bescheid geben.
Lina nickte und ging mit ihrer Schwester nach unten ins Esszimmer, wo sich das Telefon befand.
Zoe sprach lange mit ihrem Chef, er zeigte sich einfühlsam und gab ihr noch etwas Zeit.
Sie bedankte sich für alles und wünschte ihm einen schönen Tag.
Zoe probierte diese Woche nochmal zu unterrichten, doch sie fand nicht mehr hinein, es machte ihr in dieser Schule keinen Spaß mehr und so kam sie beim Frühstücken plötzlich zu einem überraschenden Entschluss.
Da Direktor de Mol mit Auslandsschulen zusammen arbeitete und Lehrer auf der ganzen Welt vermittelte, entschied sie sich dafür, sich anzumelden, um mal für eine gewisse Zeit auszuwandern. Denn vielleicht fiel es ihr einfacher in einem neuen Land wieder glücklich zu werden.
Irgendwie hatte Zoe Angst vor der Meinung ihrer Familie, was sie wohl von ihrem Plan halten würden, aber daran durfte sie jetzt nicht denken, sondern musste nach vorne blicken.
Als sie gerade in ihren Gedanken vertieft war trat Lina noch etwas verschlafen in die Küche.
„Guten Morgen, na, so früh wach heute?“
„Ähm, ja, es gibt was, das mich seit Tagen beschäftigt und das muss ich dir jetzt mitteilen. Ich finde es besser, es jetzt zu tun, ehe es unsere Eltern später erfahren“, sagte sie und Lina wurde ungeduldig.
„Zoe, jetzt sprich doch mal Klartext und halte mich nicht immer hin“, wurde sie etwas schroff.
„O.k., o.k. Ich will dir das in Ruhe sagen und nichts Wichtiges dabei vergessen. Also, der Direktor an meiner Schule setzt sich für neue Schulen in anderen Ländern ein und hilft dabei, gute und qualifizierte Lehrer dorthin zu vermitteln. Deshalb bin ich zu dem Entschluss gekommen, für eine gewisse Zeit die Schule und das Land zu wechseln“, informierte sie Lina und fuhr fort.
„Ich habe gemerkt, dass ich mich an dieser Schule nicht mehr wohl fühle, ich werde an jeder Ecke an Nick erinnert, darum will ich mit Direktor de Mol sprechen, dass er für mich eine Schule im Ausland sucht“, schloss sie und merkte, dass Lina sie fragend ansah.
„Das heißt, ich möchte mein Leben in einem fremden Land neu beginnen und probieren, wieder glücklich zu werden!“ Lina starrte sie an, verschluckte sich am Kaffee und fing so sehr zu lachen an, dass sie fast keine Luft mehr bekam.
„Das ist aber mal ein guter Scherz! Du gehst doch niemals von hier weg.“
Zoe war erstaunt, weil sie von ihrer kleinen Schwester nicht ernst genommen wurde. Das geschah normalerweise nicht zwischen den zweien. Als Lina sich wieder gefangen hatte und sah, dass Zoe ernst blieb, fing sie an zu überlegen und zu grübeln.
„Kleine, sag mir bitte, dass das ein Scherz von dir ist.“ Zoe bemerkte, dass Lina die Angst ins Gesicht geschrieben stand.
„Doch, das ist die Wahrheit, ich will versuchen, wegzugehen und woanders neu zu beginnen. Derzeit kann ich hier nicht glücklich werden, die Erinnerungen sind zu stark. Kannst du mich denn nicht verstehen?“
Lina stand so rasch auf, dass der Sessel mit lautem Knall umfiel. Beide erschraken und Zoe war traurig über diese Reaktion.
Sie ging zum Fenster, man merkte, dass sie innerlich aufgewühlt war und nicht wusste, wie sie reagieren sollte.
Zoe wollte den Tisch abräumen, doch Lina kam auf sie zu und packte sie bei den Armen.
„Tut mir leid, dass ich eben so überreagiert habe. Ich finde es gut, wenn du an deinem Leben etwas ändern möchtest. Wenn ich dich unterstützen kann, sage es mir. Ich stehe immer hinter dir. Okay?“
Nun hatte Zoe Tränen in den Augen und fiel Lina um den Hals.
„Oh, vielen Dank. Es freut mich, dass du hinter mir stehst und mich dabei unterstützt, dass bedeutet mir sehr viel. Ich weiß noch nicht mal, wann es losgeht und wohin es geht, aber ich will es wagen.“ Lina umarmte sie und weinte sich an ihrer Schulter aus.
„Okay, dann werden wir abwarten und sehen, wo es dich hin verschlägt. Ich will, dass du wieder glücklich wirst und wenn du es hier nicht schaffen kannst, wird es wohl gut sein, weg zu gehen. Aber eines sag ich dir, wenn ich es hier ohne dich nicht aushalte, dann komme ich nach und häng dir an der Backe“, kniff sie Zoe in die Wange.
„Oh, hoffentlich hältst du es ohne mich nicht aus und kommst mich in der neuen Heimat besuchen.“ Beide waren erleichtert und glücklich, ihre Motive geklärt zu haben.
Nun konnten sie das Frühstück in Ruhe genießen. Sie mutmaßten, wo es wohl hingehen könnte und was alles auf sie zukommen würde. Lina sprach sogar davon, Zoe eventuell zu folgen und auch auszuwandern. Vielleicht würde sie ja sogar dort die Liebe fürs Leben finden.
Als sie diesen Satz ausgesprochen hatte, wurde sie knallrot im Gesicht und fragte Zoe, ob sie laut gesprochen hatte. Doch Zoe brauchte ihr nicht zu antworten, ihr Lächeln sprach Bände.
„Och, mein Schwesterchen ist auf Männersuche, vielleicht schlagen wir mit meinem Entschluss zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich werde wieder ein glückliches Leben führen können und dir begegnet die große Liebe.“ Die zwei kicherten wie Teenager. Das restliche Frühstück verlief mit allerlei Träumereien und Zoe beschloss, ihre Eltern zum Abendessen einzuladen.
Als der Abend anbrach bekam Zoe ein mulmiges Gefühl, doch zum Glück hatte sie Lina hinter sich stehen, die sie bei allem unterstützen wird. Nun war es auch schon soweit und ihre Eltern fuhren in die Einfahrt. Es dauerte nicht lange, schon saßen alle an dem großen Tisch im Esszimmer und aßen das italienische Lieblingsgericht ihrer Töchter, Spaghetti. Nach einem gemütlichen Essen gingen sie gemeinsam ins Wohnzimmer, Zoe setzte sich auf den Teppichboden. Sie hielt den Augenblick für gekommen und machte mithilfe Ihres klirrenden Sektglases auf sich aufmerksam.
„Ja, heute ist ein besonderer Abend. Ich habe meine Liebsten um mich und möchte mich bei euch allen bedanken, dass ihr in der letzten schwierigen Zeit an meiner Seite wart und mich unterstützt habt.
Doch mein Leben muss weitergehen, ich habe mich bemüht, in die Schule zurückzukehren und zu unterrichten, doch das ging leider daneben.
Seit längerer Zeit mache ich mir nun Gedanken darüber, wie ich am besten weiter machen soll, und da bin ich zu einem Entschluss gekommen.“ Alle sahen erwartungsvoll zu Zoe, die nun weiter sprach.
„Direktor de Mol arbeitet mit Schulen in anderen Ländern zusammen und vermittelt qualifizierte Lehrer, ich werde mich dafür anmelden, denn ich möchte versuchen, in einem anderen Land ganz von vorne zu beginnen. Ich hoffe auf eure Unterstützung und darauf, dass ihr mich und meine Entscheidung respektiert.“
Nun war jeder sprachlos, doch Lina stand auf und setzte sich zu Zoe auf den Boden und legte den Arm um sie.
„Ja, Zoe und ich hatten das Gespräch heute Vormittag schon, ihr könnt mir glauben, ich war auch sprachlos. Aber es ist eine gute Idee und ich glaube es wird ihr dabei helfen, ihre Trauer zu verarbeiten.“
Zoe brannten die Augen, sie befürchtete, gleich weinen zu müssen, doch sie blieb stark.
Ihr Vater Paul atmete tief durch und stand auf.
„Hm, so hab ich mir den Abend heute nicht vorgestellt mein Sonnenschein, dass dir momentan alles schwerfällt hier in deinem Zuhause oder in der Schule, das kann ich gut verstehen, aber die Zeit heilt Wunden, du musst doch nicht gleich auf und davon laufen. Wir haben unseren Enkel und Schwiegersohn verloren, ich habe Angst, nun auch meine Tochter zu verlieren.“ Zoe zögerte. War nun alles zerstört? Was sich vor Sekunden gut angefühlt hatte, war weg.
„Ach Paul, du verlierst doch unsere Tochter dadurch nicht, sie will probieren, woanders neu zu beginnen. Wir können sie doch jederzeit besuchen und sie kommt doch auch sicher öfter nach Hause. Zoe bleibt immer deine Tochter, egal wohin sie geht“, sagte Zoes Mutter.
„Dad, was Mum sagt, stimmt. Ihr verliert mich doch nicht, ich will nur mal weg von hier, das heißt ja nicht für immer, aber mal für ein Jahr oder so.
In einer anderen Schule unterrichten, neue Leute kennen lernen und ein neues Land erkunden. Ich weiß noch nicht mal, wo es mich hin verschlagen wird, weil ich mich mit dem Direktor erst auf die Suche begeben muss. Ich liebe euch, und nur weil ich woanders hingehen möchte, verliert ihr mich doch nicht.“ Zoe stand auf und ging zu ihrem Vater, der sie in die Arme nahm und ihr einen Kuss auf die Wange gab.
Alle drückten sie fest, gaben ihr starken Halt und erklärten ihr, dass sie auf ihr Herz hören müsse.
Wenn sie fühle, dass es die richtige Entscheidung sei, solle sie nicht zögern, zu tun, was sie vorhabe.