Читать книгу Wenn Licht die Nacht durchdringt - Sandra Andrea Huber - Страница 5
ZWEI
ОглавлениеEs war dunkel. Überall um Gwen herum. Es gab keine Lichtquelle, keine Bewegung oder Regung, keine einzige andere Person. Endlos lange und ausufernde Schwärze um, über und unter ihr. Nur sie, das Wissen um sich selbst als existierendes Wesen und ihre Gedanken waren vorhanden.
Doch irgendwann – vielleicht nach einer Ewigkeit, nach einem Leben oder zweien? – gab es plötzlich mehr als Dunkelheit, Schwärze, Gedanken und dem Gefühl für ihre Existenz. Sie konnte die Grenzen einer Form - eines Körpers? - spüren.
Ja, sie besaß einen Körper. Es war noch immer dunkel, aber sie wusste nun ganz sicher, dass sie einen Körper besaß, dass sie mehr war, als nur Gedanken und fliegende Existenz. Das Mehr, dieser Körper, fühlte sich schwer und müde an, von den Zehenspitzen bis zum Haaransatz. Wobei sie jedoch nicht mit absoluter Gewissheit sagen konnte, wo diese beiden Punkte lagen oder wie weit sie voneinander entfernt waren. Aber sie spürte deutlich einen Anfang und ein Ende. Ein Brennen zog sich über einige Partien, welches sie an heißes, loderndes Feuer denken ließ. Gleich darauf schoss ihr das Bild eines blitzenden und scharfen Messers durch den Sinn und ließ Geschmack und Geruch von Kupfer in ihren Mund aufgehen.
Allmählich konnte sie auch Geräusche wahrnehmen. Ein gedämpftes Surren und ein regelmäßig piepsendes Geräusch. Nach einigem Surren und Piepsen erkannte sie, dass das rhythmische Geräusch gleichzeitig mit ihrem Pulsschlag kam, ihren Herzschlag laut imitierte.
Langsam kroch ihr ein spitzer Duft in die Nase. Ähnlich wie ein steriles Putzmittel, begleitet von einigen weiteren Nuancen, die merkwürdig aber zeitgleich sehr vertraut rochen. Sie kannte diesen Geruch und wenn sie ihn kannte, dann musste sie irgendwo sein, wo sie schon einmal gewesen war. Das wiederum hieß, dass sie sich in Sicherheit befand. Aber … wovor? Warum dachte sie an Sicherheit? An Sicherheit dachte man nur dann, wenn es etwas gab, vor dem man sich fürchtete, etwas, das Gefahr bedeutete.
Fühlen, Hören, Riechen, Schmecken … fehlte nur noch das Sehen. Sie flackerte mit dem Lidern und versuchte sie nach oben zu schieben.
Mit einem Mal kam die Welt – oder sie – zurück und ließ das Dunkel vergehen. Ehe sie die Augen wieder zugekniffen hatte, um das Licht langsam aufzunehmen, legte sich ein Schatten über ihr Gesicht. Sie sah nach oben und erkannte das Gesicht eines älteren Mannes, das über einem weißen Kittel hervorragte. Sie wollte sich bemerkbar machen, etwas sagen, sich bewegen, doch ehe sie etwas davon tun konnte, umfasste der Mann sanft ihre Schulter und hielt sie fest.
„Ganz ruhig, es ist alles in Ordnung. Sie sind in einem Krankenhaus. Sie waren verletzt, aber wir haben ihre Wunden versorgt. Möglicherweise sind sie noch leicht benommen, das hat auch mit den Medikamenten zu tun, aber das geht vorbei. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Er hielt kurz inne und lächelte sie warm an, während er mit einer kleinen Lampe in ihre Augen leuchtete und ihren Pupillenreflex testete. „Wissen Sie, wie Sie heißen? Sie trugen keine Papiere bei sich und der junge Mann, der Sie gefunden hat, konnte uns leider nicht sagen, wer Sie sind. Er glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben, aber wie Sie heißen, wo Sie wohnen oder arbeiten, wusste er nicht.“
Während er den jungen Mann erwähnt hatte, war sein Blick kurz über seine Schulter in die hintere Ecke des Zimmers geflogen. Gwen ließ ihre Augen ebenfalls dorthin wandern und fühlte sogleich wie sich eine eisige Starre in ihrem Körper ausbreitete. Dort auf dem Stuhl saß Nikolaj. Die Arme vor der Brust verschränkt erwiderte er ihren Blick mit ausdrucksloser Miene und ohne jede Regung.
Ihr Puls samt dem piepsenden Geräusch begann zu rasen, sodass der Arzt einen prüfenden Blick auf den Monitor warf. „Ist alles in Ordnung? Kennen Sie diesen Mann?“ Er warf abermals einen Blick Richtung Nikolaj, der den Blick des Arztes ebenso starr wie zuvor bei ihr erwiderte.
„Vielleicht sehe ich aus wie jemand, den Sie kennt“, erwiderte er Achselzuckend und monoton.
Wie jemand, den sie kennt. Was sollte das heißen? Was machte er hier? Hatte er sie hierhergebracht? Hatte sie es sich doch nicht nur eingebildet? Das blauschwarze Augenpaar über ihr?
Wie jemand, den sie kennt. Was hatte das zu bedeuten?
„Können Sie sich daran erinnern, was passiert ist?“, fragte der Arzt nun wieder an sie gewandt. „Wissen Sie, wie Sie heißen? Dann könnten wir Ihre Familie anrufen, Freunde, Ihren Freund oder Ehemann.“
In Gwens Kopf lief alles drunter und drüber. Ob sie wusste, wie sie hieß? Ja. Ob sie wusste, warum sie hier war? Auch das wusste sie. Nicht in allen Einzelheiten, doch so präsent, dass es sie zu schütteln begann und ihren Herzschlag schneller trieb. Sie hatte nicht all das getan, was sie getan hatte, um nun am Ende doch noch ihre Mutter oder sonst jemanden der sie kannte in die Sache hineinzuziehen. Und „die Sache“ war noch nicht ausgestanden, das wusste sie mit Gewissheit. Sie war sich so sicher, dass ihr übel wurde. „Nein, ich … kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich weiß nicht, wer … wie ich heiße.“
Der Arzt runzelte die Stirn. „Und diesen Mann kennen Sie wirklich nicht? Warum sind Sie so erschrocken, als Sie ihn gesehen haben? Kommt Ihnen irgendetwas an ihm bekannt vor?“ Seine Stimme klang nun ernst und enthielt die Spur von Wachsamkeit, die Väter oder Autoritätspersonen an den Tag legten, wenn sie eine Lüge oder Ausflucht vermuteten.
„Nein, ich, kenne ihn wirklich nicht.“ Es war nicht mal eine richtige Lüge, wie sie sich eingestehen musste. Sie wusste nicht, wer er war. Nicht mehr. „Ich kann Ihnen nicht sagen, warum ich erschrocken bin. Vielleicht, weil ich bis dahin nicht gemerkt hatte, dass noch jemand außer Ihnen hier im Raum ist.“
„Er hat Sie gefunden, nachts, auf einem Spielplatz. Sie hatten nur ein dünnes, kurzes“, er hielt kurz inne und verzog die Lippen, „Kleid an und waren mit Schnittwunden übersäht. Die Wunde an Ihrer Wange ist am tiefsten und wie es scheint, haben Sie auch eine Kopfverletzung. Obendrein waren Sie ziemlich unterkühlt als er hier mit Ihnen aufgetaucht ist.“ Der Arzt musterte sie, ihre Reaktion und ihre Augen.
Gwen bemühte sich keinerlei Ausdruck in ihre Miene und Stimme zu legen. „Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, was passiert ist. Aber, wenn ich allein und verletzt war, dann ist es ein großes Glück, dass mich jemand gefunden hat. Dass … dieser Mann mich gefunden hat.“ Sie biss sich leicht auf die Zunge. „Damit hat er mir wohl das Leben gerettet.“ Das war womöglich die Wahrheit. Dennoch empfand sie nicht nur Dankbarkeit, sondern auch ein dumpfes Gefühl, das sie nicht einordnen konnte. Sie vermochte überhaupt nicht recht zu greifen, was sie empfand. Weder den vergangenen Ereignissen, der aktuellen Situation noch Nikolaj gegenüber. Ganz besonders nicht Nikolaj gegenüber. Es war das erste Mal, dass sie ihn wiedersah, nachdem er ihr eröffnet hatte, dass er ihren Vater umgebracht hatte. Wenn man die kurzweilige und stumme Begegnung im Marofláge nicht mitzählte – und das tat sie nicht.
„Soll ich Ihnen vielleicht etwas zur Beruhigung geben? Sie scheinen immer noch sehr aufgewühlt“, sagte der Arzt und deutete auf den Monitor.
„Nein, ich brauche kein Sedativum.“ Sie biss sich abermals auf die Zunge. Mit Fachbegriffen zu jonglieren sorgte nicht unbedingt dafür, ihre Aussage, sich an nichts erinnern zu können, zu kräftigen. „Ich meine … ich sollte vermutlich einfach ein bisschen schlafen. Alleine, wenn das möglich ist.“
„Natürlich ist das möglich“, erwiderte der Arzt nach ein paar Sekunden. „Ich habe dem jungen Mann nur erlaubt hier zu bleiben, weil niemand von Ihren Angehörigen hier war und er wissen wollte, ob Sie in Ordnung sind. Er meinte, da er Sie gefunden hat, würde er bleiben wollen, bis Sie aufwachen. Immerhin sei er nun in die Sache mitverwickelt.“
In die Sache mitverwickelt.
Gwen spürte, dass ihr Tränen in die Augen trieben und versuchte sie wegzublinzeln. „Das kann ich … verstehen. Vielen Dank“, presste sie an Nikolaj gewandt hervor, ehe sie wieder den Arzt ansah. „Aber jetzt wäre ich wirklich gerne alleine. Ich bin müde und ziemlich wirr im Kopf.“
Der Arzt ging auf die Zimmertür zu und nickte Nikolaj auffordernd zu. „Kommen Sie, lassen wir der jungen Dame ihre verdiente Ruhe.“
Nikolaj stand nicht gleich auf. Er zögerte, das konnte sie erkennen. Nicht an seinem Gesicht, das immer noch ausdruckslos war, doch an seiner Körpersprache.
„Würden Sie …?“, setzte der Arzt abermals an und ließ das Satzende bedeutungsschwer in der Luft hängen.
Langsam, immer noch zögernd, erhob sich Nikolaj vom Stuhl und folgte dem Mann langsam nach draußen. Nicht ohne ihr nochmals einen Blick zuzuwerfen, der immer noch nicht mehr enthielt als leeres und stummes Nichts.
* * *
Nikolaj verfolgte mit rasendem Herzschlag, wie Gwen langsam zu sich kam. Er verhakte die Füße ineinander und verschränkte die Arme vor der Brust, so fest, dass es fast wehtat, nur um nicht hochzuschrecken und an ihr Bett zu treten. So viel Gefühlsregung konnte er sich nicht erlauben. Zum einen, weil er Gwen offiziell nicht kannte, sie nur gefunden hatte und zum anderen, weil er es nicht ertragen konnte, zur Gänze zu empfinden, was er empfand.
So beobachtete er aus einigen Metern Entfernung, wie sie die Augen aufschlug, der Arzt ruhig auf sie einredete, ihn erwähnte und er schließlich in Gwens erschrockenen Blick geriet. Er erwiderte ihn, doch legte er keinerlei Ausdruck in sein Gesicht.
Während der Arzt abermals auf sie einredete, presste er seine Arme noch dichter an seine Brust und musste unwillkürlich an das Bild denken, das sich ihm geboten hatte, als er sie gefunden hatte.
Keuchend kam er auf Händen und Knien auf. Der Stoff seiner Hose zog kühle Nässe auf, seine Handflächen pochten gegen die weiße Kälte an, die sich auf dem Grund ausgebreitet hatte und seine Haut berührte. Es stach, doch war die Kälte gleichsam beruhigender Balsam für seine aufgeschürften und bebenden Hände. Er gab sich noch ein paar Sekunden, dann erhob er sich und sah sich schwer atmend um.
Er entdeckte sie sofort. Entdeckte die zierliche, in spärlichen und dünnen Stoff gekleidete Gestalt, die dort im weißen Schnee lag, wie ein roter Schneeengel oder ein blutender Geist. Hellrot das Kleid, weiß ihre Haut, feurig rot das Blut, das über ihre – aus ihrer – Haut sickerte. In seinem Kopf überschlugen sich laute, schrille, leise und flüsternde Stimmen, die ihn auslachten, zum Teufel wünschten, lobten, ermunterten, anstachelten.
Er lief auf Gwen zu, blieb dicht vor ihr stehen, war sich bewusst, dass sie sofort zu einem Arzt musste, wusste aber dennoch nicht, ob er sie anfassen konnte, sie bewegen sollte. Der Gedanke, sie sei tot oder würde es womöglich bald sein, bohrte sich wie eine brennend heiße Klinge in seine Brust und zerfetzte sein Herz. Doch weit schlimmer, gnadenloser und schmerzender loderte ein weiterer Gedanke in ihm: Es war seine Schuld. Dies hier war seine Schuld. Alles war seine Schuld.
Er zog sich den Mantel vom Leib, ließ sich auf die Knie sinken und legte ihn über Gwen. Dann führte er drängend und so vorsichtig wie möglich seine Hände unter ihren Rücken und ihre Kniekehlen und hob sie hoch. Fieberhaft versuchte er gegen das Stimmengewirr und das Inferno in seiner Brust anzudenken, sich dagegenzustemmen.
Wo sollte er sie hinbringen? Wo war sie sicher?
Angestrengt dachte er darüber nach, wo sich das nächstgelegene Krankenhaus befand, verwarf den Gedanken aber recht schnell, da auch Merkas es im Zuge seiner Schnüffeleien kennen könnte. Er brauchte dringend ein Krankenhaus. Aber wo? Welches?
Er kannte eine Stadt, eine Stelle, von der nicht weit entfernt ein Krankenhaus lag. Er würde die Strecke so schnell ihm möglich zu Fuß zurücklegen und sie dorthin bringen. Er war sich ziemlich sicher, dass Merkas von seinem einstigen Aufenthalt in dieser Stadt nichts gewusst hatte und auch heute nichts wusste. Ja, dort konnte er sie hinbringen.
Er sammelte und konzentrierte sich, öffnete ein Portal und trat durch die flirrende Luft.
Nikolaj drängte die Erinnerungen von sich und schüttelte sich leicht, ging jedoch schnell wieder zu einer ausdrucks- und regungslosen Erscheinung über.
Als der Arzt einen Moment später neben ihm stand und ihn aufforderte, zusammen mit ihm das Zimmer zu verlassen, musste er sich zusammenreißen, ehe er aufstehen und ihm nachfolgen konnte.