Читать книгу Wenn Licht die Nacht durchdringt - Sandra Andrea Huber - Страница 6
DREI
ОглавлениеMerkas stand am Fenster, den Rücken zum Zimmer gewandt, als es klopfte. Sonor gab er ein „Herein“ von sich, drehte sich aber nicht um.
Die Tür wurde aufgedrückt, Schritte glitten über den Boden.
„Boss?“
„Du bist hier, um mir zu sagen, dass ihr sie gefunden habt?“
Es dauerte einen kurzen Moment. „Nein …“, kam es schließlich gedämpft als Antwort zurück.
„Wen habt ihr nicht gefunden? Sie? Oder ihn?“
Abermals ließ die Antwort auf sich warten.
„Beide.“
Stille wogte durch den Raum. Unbehagliche, bedrohliche Stille. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, drehte sich langsam um und ließ sich in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch sinken.
Der Mann vor ihm spannte sich an. Er beachtete ihn nicht weiter, ließ seine Hand über den Tisch gleiten, griff nach dem silbern glänzenden Brieföffner und spielte damit.
„Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir sie gefunden haben“, setzte sein Gegenüber erneut an.
Er sagte nichts.
„Sicher halten sich beide am gleichen Ort auf. Nikolaj wird nicht so einfach von seinem Spielzeug ablassen. Das macht es einfacher, sie zu finden.“ Die Stimme des Mannes wurde zunehmend nervöser.
Immer noch keine Erwiderung von sich gebend, erhob er sich und schritt gemächlich, fast schlendernd um den Schreibtisch auf denjenigen zu, der das Mädchen an Céstine ausgehändigt hatte. Den silbernen Brieföffner hatte er nicht aus der Hand gelegt. Er balancierte ihn auf einem Finger, während er ging.
„Soll ich mich wieder an die Arbeit machen?“ Die Frage enthielt einen unterschwellig flehentlichen Unterton.
Dicht vor seinem Gegenüber blieb Merkas stehen. Musternd. Stumm. Bedrohlich. Ein paar Sekunden, dann schnellte er hervor, packte das Handgelenk des Mannes, zog die Hand auf die Tischplatte und stieß den Brieföffner mitten durch das Fleisch.
Der Mann gab einen Schmerzenslaut von sich, als seine Hand an das Holz gespießt zurückblieb und Blut über seinen Handrücken quoll.
„Ich – will – sie – haben. Alle beide. Nicht irgendwann, sondern JETZT. Je länger du brauchst, um sie zu finden, desto mehr deiner Körperteile werde ich durchlöchern. Mal sehen, wie lange es dauert, bis du aussiehst, wie Schweizer Käse. Noch irgendwelche Fragen?“
„Nein“, keuchte der Mann, während er sich bemühte, seine Hand nicht zu bewegen. „Ich bringe sie hierher. Wir finden sie.“
„Wen?“
„Beide.“
Merkas nickte zufrieden, drückte das spitze Silber abermals tiefer, ehe er es mit einem Ruck herauszog. „Fein. Und jetzt mach, dass du verschwindest.“
Sein Handgelenk umklammert stolperte der Mann rücklings aus dem Zimmer, wobei er eine feine Blutspur auf dem Boden hinterließ.
Er trat zurück hinter seinen Schreibtisch, zog ein Tuch aus einer Schublade und säuberte die blutige Klinge. Er tat es immer noch, als das Silber längst seinen roten Schimmer verloren hatte. Die Geste beruhigte ihn auf stimulierend Art und Weise. Für diesen kurzweiligen Moment zumindest.
* * *
Nachdem er eine Weile mit dem Silber in der Hand dagesessen und es schließlich seinen Bann verloren hatte, verließ er das Zimmer.
Auf den Fluren begegneten ihm nur vereinzelt Angestellte, Mädchen, Kunden, Mädchen zusammen mit Kunden. Er hielt sich nicht lange mit ihnen auf, lief schnellen Schrittes an ihnen vorüber, ohne ihnen seine Aufmerksamkeit zu schenken.
Er nahm die Marmortreppe in den ersten Stock und erreichte schließlich sein angesteuertes Ziel. Kurz verweilte er vor der Tür, dann drückte er die Klinke und trat in das Zimmer.
Niemand, zumindest niemand, dessen Herz schlug, befand sich im Inneren. Nur er und das blonde Biest.
Er trat näher an das Sofa heran, auf das einer seiner Männer Céstines leblosen Körper gelegt hatte. Das Blut drängte nicht mehr aus den Wunden hervor, war eingedickt und hatte sich klumpig festgesetzt. Die Haut war weiß, leicht gräulich gefärbt. Auch wenn das Blut immer noch einen leichten Hauch von Kupfergeruch verströmte, konnte es den zwischenzeitlich ausströmenden Verwesungsgeruch nicht überdecken.
Er stand, den Kopf leicht seitlich geneigt da und betrachtete sie. In seiner Brust zuckte es. So, als ob ein Nerv unwillkürlich und eigenständig beben würde, wie es manchmal der Fall war, wenn man unter Stress stand oder übermüdet war.
Er stützte sich mit einer Hand auf der Außenlehne, und einer auf der Rücklehne ab und beugte sich über Céstines Oberkörper. Sein Blick glitt über ihr regloses Gesicht, ihre Lippen, deren sattes Rot einem graubläulichen Ton gewichen war, inmitten der fahlen Haut jedoch immer noch hervorstach. Mit den Fingern fuhr er die große Schnittwunde, die sich in ihrem üppigen Dekolleté verlief, nach. Ihre Haut war kalt. Kalt und hart. Nichts mehr übrig von der weichen Geschmeidigkeit, der lebendigen, warmen Frucht und Verlockung von einst.
„Das hast du nun davon, weil du nicht weißt, wann es besser ist, sich rauszuhalten, du Miststück“, flüsterte er abschätzig und leicht heiser über ihr. „Das menschliche Spielzeug deines Angebeteten hat dir den Garaus gemacht.“ Er beugte sich noch dichter an sie heran, seine Augen flogen über ihr Gesicht, ihre Lippen, ließen Erinnerungen aufkommen …
Ruckartig richtete er sich auf und besah sich seine Finger, die wie von allein über Céstines Wange gestrichen hatten, mit einem Blick, als wären sie etwas Widerliches. „Schwach, das ist alles, was mir dazu einfällt“, presste er zwischen den Zähnen hervor, ehe er sich aufrichtete und großen Schrittes aus dem Zimmer eilte.
„Hey, du!“, rief er dem Erstbesten zu, den er zu Gesicht bekam. „Sie fängt an zu stinken. Sorg dafür, dass sie verräumt wird. Hier soll man schließlich noch einen Steifen bekommen ohne den Gestank von Tod inhalieren zu müssen.“