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Sandra Bollenbacher

DiE PUZZLEBANDE

(TEiL 1)

Langsam lösten sich die schwarzen Wolken auf, die sich in der Nacht über den Mond geschoben und ihre schwere Last in einem kräftigen Regenschauer abgeworfen hatten, und bald würden von den grauen Schleiern, die jetzt über den dunklen Himmel wehten, nur noch ein paar weiße Wolkenfetzen zu sehen sein. Einige große Kolkraben pickten im feuchten Gras nach den dicken Regenwürmern und Insekten, die aus ihren unterirdischen Labyrinthen, Höhlen und Löchern gekrochen waren, und auf einem Dach zwitscherte sogar schon eine Amsel, die sich ebenfalls über das ungewöhnlich milde Dezemberwetter an diesem frühen Morgen zu freuen schien.

Katrin kam eine noch menschenleere Straße des verschlafenen Vorstädtchens hinunter gejoggt. Ihre Turnschuhe quietschten leise auf dem nassen Asphalt und sie wäre beinahe auf einer Plastikverpackung, die jemand achtlos fortgeschmissen hatte, ausgerutscht. Auf den letzten Metern übermannte sie jedes Mal die Müdigkeit und ihre Achtsamkeit ließ nach. So auch an diesem Morgen, denn fast wäre sie dem Nachbarn Schulze in die Arme gelaufen, der seinen Hund Benno Gassi führte, wäre der alte Rüde nicht laut bellend einem verstörten Raben hinterher um die Ecke einer hohen Hecke gefetzt. Erschrocken sprang Katrin über das niedrige Mäuerchen eines vorbildlich gepflegten Vorgartens und kauerte mit bis zum Hals klopfendem Herzen auf allen Vieren hinter einem Busch, bis Herr Schulze und Benno außer Sicht- und Hörweite waren. Ein kurzer Blick auf die Armbanduhr verriet ihr, dass sie viel zu spät dran war. In zehn Minuten würde der Wecker ihrer Eltern klingeln und spätestens um sieben Uhr würde ihre Mutter an ihre Tür klopfen, um auch Katrin zu wecken.

Die letzten zweihundert Meter legte sie im Eiltempo zurück und hechtete über das alte Gartentürchen, das sich bei feuchtem Wetter so stark verzog, dass es nur mit viel Kraft und unter ohrenbetäubendem Quietschen zu öffnen war. Auf Zehenspitzen folgte sie dem kurzen Weg zum Haus und hüpfte dann von einem großen Sandstein zum nächsten über das leere Beet, das unter ihrem Fenster lag, um keine verräterischen Fußabdrücke in der nassen Erde zu hinterlassen. Vorsichtig stieß sie das Fenster auf und zog sich hoch. Beinahe wäre sie wieder nach unten gestürzt, als ihre linke Hand auf dem glitschigen Fenstersims ausrutschte und sie sich an der rauen Hauswand den Daumen aufkratzte, doch sie biss die Zähne zusammen und hievte sich mit einem leisen Stöhnen ins dunkle Zimmer. Eine Minute gönnte sie sich, in der sie bewegungslos bäuchlings auf dem weichen Teppich lag und lauschte. Durch das geöffnete Fenster drang hier und da das Startgeräusch eines Automotors, der Wind raschelte sanft in den Zweigen der großen Tanne, die im Garten der Nachbarn stand, doch im Haus selbst war es beruhigend still.

Am liebsten wäre Katrin direkt hier auf dem Boden in ihren verschwitzten und dreckigen Klamotten eingeschlafen. Gähnend stand sie auf, kickte die nassen Turnschuhe in eine Ecke, schälte sich aus den schwarzen Leggings und dem schwarzen Sweatshirt, den Socken und dem BH, verstaute alles in einer Plastiktüte, die sie unter dem Bett versteckte, zog sich das T-Shirt über den Kopf, das einmal ihrem Vater gehört hatte und die Tourdaten seiner Lieblings-Heavy-Metal-Band in mittlerweile kaum mehr leserlichen, verblassten Buchstaben verkündete, und krabbelte ins Bett. Am Anfang war sie nach diesen nächtlichen Ausflügen immer mit wild umherrasenden Gedanken dagelegen, doch mittlerweile fiel sie direkt ins Reich der Träume, sobald ihr Kopf das Kissen berührte.

Der Weckruf ihrer Mutter kam wie immer viel zu früh. Katrin blinzelte in das graue Morgenlicht und hätte sich die Decke über den Kopf gezogen, um noch ein paar Minuten weiter zu schlummern, wenn nicht dabei ein stechender Schmerz in ihren Daumen geschossen wäre, welcher sie endgültig aus dem Schlaf riss. Mit müden Augen, die durch dünne Schlitze zwischen dicken Lidern hindurch lugten, begutachtete sie die Wunde: Sie hatte sich zwar nur etwas Haut abgeschürft, doch die noch frische Kruste hatte sie sich soeben wieder aufgerissen. Gähnend krabbelte sie aus dem Bett und tapste ins Bad, wo sie zuerst ihren Daumen mit einem großen Pflaster verarztete und dann eine kurze Dusche nahm. Das Haarewaschen mit Pflaster am pochenden Daumen war besonders umständlich.

»Ach herrje, wie siehst du denn aus?«, begrüßte ihre Mutter sie eine halbe Stunde später in der Küche, wo sie gerade die Brote für Katrins kleinen Bruder schmierte. »Hast du nicht gut geschlafen? Du siehst aus, als hättest du die halbe Nacht geweint!«

Katrin verdrehte die Augen und winkte ab. »Alles in Ordnung. Bin nur noch etwas müde.«

Sie schmierte sich zwei Brötchen – eins für die Schule, eins aß sie direkt im Stehen. Sie hatte Angst, dass sie wieder einschlafen würde, würde sie sich an den Tisch setzen.

Katrins Mutter musterte sie noch einmal misstrauisch, ging jedoch nicht weiter auf das Thema ein. Stattdessen fragte sie: »Willst du lieber Hühnchen oder Fisch zum Mittagessen?«

»Mir egal«, gähnte Katrin und warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr am Küchenradio, das leise einen Hit aus den 90ern vor sich hin dudelte.

»Mist, ich muss los!« Plötzlich war sie hellwach. Schnell verstaute sie ihre Brotbox mit einer Flasche Wasser im Rucksack, klemmte sich das andere Brötchen zwischen die Zähne, schlüpfte in Mantel und Stiefel und rannte zur Tür hinaus. Die Bushaltestelle war nur wenige Meter entfernt und sie erwischte den Bus gerade noch so.

Katrins erste Stunde war Sozialkunde und fürchterlich langweilig. Die meisten Schüler hingen schlaff in ihren Stühlen und nur wenige machten sich lustlos ein paar Notizen. Katrin schielte zu Anita hinüber, die mit der Wange auf ihrem Arm auf dem Tisch lag und die Augen fest geschlossen hatte. Timo, der schräg vor Katrin saß, hatte das Kinn auf seine Faust gestützt, kritzelte unmotiviert auf seinem Block herum und gähnte immer wieder herzhaft. Plötzlich, als hätte er Katrins Blick auf seinem Rücken gespürt, drehte er sich um und grinste sie müde an. Katrin erwiderte das Grinsen und sah schnell wieder weg.

»Okay, ich hab’ nicht viel Zeit, muss noch die Erdkundehausaufgaben abschreiben«, erklärte Freddy hektisch, als sie sich in der ersten großen Pause im Pavillon hinter den brachliegenden Schulgärten trafen. Katrin rutschte um den runden Tisch ein wenig näher an Timo heran, um für Freddy auf der Bank Platz zu machen. Freddy verkündete den aktuellen Punktestand und lobte Jochen und Katrin für ihre tolle Zusammenarbeit.

»Wo ist Tina?«, unterbrach er sich plötzlich selbst.

»Weiß nicht, sie war die ersten zwei Stunden schon nicht da und antwortet nicht auf meine Textnachricht«, sagte Anita und warf Katrin einen ängstlichen Blick zu. »Ich hab’ sie gestern Nacht noch bis zur Brücke begleitet, danach mussten wir in verschiedene Richtungen.« Kurz schwiegen sie alle, und Katrin wusste, dass durch die Köpfe der anderen vier die gleichen Gedanken rasten wie durch ihren: Hoffentlich war Tina nichts passiert! Und hoffentlich hatte sie sie nicht verraten …

»Ich werde nach der Schule mal bei ihr vorbeischauen«, sagte Jochen schließlich und Katrin verkniff sich nur mit aller Mühe ein Schmunzeln. Dass Jochen Hals über Kopf in Tina verschossen war, wusste zwar nur sie, weil er es ihr letzte Nacht verraten hatte, doch da Katrin es bereits zuvor vermutet hatte, war sie sich sicher, dass die anderen – zumindest Anita und Freddy – ebenfalls nicht ahnungslos waren. Was Timo betraf, so hatte Katrin allerdings nicht den Hauch von einem Plan, was in dessen Kopf so alles vorging.

»Alles klar. Ich würde sagen, wir verteilen trotzdem jetzt die Rollen. Du kannst ihr ja dann den Umschlag vorbeibringen, Jochen«, sagte Freddy und angelte einen kleinen, abgegriffenen Holzwürfel aus der Jackentasche. Katrins Herz begann sofort aufgeregt schneller zu schlagen.

Anita durfte als Erste würfeln. Eine Drei. Jochen hatte eine Zwei und Timo ebenfalls. Katrin nahm den Würfel in die linke Hand, um mit der rechten unter dem Tisch kräftig den heilen Daumen zu drücken.

Gerade, gerade, gerade!

Eine Vier! Mit einem coolen Grinsen schlug sie mit Jochen und Timo ein, während sie in ihrem Kopf Party feierte. Endlich war sie wieder einmal mit Timo in einem Team!

»Gut, dann also ihr drei gegen Anita, Tina und mich.« Freddy nickte Anita in seiner gewohnt geschäftsmäßigen Art zu und holte dann sechs weiße Umschläge aus seinem Rucksack. Anita bekam einen mit einem O darauf, Katrin, Timo und Jochen die Umschläge mit einem X. Jochen steckte außerdem noch einen O-Umschlag für Tina ein. Dass er den Umschlag nicht öffnen und heimlich lesen würde, verstand sich von selbst, und Katrin wusste, dass Jochen der Letzte war, der in irgendeiner Form betrügen würde. Er benutzte ja nicht einmal Spicker oder schrieb beim Nachbarn ab!


»Ja! Und dann kam die Polizei mit ganz viel Blaulicht und Tatütata«, erzählte ein kleiner Junge aufgeregt seinem Freund im Sitz vor Katrin auf der Heimfahrt im Bus. »Das war bestimmt wieder die Puzzlebande, sagt mein Papa! Nachher heißt es wieder in den Nachrichten, dass nichts gestohlen, dafür aber ein mysteriöses Puzzleteil gefunden wurde, wirst sehen!«

»Die sind doch total dumm«, murmelte der andere Junge gelangweilt. »Wieso klauen die nichts, wenn sie schon wo einbrechen? Ich würd’ da längst irgendwo im Ausland sitzen und fröhlich meinen riesigen Haufen Geldscheine zählen.«

»Du bist so ein dummer Affe«, entgegnete sein Freund genervt. »Ein gewöhnlicher Einbrecher sein, das kann jeder. Die Puzzlebande« – der andere Junge lachte verächtlich – »ist viel cooler.«

Den Rest des Streits der beiden Kinder bekam Katrin nicht mehr mit, da sie aussteigen musste.

Erst nach dem Mittagessen, als sie alleine in ihrem Zimmer war, um Hausaufgaben zu machen, hatte Katrin Gelegenheit, den Umschlag zu öffnen. Wie jedes Mal befanden sich darin eine Rollenbeschreibung mit Anweisungen, ein Lage- und Gebäudeplan und ein kurzer Einkaufszettel. Das nächste Spiel sollte in zehn Tagen in der Nacht von Freitag auf Samstag stattfinden und Katrin war erleichtert darüber, diesmal am nächsten Tag ausschlafen zu können. Sie sah sich ganz genau den Plan des Gebäudes an, in das sie einsteigen sollten (dieses Mal war es das alte Rathaus), verglich ihn mit den Anweisungen und den Dingen, die sie besorgen sollte, und sofort begann sich in ihrem Kopf eine Strategie zu formen. Doch ihre Augen wurden immer schwerer und sie beschloss, ein Nachmittagsnickerchen zu machen, sonst würde das mit den Hausaufgaben auch nichts mehr werden. Also faltete sie die Blätter wieder zusammen und schob sie zurück in den Umschlag. Erst dabei bemerkte sie, dass sich noch etwas darin befand. Sie zog die Papiere wieder heraus und drehte den Umschlag um. Ein kleines schwarzweißes Puzzlestück fiel heraus und kullerte über den Boden. Katrins Herz machte einen Sprung. Sie war nicht nur mit Timo in einem Team, sondern auch noch – zum ersten Mal! – die Person, die das eigene Puzzleteil gegen das des O-Teams, das irgendwo im alten Rathaus versteckt war, austauschen musste.

Insgesamt gab es zweimal neun Puzzleteile – neun für Team X, neun für Team O. Gespielt wurde immer in tagsüber frei zugänglichen Gebäuden wie Schulen, Bibliotheken, Ämtern oder Kirchen. Bis zu dem Datum, für das das Spiel angesetzt war, durften beide Teams den Ort des Geschehens nach Lust und Laune auskundschaften. Am Tag selbst durfte dann nur noch Team O hinein, um sein Puzzleteil zu verstecken. Da so ein kleines Puzzleteil, etwa münzgroß, natürlich sehr einfach zu verstecken war – man musste es schließlich nur hinter einen Schrank rutschen lassen – gab es dafür gewisse Bedingungen. Eine war, dass es gut sichtbar sein musste und das Versteck zusätzlich bestimmte Vorgaben erfüllen musste, die jede Runde neu definiert wurden, wie etwa die Vorgabe, dass man es nur im Erdgeschoss oder in der Nähe eines Wasserhahns verstecken durfte. Team X, das ebenfalls über die Eigenschaften des Verstecks Bescheid wusste, wurde um Mitternacht aktiv. Es musste unbemerkt in das Gebäude gelangen, das Puzzleteil des anderen Teams finden und durch das eigene ersetzen. Dafür hatten sie, je nach Schwierigkeit des Austragungsorts, zwischen fünfzehn Minuten und einer Stunde Zeit, bis das andere Team die Polizei verständigte und einen Einbruch meldete. Konnte Team X bis dahin nicht die Puzzleteile austauschen, tat es gut daran, aufzugeben und sich aus dem Staub zu machen, schließlich sollte niemand von ihnen geschnappt werden. Das Puzzleteil selbst sollte allerdings von der Polizei gefunden werden – noch ein Grund dafür, es nicht zu gut zu verstecken. Das Spiel war vorbei, wenn entweder alle neun X-Teile oder alle neun O-Teile bei der Polizei lagen, sodass diese eins der Puzzles vollenden konnte. Was dann geschehen würde, das wusste nur der Puzzlemaster, und wer das war, das wusste wahrscheinlich nur Freddy, der zu Anfang des Schuljahres mit der Idee zu ihnen gekommen war.

Katrin warf auf dem Weg ins Bett einen Blick auf die Punkteübersicht. Wer im Gewinnerteam war, bekam einen Punkt. Jochen führte mit zehn Punkten, dicht gefolgt von Freddy mit neun und Katrin mit acht Punkten. Timo bildete das Schlusslicht mit fünf Punkten. Die Polizei hatte bereits acht O-Teile und sieben X-Teile. Würde das O-Team also diese Runde für sich entscheiden, würde das O-Puzzle vervollständigt werden und das Spiel wäre vorbei. Würde Team X gewinnen, gäbe es noch eine letzte, alles entscheidende Runde. Sie konnte Jochen also nicht mehr einholen, doch mit Freddy gleichzuziehen, das war noch drin. Platz zwei wäre ja schon sehr cool.

Noch viel cooler war allerdings, dass sie die nächsten zehn Tage Timo wahrscheinlich ziemlich oft sehen würde, um Freitagnacht mit ihm und Jochen zu planen. Diesen Gedanken im Kopf und ein glückliches Lächeln auf den Lippen kuschelte sich Katrin ins Bett und schlief, bis sie am späten Nachmittag vom Klingeln ihres Handys geweckt wurde.

Fortsetzung folgt …

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