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Sandra Bollenbacher

MARiNA

Heute sagte mir Isabelle, dass sie die kleinen Orangen mit den Kernen eigentlich lieber mag als die, die ich gekauft habe. Ich hätte fast losgeheult. Nicht wegen der Orangen, sondern wegen der Erinnerungen, die mit Isabelles Gemecker aufkamen. Ich habe es ihr nie gesagt, aber ich war vor ihr schon einmal verheiratet.

Meine erste Frau, Marina, verschwand fünf Jahre nach unserer Hochzeit. Sie hat auch immer über die Orangen gemeckert. Bei ihr waren es jedoch nicht nur die Orangen: Es begann mit den Bananen (sie waren zu lang) und den Kartoffeln (konnte ich keine dickeren finden?) und selbst die Äpfel entsprachen nicht ihren Erwartungen, obwohl ich besonders darauf geachtet hatte, genau die zu kaufen, die sie immer gekauft hatte. Normalerweise war sie es gewesen, die die Einkäufe erledigt hatte, doch zu jener Zeit war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war. Alles hatte sich geändert.

Begonnen hatte es Weihnachten 2006.

Heilig Abend war an einem Samstag gewesen und am Dienstag darauf stellte sie mir die sonderbarste Frage: »Kannst du meinen kleinen Finger sehen?«

Natürlich habe ich erst einmal gelacht, aber die Verzweiflung in ihrer Stimme ließ mich verstummen.

»Geht es dir gut, Liebling?«

»Nein, ich glaube, mir geht es überhaupt nicht gut«, war ihre ruhige, doch bestimmte Antwort. »Schau dir den kleinen Finger meiner linken Hand an, ja? Kannst du ihn sehen?«

Ich war versucht, den Raum zu verlassen, um nicht einer ihrer Spinnereien nachzugeben, denn diese hatte meine Frau zu dieser Zeit öfter, nachdem sie das Baby verloren hatte.

»Eddie, bitte, kannst du meinen Finger sehen?«

Ich sah kurz auf ihre Hand. »Ja, Liebling, ich kann deinen Finger sehen«, sagte ich mit ruhiger Stimme, während ich in ihre besorgten Augen blickte.

Sie biss sich auf die Unterlippe und starrte auf ihre Hand.

»Liebes, ich denke auch, dass es dir nicht gut geht. Willst du dich nicht für den Rest des Tages hinlegen?« Ich fühlte ihre Stirn und dachte, dass sie erhöhte Temperatur haben könnte.

»Ja. Ja, ich lege mich etwas hin«, murmelte sie und verließ, sich geräuschlos wie ein Geist bewegend, den Raum.

Ich kann nicht sagen, dass ich mir damals große Sorgen gemacht hatte. Ich nahm an, dass der Stress der Feiertage schuld war. Wir hatten unsere beider Familien zum Weihnachtsessen eingeladen und Marina hatte viel Arbeit gehabt. Wir freuten uns immer, unsere Familien zu sehen, doch noch mehr hatten wir uns gefreut, als sie wieder abgereist waren.

Da ich noch zwei Wochen Urlaub hatte, dachte ich, dass ein Kurztrip über Silvester ihr gut tun würde; sie könnte alles hinter sich lassen, das sie belastete. Am folgenden Freitag packten wir unsere Koffer. Ich fuhr mit ihr zur Küste: Sie hatte immer das Meer geliebt, besonders im Winter, wenn die Wellen wütend gegen die Felsen krachten. Drei Jahre zuvor hatten wir hier ein kleines Haus gekauft, nur für uns beide. Es war entzückend. Es bestand aus einem Wohnzimmer mit Kochecke, zwei Schlafzimmern im Obergeschoss und einem Bad. Die kühle, frische Luft, die Ruhe, die wilde Natur – ich dachte, Marina würde es hier bald besser gehen.

Ich lag falsch. Ihr ging es immer schlechter. Es war nicht so, als hätte ich ihre Veränderung nicht bemerkt, ich nahm sie nur anders wahr. Während sie immer von ihrem Finger sprach – bald war es die ganze Hand –, achtete ich nur auf ihre psychische Gesundheit. Ich wusste ja, dass sie monatelang instabil sein würde, das hatte der Arzt mir gesagt. Dennoch lag ihre Fehlgeburt nun schon ein Jahr zurück und es ging ihr nicht besser, sondern schlechter. Ich fing an, daran zu zweifeln, ob der Ausflug eine gute Idee gewesen war. Vielleicht war es ihre gewohnte Umgebung, das Alltagsleben, das sie brauchte?

»Möchtest du wieder arbeiten gehen, wenn wir zurück sind?«, fragte ich sie am Neujahrsmorgen, während wir im Bett lagen und sie ihre Hand anstarrte.

»Wie denn, bitte?«, war ihre ungehaltene Antwort. »Wie kann ich denn bitte mit so einer Hand arbeiten?«

Ich seufzte und verließ das Bett, um Frühstück zu machen.

Wollte sie einen Spaziergang machen? Nein.

Wollte sie Scrabble spielen? Nein.

Wollte sie mir beim Kochen des Abendessens helfen? Ganz sicher nicht. Nicht mit dieser Hand!

Der nächste Tag war nicht wirklich besser. Als ich sie jedoch bat, sich für die Heimfahrt fertig zu machen, tat sie es nicht. Sie sagte, ihr ginge es nicht gut, und ich rief einen Arzt an, der kam, um sie zu untersuchen. Da er nur der Arzt des nächstgelegenen Dorfs war, wusste er nicht so recht, wie er mit ihrem Fall umgehen sollte, und verordnete ihr Bettruhe. Also blieben wir. Ich konnte ohne Probleme von hier aus arbeiten, da ich meinen Laptop mitgebracht hatte.

»Erinnerst du dich an jenen Abend, als Fritz zur Autowaschanlage fuhr und nicht wieder zurückkam?«, fragte Marina plötzlich an einem verschneiten Nachmittag. Ich ließ beinahe die Pfanne mit den Würstchen fallen, was meine Frau genervt aufstöhnen ließ: Das war etwas, das sie während der letzten Tage viel öfter tat als zuvor.

»Natürlich erinnere ich mich«, sagte ich leise. Ich hatte ihren Bruder sehr gerne gemocht, auch wenn er etwas merkwürdig gewesen war. »Wie kommst du jetzt darauf?«

»Er meinte damals, nur eine Woche vor seinem Verschwinden, dass etwas mit seinem rechten Fuß nicht stimmen wü–«

»Kannst du bitte damit aufhören? Mit deiner Hand ist alles in Ordnung!«, platzte ich wütend heraus.

»Du schaust sie dir ja nicht einmal richtig an!«, erwiderte sie genauso laut.

»Ich muss sie nicht richtig anschauen, um zu sehen, dass alles in Ordnung ist.«

Ich versuchte mich zu beruhigen. Ich wusste, dass ich ungerecht war und dass es nicht ihre Schuld war, doch sie machte mich verrückt damit.

»Liebling, bitte.« Die Ruhe meiner Stimme überzeugte nicht einmal mich selbst. »Ich würde gerne Dr. Resch kommen lassen. Ich habe schon gestern mit ihm telefoniert und er würde herkommen … Okay?«

Sie antwortete mit einem Schnauben und ich interpretierte es als ein Ja.

Dr. Resch kam und gab ihr Tabletten. Trotzdem wollte Marina nicht wieder nach Hause fahren. Da ich die Ruhe und Nähe zur Natur genoss und dachte, dass ich hier sogar besser arbeiten konnte als daheim, stimmte ich zu, noch etwas zu bleiben.

Der Januar verging recht ruhig. Dr. Resch – den ich sehr gut bezahlte – kam zweimal die Woche, um nach meiner Frau zu sehen, und bald schon hörte sie auf, über ihre merkwürdigen Finger oder Hände zu sprechen. Größtenteils blieb sie in einem der Schlafzimmer und verließ kaum noch das Haus. Ich dachte, ich hätte sie ein paarmal dabei erwischt, wie sie ihre Hand anstarrte, doch sobald sie mich sah, versteckte sie sie schnell unter der Decke.

Während das, was sie sagte, wieder normaler wurde, wurde ihr Verhalten unausstehlich.

Ich bat Elke darum, zu uns zu kommen und mir mit dem Haushalt zu helfen, denn obwohl das Haus klein war, war ich es doch nicht gewohnt, mich alleine darum zu kümmern. Elke ist meine Stiefschwester, aber jeder hält sie für meine Cousine. Seit Marina sie auf unserer Hochzeit zum ersten Mal gesehen hatte, dachte sie, dass Elke heimlich in mich verliebt war. Selbstverständlich konnte ihr Elke nie etwas recht machen. Sie putzte die Küche nicht gründlich genug; sie hing das falsche Vogelfutter auf die Terrasse, und selbst wie sie Kaffee kochte, verärgerte Marina. Nach wenigen Tagen hielt es Elke nicht länger aus und verließ uns wieder. Wollte Marina stattdessen eine Haushaltshilfe einstellen? Nein. Sie wollte keinen Fremden im Haus und außerdem könnten wir es uns eh nicht leisten, sagte sie.

Doch es war nicht nur ihre Laune, die konstant schlechter wurde, sie gewöhnte sich auch einige schlechte Verhaltensweisen an: Sie streute Salz in meinen Kaffee, wenn ich gerade nicht hinsah, sie schnitt Löcher in die Zeitungen, und eines Morgens warf sie alle Spiegel aus dem Fenster. Als es März wurde, war es nicht mehr möglich, sich mit ihr zu unterhalten. Entweder hört sie nicht zu oder sie schnitt mir das Wort ab, um über einfach alles zu meckern.

Wie die Orangen.

Ostern kam und sie verließ kaum noch das Bett. Ich war unterdessen ins andere Schlafzimmer umgezogen, da mein Atmen sie nachts nicht schlafen ließ.

Ich weiß nicht, was sie den ganzen Tag da drin gemacht hat. Sie bat mich weder um Bücher noch schaltete sie den Fernseher ein. Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, dass sie entweder ihre Hand anstarrte oder sich überlegte, was sie noch nerven könnte, sodass sie mich sofort anschreien konnte, sobald ich das Zimmer betrat.

Das Zimmer betrat ich immer seltener.

Ich wusste, es war nicht ihre Schuld. Ich wusste, dass ich ungerecht war, doch ich hielt es einfach nicht mehr aus. Ich hielt sie einfach nicht mehr aus. Allein der Klang ihrer Stimme ließ meine Haare zu Berge stehen und ich musste sehr mit mir ringen, mich nicht einfach ins Auto zu setzen und nicht zurückzukommen.

Dr. Resch sagte, dass sie mich brauchte.

Dr. Resch sagte auch, dass wir ein neues Medikament ausprobieren sollten, und das taten wir.

Zuerst dachte ich wirklich, dass es helfen würde. Marina wurde sehr viel umgänglicher und im Juni zog ich zurück in unser gemeinsames Schlafzimmer. Sie wollte allerdings nicht, dass ich sie berührte, und das Bett verließ sie nur einmal am Tag, morgens um acht, wenn ich unten war, um das Frühstück zu machen.

Einmal dachte ich, dass Marina sich erkältet hatte. Hatte sie die vergangenen Wochen tagsüber noch aufrecht im Bett gesessen, so lag sie nun, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, und zitterte leicht. Sie sprach jetzt nur noch sehr wenig. In die Decke gewickelt lag sie den ganzen Tag im Bett und starrte an die Decke. Als ich Dr. Resch rief, ließ sie ihn jedoch nicht an sich heran, sondern schrie und spuckte nach ihm. Mir war das so peinlich, dass ich ihn nie wieder anrief. Noch nicht einmal im Juli, als sie mich bat, ihr eine Wollmütze zu bringen. Als ich sie ihr auf den Kopf setzte, dachte ich, dass ihr Haar sehr dünn und wenig geworden war, aber ich sagte ihr nichts davon. Monatelang nur im Bett zu liegen, war nicht gerade gesund, das wusste ich.

Manchmal bewegten sich stumm ihre Lippen. Manchmal fragte sie mich nach Fritz und warum niemand etwas gemerkt hatte. Oder sie meinte, dass es nun Sinn machte, dass man ihn nie gefunden hatte. Ich glaube, die neuen Tabletten halfen ihr überhaupt nicht. Sie stellten Marina nur ruhig.

»Ich fahre jetzt zum Supermarkt«, sagte ich ihr an einem schönen Nachmittag im August und streichelte ihre Wange, deren Haut beinahe transparent wirkte durch den Mangel von Sonnenlicht. Ich bekam keine Antwort, doch das war nichts Ungewöhnliches. Rückblickend denke ich, dass ich etwas Merkwürdiges an der Bettdecke bemerkt hatte, doch ich konnte beim besten Willen nicht sagen, was es war.

Zwei Stunden später war ich wieder zurück und meine Frau war fort.

Das Bett war leer, nur die Wollmütze lag auf dem Kissen. Ich rannte runter, rief ihren Namen, suchte im Haus, im Garten, auf den Straßen, an der Küste – überall. Das Gleiche tat die Polizei dann tagelang, zu Land und zu Wasser.

Wir haben sie nie gefunden.

Eine Weile bildete ich mir ein, ihre schwache Stimme nach mir rufen zu hören. Ich konnte nicht mehr zurück in ihr Zimmer gehen, zu lebendig war das Bild, wie sie da im Bett lag, vor meinem inneren Auge.

Im September verkaufte ich das Haus. Ich bin nie zu unserem alten Zuhause in der Stadt zurückgekehrt, sondern habe es ebenfalls verkauft und bin ins Landesinnere gezogen. Hier lebe ich nun mit meiner zweiten Frau, Isabelle.

Ich versuche sehr, nicht an Marina zu denken, doch immer, wenn Isabelle grundlos wütend wird, werden die schmerzhaften Erinnerungen wach.

Und manchmal … manchmal denke ich, dass vielleicht wirklich etwas nicht gestimmt hatte mit ihrer Hand. Es ist so, als ob man etwas sieht, aber gleichzeitig doch nicht sieht. Vielleicht war es das, was sie hat verschwinden lassen.

Der etwas andere Kurzgeschichten-Adventskalender

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