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Sandra Bollenbacher

RiCHTERin EMiLiA

Emilia hatte schon immer einen großen Sinn für Gerechtigkeit, weshalb sie seit der ersten Klasse davon träumte, Richterin zu werden. Während all ihre Freundinnen noch mit Puppen spielten, saß Emilia hinter ihrem kleinen Richterpult (Papas alter Schreibtisch) – Justitia (Barbie) mit ihrer Waage zu Emilias Linken, ein kleiner Hammer aus Schaumstoff zu ihrer Rechten – und verhängte Urteile über imaginäre Verbrecher, die imaginäre Verbrechen verbrochen hatten. Der Verlauf ihres weiteren Lebens stand fest: Sie würde aufs Gymnasium gehen, nach dem Abitur würde sie Jura studieren, dann eine steile Karriere als Staatsanwältin hinlegen und schließlich das ehrenvolle Amt der obersten Richterin des obersten Gerichts antreten. Ob die weiße Ringellöckchenperücke wohl Pflicht war?

Emilias Eltern hatten nichts gegen die außergewöhnlichen Spiele und Fantasien ihrer Tochter. Ehrgeiz war schließlich nie verkehrt und es gab bei Weitem Schlimmeres, als eine Juristin in der Familie zu haben. Nur als Emilia, gerade neun Jahre alt geworden, verkündete, sie wolle von nun an nur noch mit »Euer Ehren« angesprochen werden, machten ihre Eltern nicht mit. Als äußerst angenehm empfanden sie es allerdings, wenn Emilia sich nach grobem Ungehorsam oder kurzzeitiger Bösartigkeit selbst zu Fernsehverbot oder Brokkoliessen verurteilte.

Zu Weihnachten hatte Emilia sich keine Geschenke gewünscht. Stattdessen hatte sie ihre Eltern so lange angebettelt, bis diese eingestimmt hatten, sie zu einer öffentlichen Verhandlung im Gericht mitzunehmen.

Aufgeregt hibbelte Emilia auf dem Rücksitz herum. Die Fahrt dauerte viel zu lange, doch sie konnte sich nicht einmal auf ihr Lieblingsbuch – »Was ist was: Das deutsche Rechtssystem« – konzentrieren, das sie seitihrem Geburtstag im November bereits 53-mal gelesen hatte. Endlich erreichten sie das große, alte Gebäude aus rotbraunem Sandstein. Die Fenster waren wie bei einem Gefängnis mit dicken Eisenstangen gesichert und man kam nur zu dem Eingang im Innenhof, indem man unter einer rot-weißgestreiften Schranke und durch ein schweres, drei Meter hohes Tor hindurch sowie über eine kleine Brücke fuhr. Das alles konnten sie freilich erst, nachdem der hinter Panzerglas sitzende Pförtner die Personalausweise von Mama und Papa genauestens begutachtet hatte.

Emilia klebte mit dem Gesicht an der Scheibe und sog alles auf, was sie sah, doch das war leider nicht viel: Der Innenhof war schrecklich unspektakulär und nirgends liefen Anwälte oder Richter herum. Nicht einmal einem einzigen Sträfling begegneten sie, als sie den langen, nach Gummischuhen riechenden Flur entlanggingen. Papa redete leise mit der Frau, die sie am Auto in Empfang genommen hatte, doch auch diese war auf keinen Fall eine Anwältin oder gar Richterin, das erkannte Emilia sofort.

Als sie vor einer breiten Eichentür stoppten, nahm Mama Emilia an die Hand. Emilia lächelte nervös. Gleich würde sie einen echten Gerichtssaal betreten mit einem echten Richter und echten Anwälten und einem echten Angeklagten! Echte Zeugen, echte Sachverständige, echte Gerichtsdiener! Ihre Augen leuchteten glücklich und sie schob sich sogleich an Papas Beinen vorbei in den Raum, als die fremde Frau die Tür öffnete.

»Oh«, entfuhr es ihr enttäuscht.

Der Gerichtssaal hatte nichts von dem, was sie im Fernsehen gesehen oder in Büchern gelesen hatte. Er sah vielmehr ihrem Klassenzimmer nicht unähnlich, nur gab es statt der Tafel einen Flachbildschirm, die Tische waren zu einer großen Tischfläche zusammengeschoben worden und rings herum saßen ein paar Männer und Frauen in Anzügen. Emilia konnte nicht einmal erkennen, wer davon Angeklagter, Verteidiger, Staatsanwalt oder Richter war! Niemand von ihnen trug eine weiße Ringellöckchenperücke!

»Psst«, machte Mama und schob Emilia vor sich her ans andere Ende des Raums, wo ein paar Stühle in zwei Reihen standen.

Emilia ließ sich auf den ersten fallen und stützte das Kinn in die Hände. Vielleicht waren das ja alles Anwälte und die restlichen Personen würde gleich nachkommen. Diese Hoffnung zerplatzte allerdings in der nächsten Sekunde, denn eine der Frauen ergriff das Wort und die Verhandlung begann.

Emilia hatte zwar all die Menschen optisch nicht einordnen können, doch sie konnte ihnen schnell ihre Rollen zuteilen, sobald sie sprachen. Die Frau mit den kurzen braunen Haaren, älter als Mama, aber nicht so alt wie Oma, war die Richterin! Und der Mann da links, der ganz rote Ohren hatte, das war der Angeklagte. Der Mann daneben sein Anwalt. Gegenüber saßen zwei Frauen von der Staatsanwaltschaft und ein junger Mann, der während der gesamten Verhandlung kein Wort sprach, sich jedoch unentwegt Notizen machte. Einmal drückte er zu feste auf und Emilia konnte sehen, wie sich ein dunkelblau schimmernder Tintenfleck über dem Text ausbreitete. Eilig tupfte er mit einem Taschentuch über das Blatt. Auch Emilia wünschte sich, ihr Notizbuch und einen Stift dabei zu haben. Wieso hatte sie nicht daran gedacht? Doch sie traute sich nicht, Mama oder Papa nach etwas zu Schreiben zu fragen. Sie traute sich kaum zu atmen! Es war so spannend!

Der Angeklagte, Herr Günther – Emilia war sich nicht sicher, ob das sein Vor- oder Nachname war –, hatte sein Auto im absoluten Halteverbot geparkt. Die Sache war klar: Man durfte nicht im absoluten Halteverbot parken, nicht eine Minute und schon gar keine 37 Minuten! Schuldig!

Aber Herr Günther hatte doch nur dort gehalten, weil es sich um einen Notfall gehandelt hatte! Seine Mutter hatte versucht, an die alte Chinavase zu kommen, die hoch oben auf dem Küchenschrank stand. Der Stuhl war ins Wackeln geraten, sie hatte die Vase heruntergeschlagen, war vom Stuhl gefallen und konnte nicht mehr aufstehen. Zum Glück hatte sie ihr Handy in der Tasche und konnte ihren Sohn anrufen, der sofort zu ihr fuhr, nur leider keinen Parkplatz fand. Das absolute Halteverbot war ihm in diesem Moment egal gewesen, er wollte nur so schnell es ging zu seiner Mutter, um sie ins Krankenhaus zu fahren. Emilia stieß einen leisen Seufzer aus. Sie stellte sich vor, wie sie handeln würde, wenn ihre Mama sich wehgetan hätte. Sie konnte Herrn Günther voll und ganz verstehen. Freispruch!

Das wäre ja alles verständlich, entgegnete eine der Staatsanwältinnen ruhig, doch dadurch, dass Herr Günther im absoluten Halteverbot geparkt hatte, hatte er nicht nur andere Menschen behindert, er hatte sie sogar in Gefahr gebracht! Das absolute Halteverbot befand sich nämlich vor der Einfahrt einer Arztpraxis. (Emilia fragte sich, weshalb die Mama von Herrn Günther statt ihres Sohns nicht den Arzt vom Haus nebenan um Hilfe gebeten hatte, doch umgekehrt würde sie ja auch zuerst nach ihrer Mama rufen, nicht nach Doktor Becker, der in der Etage unter ihnen wohnte.) Was wäre denn zum Beispiel, fuhr die andere Staatsanwältin fort – sie spuckte immer ein wenig beim Reden, das fand Emilia etwas eklig –, wenn jemand, der aus welchem Grund auch immer eine Überdosis an Tabletten genommen hatte und jetzt im Sterben lag, von seinem Freund zum Arzt gefahren würde, dieser jedoch durch die blockierte Einfahrt nicht rechtzeitig zur Praxis käme und der Patient sterben würde? Dann hätte Herr Günther das Leben dieses Mannes auf dem Gewissen! Emilia sah mit großen Augen zwischen der Staatsanwältin, dem Angeklagten und der Richterin hin und her. Das wäre natürlich schrecklich! Die Mama von Herrn Günther hatte zwar sicher große Schmerzen, doch ihr Leben war nicht in Gefahr. Herr Günther hätte die Einfahrt zur Arztpraxis auf jeden Fall freilassen müssen. Emilia nickte mit zusammengepressten Lippen. Ihre Hände kneteten Hugo, den kleinen grünen Plüschkraken, den sie immer bei sich trug. Hugo war ihr ganz persönlicher Gerichtsprotokollschreiber. Mit seinen acht Armen konnte er auch viel schneller schreiben als der junge Mann der Staatsanwaltschaft. Direkt acht Zeilen auf einmal!

»Auch wenn Sie natürlich rein theoretisch Recht haben, Frau Kollegin«, warf der Verteidiger nun ein, »so ist in dieser knappen halben Stunde, in der mein Mandant mit seinem Fahrzeug die Einfahrt zur Arztpraxis blockierte, kein solcher Notfall eingetreten. Selbstverständlich hat er nicht wissentlich das Leben anderer Menschen gefährdet.« Der Angeklagte nickte heftig. »Wobei ich auch sagen muss, dass es doch sehr unwahrscheinlich ist, dass jemand zu einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt gefahren wird, wenn er sich mit Tabletten vergiftet hat, statt direkt ins Krankenhaus … Außerdem ist es doch normal, dass man zuerst an das Wohlergehen der eigenen Familie denkt. Herr Günther hat sich schreckliche Sorgen um seine alte Mutter gemacht!«

Und so ging es eine Weile hin und her. Emilias Kopf brummte.

Zu Hause beim Richterin-Spielen war alles viel einfacher. Der böse Mister Känterbörri hatte einen Tunnel gegraben und die Kronjuwelen der Prinzessin gestohlen: schuldig. Die dicke Frau Elsa wurde beschuldigt, den Kuchen der fiesen Nachbarin gegessen zu haben, nur weil sie dick war, dabei waren überall am Tatort Hundespuren mit Kuchenresten gefunden worden: nicht schuldig. Papa hatte am Abend den Teller nicht aufgegessen und am nächsten Tag regnete es: schuldig.

Und plötzlich war die Verhandlung vorbei. Emilia sah verwirrt den Anzugmenschen hinterher, als diese nacheinander den Raum verließen. Die Richterin hatte nicht einmal mit einem Hammer auf den Tisch geklopft! Nicht ein einziges Mal waren die Wörter »schuldig« oder »nicht schuldig« gefallen. Herr Günther musste Geld bezahlen, doch mit der Höhe der Summe konnte Emilia auch nichts anfangen. Es waren keine Millionen, daher war die Strafe wohl nicht so schlimm, aber war es überhaupt eine? Den Kopf voller wirrer Gedanken ließ sich Emilia von Papa aus dem Gebäude führen und ins Auto setzen.

Auf der Rückfahrt drehte sich Mama zu ihr um und fragte lächelnd: »Und, mein Schatz, wie hat es dir gefallen? Fandest du das Urteil gerecht?«

»Puuuuuh, ich weiß nicht«, seufzte Emilia. »Ich glaube, ich muss noch viel mehr üben.«

Der etwas andere Kurzgeschichten-Adventskalender

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