Читать книгу Friesentod - Sandra Dünschede - Страница 12
6. Kapitel
ОглавлениеIm gesamten Haus hatte es keinen Hinweis auf Tatjana Lieberknechts Verbleib gegeben. Haie hatte in einigen Ordnern gewühlt, aber nicht wirklich herausgefunden, ob es weitere Verwandte gab. Auch hatte er keine Fotos gefunden, die darauf hindeuteten.
»Da müsste ich mich im Dorf mal umhören. Helene weiß vielleicht, wer die Eltern sind«, sagte er, nachdem Thamsen die Tür versiegelt hatte. Anschließend waren sie zurück zum Haus des Freundes gegangen, wo sie nun in der Küche den restlichen Kaffee tranken.
Im Grunde genommen waren Thamsen Leute, die anderen viele Fragen stellten, zuwider. Aber in diesem Fall wäre wenigstens einer sehr nützlich, musste er sich eingestehen. Schon so manches Mal waren sie durch Informationen von Dorfbewohnern – insbesondere der klatschfreudigen Kaufmannsfrau – in ihren Ermittlungen vorangekommen; nur von Ermittlungen konnte man in diesem Fall nicht sprechen. Und von Fall eigentlich auch nicht. Denn es lag bisher kein Hinweis auf ein Verbrechen vor. Er hatte dem Freund lediglich einen Gefallen getan und sich dabei eigentlich schon zu weit aus dem Fenster gelehnt. Wie er seinem Chef die aufgebrochene Tür und die Rechnung vom Schlüsseldienst erklären sollte, wusste er jedenfalls noch nicht. Am besten, er übernahm selbst die Kosten.
»Kannst du ja mal machen, vielleicht weiß die was oder …« Thamsens Handy klingelte und unterbrach die beiden. »Ansgar, was gibt’s?«, nahm er das Gespräch an. »Waaaas?«
Haie konnte genau sehen, wie Dirk sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich. Er fragte sich, was passiert sein mochte. Ob etwas mit Dörte …?
»Und wer hat sie … Oh, mein Gott. Ja, gut, ich komme.« Er beendete das Gespräch und blickte zu Haie, der sich beinahe sicher war, dass Dirks Lebensgefährtin etwas zugestoßen war. Oder den Kindern?
»Was ist los?«
»Also, ja, nun, es ist … Niklas hat …«
»Was ist mit Niklas?« Haie sprang von seinem Stuhl auf. Wenn es um seinen Patensohn ging, kannte er kein Halten. Der Junge bedeutete ihm alles. In dem Kind lebte für ihn ein Teil seiner Freundin weiter, die er auf so dramatische Art und Weise verloren hatte.
»Nichts, es geht ihm gut«, bemühte sich Dirk, ihn zu beruhigen. »Er hat nur … also, die Kinder haben wohl deine Nachbarin gefunden.«
»Was, wo denn?«
»Ich muss jetzt los.« Dirk stand ebenfalls auf, Haie eilte in den Flur. Es war zwecklos, ihn aufzuhalten. Daher unternahm Thamsen auch nichts. Gemeinsam verließen sie das Haus und fuhren nach Maasbüll.
Als sie in Deezbülleck vom Deich abbogen, sah Dirk schon Ansgars Auto und einen Rettungswagen. »Oh mein Gott«, entfuhr es Haie, der bisher entgegen seiner Art die Fahrt über geschwiegen hatte. Thamsen hatte noch nicht gestoppt, da riss der Freund bereits die Tür auf und sprang aus dem Auto, eilte auf den Eingang des Hauses zu.
»Haie, warte!«
An der Tür stand Ansgar und hielt Haie auf.
»Wo ist Niklas?«, schrie er mit schriller Stimme und versuchte sich an dem Polizisten vorbeizudrängen.
Rolfs warf Thamsen einen Blick zu, dann bemühte er sich, Haie zu beruhigen. »Er ist nicht mehr hier. Die Mutter von Ole kümmert sich um die Jungs. Sie hat uns angerufen.«
»Aber warum denn? Was ist passiert?« Haie war völlig kopflos.
Thamsen trat nun neben den Freund und schob ihn ein Stück zur Seite. »Du wartest hier«, sagte er in einem Ton, der Haie tatsächlich verstummen ließ.
Ob er sich daran halten würde, wusste Dirk nicht, doch er hatte zunächst anderes zu tun. Er verschwand im Haus und folgte den Stimmen, die aus einem der hinteren Räume zu hören waren. Als er durch die Tür in das ehemalige Wohnzimmer trat, sah er, wie der Notarzt gerade seinen Koffer anhob.
»Da ist nichts mehr zu machen«, sagte er recht trocken und zuckte mit den Schultern.
Thamsens Blick fiel auf den leblosen Körper der jungen Frau, der in der Ecke unter dem Fenster lag. Die Augen starrten ins Leere, die Haut wirkte wächsern. Über den Leichnam krabbelte Getier und ein stetiges Summen war zu hören.
»Oh mein Gott«, entfuhr es ihm. Er kniete sich neben die Frau, die im Gesicht einige Hämatome aufwies. »Was ist … Wie ist sie …?«, stotterte er.
Der Arzt zuckte nochmals mit den Schultern. »Nach einem natürlichen Tod sieht es nicht aus, aber Näheres muss ein Rechtsmediziner herausfinden.« Sein Job war erledigt, er verließ den Raum.
»Ich habe die Kollegen von der Spusi informiert.« Ansgar war hinter seinen Chef getreten und blickte nun ebenfalls auf den Leichnam.
Thamsen nickte. »Hast du den Bestatter …?«
»Ja.«
Es war nicht die erste Leiche, die die beiden vor sich hatten. Sie verstanden sich blind, wussten, was zu tun war. Und nach einem Verbrechen sah das hier für ihn auf den ersten Blick aus. Obwohl außer den Hämatomen im Gesicht keine sichtbaren Verletzungen zu erkennen waren. Das musste nichts heißen, die Frau konnte vergiftet oder erstickt worden sein, oder aber sie war schlichtweg verdurstet, denn so wie es aussah, hatte sie hier irgendjemand gefangen gehalten. Sie war mit Kabelbinder an das Heizungsrohr gefesselt. Den Mund hatte man ihr mit Isolierband verklebt, welches der Notarzt bereits entfernt hatte. Die Lippen wirkten spröde und rissig. Neben dem Leichnam lag eine leere Wasserflasche. Verdursten als Todesursache erschien ihm als Laien am wahrscheinlichsten, aber ob das stimmte, war Aufgabe des Rechtsmediziners.
»Gut, du bleibst hier, bis die Kollegen von der Spurensicherung eintreffen. Ich muss jetzt erst einmal mit Haie zu der Mutter und Niklas abholen.« Thamsen stemmte sich aus der Hocke hoch.
Ansgar nickte. »Geht klar. Soll ich die Kollegen in Husum anrufen?«
Das Informieren der Kripo war Chefsache. Gerne hätte er die Aufgabe abgegeben, aber das ging nicht. »Das erledige ich später«, entgegnete er, ehe er einen letzten Blick auf die Tote warf, sich kopfschüttelnd umdrehte und zum Eingang zurückging. Dort stand Haie und trat von einem Fuß auf den anderen.
»Was ist denn los?«
»Es scheint so, als hättest du recht gehabt. Deine Nachbarin liegt tot in diesem Haus.«
Haies Augen weiteten sich. »Was? Hier? Wie?«
Thamsen zuckte mit den Schultern. »Das kann man noch nicht sagen.«
»Aber dann … Ich meine, das Haus steht seit Jahren leer, soweit ich weiß.«
»Wer ist denn der Eigentümer?«
»Keine Ahnung, wahrscheinlich die Kinder von Fiete Sönksen. Erinnerst du dich nicht an den Fall?«
Thamsen fuhr sich durch das blonde kurze Haar. Ganz dunkel konnte er sich an eine Tragödie erinnern, die sich vor einigen Jahren in der Gegend abgespielt hatte. »Ist dies das Haus, wo es den erweiterten Suizid gab?«
Haie nickte. »Genau, ist zwar schon etliche Jahre her, aber Fiete Sönksen hat damals erst seine Frau und dann sich selbst erschossen.«
»Stimmt.« Langsam kehrten Details zum Fall in Thamsens Erinnerung zurück. Er war damals noch Oberkommissar gewesen und sein Chef hatte die Ermittlungen geführt. Er war nur am Rande einbezogen gewesen, wusste aber, dass es ein schreckliches Familiendrama gewesen war.
»Weißt du noch, warum er das getan hat?«
»Helene hat mal erzählt, dass Fiete Sönksen wohl total überschuldet gewesen ist. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Kennst ja Helene.«
»Und seitdem steht das Haus leer?« Thamsen betrachtete das verfallene Reetdachhaus. Wenn es wirklich mehrere Jahre unbewohnt war, dann war es natürlich ein ideales Versteck für eine Leiche oder ein Entführungsopfer. Vielleicht hatte der oder die Täterin Tatjana gar nicht ermorden wollen, sondern ihr Tod war versehentlich eingetreten. Er versuchte sich zu erinnern, ob er im Haus der Toten irgendwelche Arzneimittel gesehen hatte.
»Litt deine Nachbarin unter einer Krankheit?«
»Wie?« Haie konnte Dirks Gedankengang nicht folgen.
»War sie chronisch krank oder hatte Herzprobleme, nahm sie regelmäßig Medikamente?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Na, man unterhält sich doch auch mal über Krankheiten.«
»Doch nicht in dem Alter.«
»Wieso, wie alt war Tatjana?«
Haie hob abschätzend die Hand. »So Ende zwanzig?«
»War nur so eine Idee«, murmelte Thamsen und sah eine Menge Arbeit auf sich zukommen. Selbst wenn er die Kripo über den Fall informierte, würde er sicher keine Unterstützung erhalten. Niemand aus Husum würde sich hier blicken lassen – zumindest nicht, um ihn bei den Ermittlungen zu unterstützen. Das war in den letzten Fällen so. Das würde sich auch jetzt nicht ändern. Die Kollegen in Husum hatten angeblich immer Dringenderes zu erledigen. Da konnte er den Anruf auch noch etwas hinausschieben.
»Komm«, sagte er daher zu Haie, »wir holen jetzt erst einmal Niklas ab und dann bringe ich euch nach Hause.«