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3. Kapitel

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»Wo willst du denn jetzt noch hin?« Tom beobachtete mit fragender Miene, wie Haie am nächsten Abend im Flur seine Jacke anzog.

»Ich, ähm, zu Elke.«

»Zu Elke?« Der Ton in Toms Stimme machte deutlich, dass er dem Freund nicht glaubte. Seit wann traf Haie sich wieder mit seiner Exfrau? Bisher hatte er stets betont, das Kapitel sei für ihn abgeschlossen. Diese Tatsache galt zwar nicht für Elke, die es gerne gesehen hätte, wenn Haie zu ihr zurückkehren würde. Das wusste Tom. Daher mied Haie, so gut es ging, den Kontakt zu ihr. Um keine unberechtigten Hoffnungen zu wecken. Warum also wollte er ausgerechnet jetzt zu ihr? Da war doch was faul. Er musterte ihn, während er auf eine Antwort wartete.

»Ach Mensch, nee, ich geh zu Kalle.« Haie wusste, es war zwecklos, weiter zu lügen.

»Kalle?« Auch dieser Name warf bei Tom Fragen auf. Er interessierte sich nicht sonderlich für die Gegebenheiten im Dorf. Daher wusste er auch nichts von der Disco in Risum, die er ohnehin nicht besuchen würde.

»Ja, da kann man so, na ja, tanzen. Wäre vielleicht auch was für Astrid und dich«, schlug Haie vor.

»Tanzen?« Toms Augenbrauen wanderten in schwindelerregende Höhen.

Seit einiger Zeit traf Tom sich mit einer Doktorandin vom Nordfriisk Instituut. Sie hatten Astrid Hansen im Zuge einiger Ermittlungen kennengelernt, die Haie vor nicht allzu langer Zeit in einem Mordfall betrieben hatte. Zunächst waren die beiden Männer beim Anblick der Frau erschrocken, denn Astrid ähnelte Marlene – Toms verstorbener Frau – so sehr, dass ihre Nähe am Anfang fast schmerzte. Bei genauerem Betrachten fielen ihnen jedoch einige Unterschiede auf. Und seit geraumer Zeit unternahmen Tom und Astrid gemeinsam etwas. Er hatte schnell festgestellt, wie gut ihm die Frau tat. Er mochte sie und sie ihn. Von einer Beziehung zu sprechen, war verfrüht, obwohl Tom spürte, dass er bald wieder dazu bereit sein würde. Ob Astrid Hansen die Richtige für eine neue Partnerschaft war, wollte er jedoch noch nicht sagen. Momentan verbrachten sie jedenfalls aufgrund ihrer gemeinsamen Interessen viel Zeit miteinander. Aber eine Dorfdisco gehörte nicht zu ihrer beiden Vorliebe, da war Tom sich sicher.

»Und das ist auch was für alte Leute?«

»Was heißt denn hier alt?« Haie schob demonstrativ die Unterlippe vor.

»Na ja, wenn du da hingehst? Kommt Elke denn mit?«

»Elke? Wie? Nee.«

»Du gehst also allein zum Tanzen?« Tom konnte sich denken, dass der Discobesuch irgendetwas mit dem Verschwinden der Nachbarin zu tun hatte. Zwar hatte Haie ihn nicht mehr darauf angesprochen, aber Tom wusste, dass er nicht aufgehört hatte, nach einer Erklärung für die Abwesenheit der Frau zu suchen. Nicht Haie.

»Warum denn nicht? Ich bin schließlich ungebunden«, waren Haies letzte Worte, ehe er die Tür öffnete und das Haus verließ.

Draußen schlug ihm feuchtkalte Luft entgegen und kurz kam ihm der Gedanke, sein Vorhaben aufzugeben. Es wäre bei dem Wetter so viel gemütlicher, auf dem Sofa zu bleiben und ein Buch zu lesen. Sein Blick wanderte zum Nachbarhaus, während er zum Fahrradschuppen ging. Alles dunkel. Da musste etwas passiert sein und er würde herausfinden, was.

Energisch schwang er sich auf sein E-Bike und trat in die Pedale. Zum Glück war es nicht weit, trotzdem fühlte Haie sich wie ein Eisklotz, als er vor der Disco stoppte. Mit seinen steif gefrorenen Fingern brauchte er gefühlt eine Ewigkeit, um das Fahrrad abzuschließen. Warum hatte er auch keine Handschuhe angezogen?, fragte er sich, während er langsam auf den Eingang zuging, vor dem einige junge Leute standen und rauchten. Skeptisch beobachteten sie sein Näherkommen und als er durch die Tür trat, hörte er sie miteinander tuscheln.

Laute Musik empfing ihn, aber es war warm. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke auf und betrat den Saal, in dem sich rechts eine Bar befand, an der etliche Leute standen. Alle hier waren jünger als er, da brauchte es keinen zweiten Blick. Und auch die Musik war so gar nicht sein Fall. Laute Beats, die einem in den Magen fuhren. Er fragte sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte, dann fielen ihm Tatjana und ihr dunkles Haus ein und er stellte sich an den Tresen.

»Ein Bier bitte.«

Von links hörte er Gekicher, doch der Mann an der Bar verzog keine Miene. Geschäft war Geschäft.

Haie zahlte und drehte sich um. In der Mitte des Saals, der als Tanzfläche diente, tummelten sich etliche Leute. Einige von ihnen erkannte er trotz der recht schummrigen Beleuchtung, die ab und an durch ein rhythmisches Aufblitzen durchbrochen wurde.

Er war jahrelang Hausmeister an der örtlichen Grundschule gewesen, daher waren ihm viele junge Leute im Dorf von Kindesbeinen an bekannt. Ihm wurde bewusst, wie viel Zeit vergangen war, als er die mittlerweile erwachsenen Jungen und Mädchen betrachtete. Wer von ihnen konnte etwas mit Tatjana zu tun gehabt haben? Wer kannte sie, war mit ihr befreundet? Sie war erst vor gut einem Jahr nach Risum gezogen, kam aber aus der Gegend. Gut möglich, dass sich unter den Tanzenden ehemalige Klassenkollegen befanden. Er inspizierte die Gäste, als er leicht rüpelhaft von der Seite angestoßen wurde. Etwas Bier schwappte aus seinem Glas.

»Sorry, Alter.« Ein junger Mann, vielleicht Ende zwanzig, grinste ihn blöde an. »Haben Sie sich verlaufen?«

»Mensch, Marius«, wies eine Frau den Rempler zurecht. »Entschuldigung.«

Haie nickte und musterte sie. War sie im gleichen Alter wie Tatjana? Heutzutage war das oftmals schwer zu sagen. Oder lag das an seinem Alter? Die jungen Mädchen brezelten sich derart auf, dass er sich manchmal im Alter vertat. Dennoch war es einen Versuch wert.

»Ich bin wegen Tatjana hier.«

»Tatjana?«

»Ja, Tatjana Lieberknecht.«

»Was willst du denn von der?«, mischte sich nun wieder der Rempler ein. Er hatte augenscheinlich schon reichlich Alkohol intus, aber immerhin schien er Haies Nachbarin zu kennen.

»Ich suche sie.«

»Wieso, bist du hinter ihr her?« Wieder grinste sein Gegenüber dümmlich. »Bist du ein Stalker oder was?«

»Nein, sie ist meine Nachbarin und seit ein paar Tagen verschwunden.«

»Echt, letzte Woche war sie noch hier«, entgegnete nun die nette junge Frau. »Ich habe sie zusammen mit Maike gesehen.«

»Maike?« Haie blickte sich suchend um. »Ist die hier?«

»Ja, ich habe sie vorhin auf dem Klo gesehen.«

»Und wo ist sie jetzt?«

Die Angesprochene blickte sich um, zuckte mit den Schultern. »Aber da ist Christian, der ist bestimmt mit ihr zusammen hier.« Sie wies auf einen Mann, der unrhythmisch auf der Tanzfläche herumzappelte.

Haie stellte sein Bier ab und drängte sich zwischen den Leuten zu dem Unbekannten. Oder war das gar der kleine Christian aus dem Herrenkoog? Der, der immer so eine dicke Brille getragen hatte, weswegen ihn die anderen Kinder gehänselt hatten? Konnte das sein? Haie tippte dem Mann auf die Schulter, der reagierte jedoch nicht, sondern tanzte wie in Trance zur Musik. Haie griff ihn am Arm.

»Mensch, was soll das?«, pöbelte Christian, stoppte dann plötzlich in der Bewegung. »Oh Herr Ketelsen, was machen Sie denn hier?«

»Ja, ich, ist deine Freundin hier?« Haie musste schreien, damit ihn der andere verstand.

»Freundin?«

»Maike, die Bekannte von Tatjana.«

»Ach so, ja, aber keine Ahnung, wo die steckt.«

»Und Tatjana?«

»Jana?«

Haie nickte, da ihm der Hals bereits schmerzte. Warum musste die Musik auch so laut sein? Das war ja nicht zum Aushalten.

»Was ist mit der?«

»Ist sie hier? Hast du sie gesehen?«

»Nee.«

Haie seufzte, aber das Geräusch ging in der Musik unter. Er fragte sich, was er hier eigentlich trieb. Er gehörte hier wirklich nicht her. Sein Kopf dröhnte und von den dumpfen Bassklängen schmerzte bereits sein Bauch. Er nickte Christian zu und schlängelte sich durch die Masse zum Ausgang. Als er die Tür öffnete, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich.

»Sie suchen Tatjana?« Die junge Frau, die hinter ihm stand, sah blass und sehr dünn aus.

Er nickte.

»Ich weiß auch nicht, was mit ihr los ist. Seit Tagen versuche ich sie anzurufen, aber es geht immer nur die Mailbox ran und auf Nachrichten reagiert sie nicht. Ich mache mir Sorgen.« Sie trat näher an Haie heran. Ihm fiel noch deutlicher auf, wie dürr sie war. Ihre Gesichtshaut wirkte beinahe durchsichtig, aber in ihrem Blick glaubte Haie zu erkennen, dass sie sich wirklich Sorgen um die Freundin machte.

»Ich bin ihr Nachbar und habe sie seit Tagen nicht gesehen. Ihr Haus wirkt verlassen. Ich habe mich gefragt, ob sie vielleicht wegfahren wollte.«

»In Urlaub, nein. Sie bearbeitet, soweit ich weiß, gerade ein sehr wichtiges Projekt. Da nimmt sie sich nicht frei. Ich fürchte, es ist etwas passiert.«

»Ich auch«, gestand Haie ein. »Wann hast du sie zuletzt gesehen?«

»Letzte Woche waren wir zusammen hier, seitdem habe ich nichts von ihr gehört.«

»Und hast du auf ihrer Arbeit angerufen?«

Die junge Frau schüttelte den Kopf.

»Wo arbeitet sie denn?«

»In dem Planungsbüro Niemann, in Leck.«

Haie überlegte, ob dem Arbeitgeber nichts aufgefallen war. Über das Fehlen einer Mitarbeiterin konnte man nicht einfach so hinweggehen, zumal sie anscheinend an einem wichtigen Projekt gearbeitet hatte. Aber auszuschließen war das nicht, denn so wenig wie die Leute sich heutzutage umeinander kümmerten, wunderte ihn so manches nicht. Sein Blick fiel auf sein Gegenüber und ihm wurde bewusst, dass solch eine Pauschalmeinung nicht haltbar war.

»Ich rufe da morgen mal an. Vielleicht gibt es eine einfache Erklärung. Bist du eigentlich Maike?«

Die junge Frau nickte und blickte ihn zweifelnd an. Verständlich, dachte Haie, aber was sollten sie tun? Thamsen hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass die Polizei in diesem Fall nicht zuständig war.

»Wir finden sie«, versicherte Haie und fasste Maike leicht an der Schulter. »Willst du mir deine Nummer geben? Dann kann ich mich bei dir melden, wenn ich etwas herausgefunden habe.«

»Eh, Alter, Pfoten weg!«, schallte es plötzlich aus Richtung Saal. »Junge Frauen anmachen und so an ihre Nummer kommen. Ganz, ganz billig.«

»Lass«, zischte Maike, während sie in ihrer Handtasche nach einem Stift kramte und etwas suchte, auf dem sie ihre Nummer notieren konnte.

»Du gibst dem doch nicht wirklich …?« Der junge Mann kam näher. »Was bist du denn für eine?«

»Lass mich in Ruhe«, sagte Maike in einem scharfen Ton, den man ihr aufgrund ihrer Erscheinung gar nicht zugetraut hätte. Sie reichte Haie den Zettel. »Melden Sie sich bei mir, wenn Sie etwas von Tatjana hören.«

Friesentod

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