Читать книгу Friesentod - Sandra Dünschede - Страница 15

9. Kapitel

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»Das ist schrecklich«, ließ eine schrille Frauenstimme vernehmen, als Haie am frühen Abend den Supermarkt im Dorf betrat.

Natürlich hatte sich der Leichenfund im Dorf inzwischen herumgesprochen. Das war nicht verwunderlich. Und natürlich waren die Leute erschrocken über die Geschehnisse, was sie allerdings nicht davon abhielt, sich haarsträubende Erklärungen auszudenken.

Beim Obststand wurde Haie Zeuge, wie ein Mann Meta Lorenz tatsächlich weismachen wollte, dass der Geist aus dem verlassenen Haus in Deezbüll Tatjana Lieberknecht umgebracht hatte. Haie hätte laut auflachen können, wenn die Angelegenheit nicht so ernst gewesen wäre.

Interessanter fand er da schon die Unterhaltung an der Wursttheke, denn da arbeitete eine relativ junge Frau, die zumindest vom Alter her Tatjana nahegestanden haben könnte. Aber auch sie schien nicht wirklich etwas zu wissen.

»Ich glaube, die hat sich oft mit irgendwelchen Kerlen eingelassen. Dann muss man sich nicht wundern, wenn das eines Tages so kommt.«

Haie hasste solche Phrasen. Zum einen stimmte es nicht, dass Tatjana ständig irgendwelche Kerle angeschleppt hatte – das hätte er mitbekommen –, und zum anderen: Warum sollte man sich nicht wundern, dass jemand umgebracht wurde, weil er oder sie wechselnde Partnerschaften pflegte?

Trotzdem lächelte er die junge Verkäuferin an und fragte sie, ob sie regelmäßig in die Dorfdisco gehe und vielleicht etwas beobachtet habe. Denn so wie es schien, war Tatjana dort das letzte Mal lebend gesehen worden.

Doch die junge Frau zog nur die Augenbrauen in die Höhe. »Sehe ich so aus, als wenn ich zu so ’ner Deppendisco gehe?«

Mehrere Köpfe schnellten herum und auch Helene warf der Mitarbeiterin einen bösen Blick zu. Es war eines, so etwas zu denken, wenn man nicht von hier kam, aber das laut vor den Leuten – vor der Kundschaft – auszusprechen, ging gar nicht. Daher drängte sich die Kaufmannsfrau hinter den Fleischtresen und schubste die junge Frau zur Seite. »Mach mal Pause.«

Natürlich war die Intervention von Helene nicht ganz uneigennützig, das wusste Haie, denn vor allem von ihm, dem Nachbarn der Toten und dem Freund des ermittelnden Kommissars, erhoffte sie sich sicher exklusive Informationen für ihren Dorfklatsch.

»Ich habe gehört, dass Niklas die Tatjana gefunden hat. Wie geht es ihm denn?«, fragte sie.

»Och«, Haie zuckte mit den Schultern, »war schon ein Schock für ihn.«

»Das kann ich mir vorstellen. War sie denn arg entstellt?«

Es war klar, dass es ihr nicht um Niklas ging. Sie brauchte Details, damit sie neuen Klatsch verbreiten konnte. Voyeurismus war weit verbreitet und Helene tat ihr Bestes, um die Bedürfnisse ihrer Kundschaft auch in diesem Punkt zu befriedigen.

»Niklas sagt nichts. Muss der Schock sein«, redete Haie sich raus.

»Und die Polizei?«

»Ermittelt wohl, aber da muss man ja erst die Ergebnisse der Untersuchungen abwarten. Ohne Obduktion und so kann man eh nicht viel sagen.« Haie gab sich fachmännisch. Helene hingegen unbeeindruckt. Sie startete einen letzten Versuch.

»Habe gehört, dass du in der Disco warst. Hast du denn Tatjana da getroffen?«

Haie schoss das Blut in die Wangen, zumal sich gerade in diesem Moment seine Exfrau Elke neben ihn an die Fleischtheke stellte. Dass sich in diesem Dorf aber auch immer alles so schnell herumsprechen musste. Nichts blieb unentdeckt. Er schüttelte lediglich den Kopf und wies mit dem Finger auf die Theke. »Zweihundert Gramm von der Gesichterwurst.«

»Ist Niklas nicht bald ein bisschen zu alt für solch einen Kinderkram?«, fragte Elke und lächelte Haie von der Seite an.

Dem wurde es im Laden nun langsam zu eng. Er tat, als hätte er Elkes Frage überhört, schnappte sich die Tüte mit der Wurst und eilte weiter. Nach und nach legte er die restlichen Dinge, die auf seiner Liste standen, in den Einkaufswagen und ging zur Kasse.

Dort traf er natürlich wieder auf Helene. Doch diese hatte nun erkannt, dass aus Haie nichts weiter von Belang herauszubekommen war. Sie kassierte ab, und noch während Haie die Einkäufe in seiner Tüte verstaute, wandte sie sich Meta Lorenz zu.

»Na, hest all hört?«

Die kleine, gebückte Frau nickte. »Wer so was wohl nur macht?«

»Tja, das wird sich bestimmt bald rausstellen. Heutzutage hat die Polizei ja eine Menge Möglichkeiten. Speicheltest und so«, prahlte Helene mit ihrem nicht vorhandenen Fachwissen.

»Wieso, ist die Frau denn …?«, fragte auch sogleich die Kundin, die hinter Meta Lorenz in der Schlange stand.

Helene nickte, was Haie aus dem Augenwinkel sah. Oje, dachte er, der Fall heizte ganz schön die Gerüchteküche an. Schon immer hatte Helene Gefallen am Tratsch gefunden, und wenn sie mal etwas nicht wusste, weil es aus niemandem herauszuquetschen war, dachte sie sich einfach etwas aus.

Dirk hatte eine Nachbarin gebeten, bei Tatjana Lieberknechts Mutter zu bleiben, bis der Sohn eintraf. Die Mutter war zu geschockt über den Tod ihrer Tochter. Eine Befragung wäre momentan sinnlos, daher wollte er zurück in die Dienststelle fahren und die Familie später noch einmal aufsuchen.

»Der Sohn soll sich bei mir melden, wenn er ankommt«, trug er der Nachbarin auf, reichte ihr seine Visitenkarte und verließ das Haus.

Auf dem Weg zurück nach Niebüll gingen Dirk eine Menge Gedanken durch den Kopf: Hatte jemand Tatjana Lieberknecht entführt und sie in dem verlassenen Haus festgehalten? Und wie war sie gestorben? War sie wirklich verdurstet?

Es musste jemand aus der Gegend gewesen sein, das stand für ihn fest. Wer sonst konnte wissen, dass das Haus leer stand, dass so gut wie nie jemand dort hinkam? Oder hatte der oder die Täterin es darauf angelegt, dass man Tatjana Lieberknecht fand? Aber warum? Das ergab keinen Sinn.

Sein Handy klingelte und er nahm das Gespräch in der Hoffnung auf neue Ergebnisse an.

»Dirk, wo bleibst du?« Es war Dörte.

»Wieso?«

»Jetzt sag bloß nicht, du hast den Termin vergessen.« Siedend heiß fiel Thamsen ein, dass er Dörte versprochen hatte, zu einer Aufführung von Lottas Ballettgruppe mitzugehen, die heute stattfand.

»Oh, Schatz, ja, also …«

»Komm mir jetzt nicht mit ›ihr habt einen Leichenfund‹«, entgegnete Dörte spitz.

Thamsen schluckte. »Doch.«

»Was? Das ist ein Scherz«, schnaubte Dörte.

Dirk konnte ihren Ärger verstehen, aber seine Arbeit ging in diesem Fall nun einmal vor. Leid tat ihm Lotta, die sicherlich enttäuscht sein würde, aber er konnte schließlich nichts dafür. Er versprach, es Lotta später selbst zu erklären, und legte auf, als er auf dem Parkplatz der Dienststelle in Niebüll angekommen war. Er seufzte und stieg aus.

Ansgar war mittlerweile vom Fundort zurück im Büro.

»Und, haben die Kollegen etwas gefunden, was uns weiterbringt?«, fragte Thamsen sofort.

»Wir müssen abwarten. Es gab eine Menge Spuren, aber das wird dauern, die auszuwerten. Außerdem ist fraglich, was uns dann zu dem Täter führen kann. Denn wie es aussieht, waren mehrere Leute in dem Haus, nicht nur die beiden Jungs«, stöhnte Ansgar, der wie Thamsen wusste, wie wichtig jetzt Ermittlungsansätze waren. »Und bei dir?«

Dirk berichtete von seinem Besuch bei den Angehörigen. »Die Mutter ist nicht ansprechbar. Steht unter Schock. Ich habe den Bruder der Toten verständigt, der kommt aus Flensburg.«

»Gut«, nickte Rolfs und schaute Thamsen nach wie vor erwartungsvoll an. Doch das war alles, was Thamsen beisteuern konnte, auch wenn er gern mehr Ergebnisse liefern würde.

»Ich denke, uns bleibt vorläufig nichts Weiteres übrig, als abzuwarten«, entgegnete Dirk daher. »Lass uns für neun Uhr morgen ein Meeting ansetzen, dann haben wir vielleicht die Ergebnisse der Obduktion.«

Nachdem Haie den Sparmarkt geradezu fluchtartig verlassen hatte, war er nach Lindholm geradelt. Er wollte noch Brot kaufen, und das von der Bäckerpost schmeckte ihm nun einmal am besten. Als er sein Fahrrad abstellte und in den kleinen Laden gehen wollte, traf er auf Maike. Sie wirkte noch blasser als bei ihrer ersten Begegnung.

»Sie haben sie gefunden«, stellte sie mit zittriger Stimme fest.

Haie wusste nicht so recht, was er erwidern sollte. Der Schrecken darüber, dass Tatjana tot aufgefunden worden war, steckte ihm in den Gliedern, machte ihn sprachlos. Er nickte lediglich und sah, wie Tränen in Maikes Augen aufstiegen.

»Es ist so schrecklich«, flüsterte sie.

Haie spürte einen dicken Kloß im Hals und räusperte sich. »Hast du eine Ahnung, zu wem sie alles Kontakt hatte? Gab es vielleicht eine neue Bekanntschaft?«

Maike zuckte mit den Schultern und wurde durch einen Schluchzer geschüttelt. »Wer macht denn nur so etwas? Sie hat doch niemandem etwas getan.«

Das sah er ähnlich, nur gab es jemanden, der anderer Meinung gewesen war. Und diesen Jemand galt es zu finden. Er oder sie durfte nicht ungeschoren davonkommen, das musste Thamsen unbedingt vermeiden. Und vielleicht auch mit ein bisschen Hilfe von ihm. »Oft kommt der Täter aus dem näheren Umfeld des Opfers. Gibt es da jemanden, der dir einfällt? Hatte sie einen neuen Freund, eine Bekanntschaft? Hat sie mit dir darüber gesprochen?« Er wusste nicht, wie eng die Freundschaft zwischen den beiden jungen Frauen gewesen war, aber er hoffte, dass Tatjana Maike irgendetwas erzählt hatte.

Die junge Frau vor ihm wirkte, als würde sie überlegen, aber gleich darauf schüttelte sie den Kopf. »Also, mir fällt da partout nichts ein«, schluchzte sie.

»Schon gut«, versuchte Haie sie zu beruhigen. »Aber wenn dir etwas einfällt, dann melde dich bei mir oder am besten bei der Polizei.«

Bei dem Wort »Polizei« riss Maike die Augen weit auf. »Mache ich«, sagte sie leise, verabschiedete sich mit einem leichten Kopfnicken und ging zu ihrem Wagen.

Haie sah ihr nach. Er verstand nur zu gut, wie sie sich fühlte. Er wusste genau, wie es sich anfühlte, wenn eine gute Freundin gewaltsam aus dem gemeinsamen Leben gerissen wurde. Vor einigen Jahren hatte er das selbst durchgemacht und noch heute kämpfte er mit der Erinnerung an das Geschehene. Zwar sagte einem der Verstand, dass der geliebte Mensch nicht mehr da war, aber begreifen konnte man das, wenn überhaupt, erst wesentlich später. Er holte tief Luft und betrat den kleinen Bäckerladen, in dem es wie immer herrlich nach frischem Brot roch. Die Bäckerfrau hinter dem Tresen schaute ihn aufmerksam an, sicherlich hatte sie gesehen, dass er sich mit Maike unterhalten hatte, und bestimmt hatte auch sie schon von dem Leichenfund gehört. Beides bestätigte sich sogleich.

»Und, ermittelst du wieder?«

Eigentlich war Haie stolz auf seinen Ruf als Hilfssheriff, aber in diesem Fall fühlte er sich irgendwie überfordert, der Fall ging ihm sehr nahe. Er hatte Tatjana gekannt. Sie war eine so nette und angenehme Nachbarin gewesen. Dass sie nun tot war – ja, sogar ermordet worden war –, erschreckte ihn nicht nur, sondern ließ ihn eine Hilflosigkeit empfinden, die ihn lähmte.

»Na ja, das gestaltet sich schwierig«, versuchte er der Frage auszuweichen. Im Gegensatz zu Helene ließ die Bäckerfrau diesen Umstand auf sich beruhen und hakte von sich aus nicht weiter nach.

»Kanntest du denn Tatjana Lieberknecht?«, fragte Haie schließlich. Er konnte und wollte die Angelegenheit nicht einfach auf sich beruhen lassen.

»Nur vom Sehen. Sie hat hier manchmal auf ihrem Heimweg fürs Abendbrot Brötchen gekauft.«

»Und hat sie mal etwas erzählt?«

»Was soll sie erzählt haben?« Die Frau blickte ihn fragend an.

»Weiß auch nicht«, musste Haie eingestehen. Er wusste im Prinzip nichts von dem Fall und auch sehr wenig über seine Nachbarin. Wer hatte sie nur in dieses Haus verschleppt und umgebracht? Und warum? In den Augen des Mörders gab es sicherlich einen Grund für das Verbrechen. Auch wenn jemand anderes die Motivation nur schwer oder kaum nachvollziehen konnte. Nicht jeder Mörder war zwangsläufig krank oder irre, wie so gerne angenommen wurde. Aber er hatte eine Sichtweise auf eine Situation, befand sich in einem Konflikt, dessen einzige Lösung für den Täter lautete: Die Person musste aus dem Weg geräumt werden. Von außen betrachtet, gab es natürlich Hunderte andere Möglichkeiten, den Konflikt zu lösen – nicht aber für den Täter.

»Ich nehme ein Vollkornbrot«, sagte Haie und zeigte auf das Regal hinter der Verkäuferin.

Sie griff nach dem Brot und packte es in eine Papiertüte. »Sonst noch einen Wunsch?«

Gerne hätte er gesagt, dass er sich Frieden und den Mörder von Tatjana Lieberknecht hinter Gittern wünschte, aber er schüttelte lediglich den Kopf. »Das ist für heute alles.«

Friesentod

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