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»Da ist schon wieder ein Brief vom Anwalt gekommen.«

Irmtraud Carstensen studierte mit besorgter Miene den Absender des Einwurfeinschreibens.

»Leg ihn zu den anderen«, antwortete ihr Mann ohne aufzublicken.

»Willst du ihn denn nicht aufmachen? Vielleicht steht etwas Wichtiges drin.«

»Was soll schon drinstehen? Doch nur, dass Kalli auf die Auszahlung seines Erbteils besteht und ich der Veräußerung des Hofs zustimmen soll. Aber ich verkaufe mein Elternhaus nicht. Auf gar keinen Fall und schon gar nicht, um meinem gierigen Bruder das Geld in den Rachen zu werfen.«

Friedhelm Carstensen blätterte energisch in der Tageszeitung und tat, als lese er interessiert die Nachrichten vom Vortag.

Seine Frau stand unschlüssig in der Küche und betrachtete nachdenklich den weißen Umschlag. Vor etlichen Monaten war ihre Schwiegermutter gestorben, die den Nachkommen den Familienhof hinterlassen hatte. Vermutlich hatte die ältere Dame gedacht, dass die Söhne sich friedlich über die Aufteilung des Hofes einigen würden. Ein Testament gab es nicht. Beim Tod ihres Mannes hatte es schließlich auch keine Streitigkeiten über den Nachlass gegeben. Denn obwohl den Söhnen schon damals ein Pflichtteil zugestanden hatte, war eine einstimmige Entscheidung darüber gefällt worden, dass die Mutter weiterhin auf dem Hof wohnen sollte.

Seitdem aber Lene Carstensen das Zeitliche gesegnet hatte, war ein wütender Erbstreit zwischen den beiden Brüdern ausgebrochen. Bereits auf der Beerdigung hatte es heftige Auseinandersetzungen bezüglich des Hofes gegeben.

Kalli Carstensen, ein angesehener und finanziell gut gestellter Landwirt, hatte sich für die Veräußerung des Familienerbes ausgesprochen, das neben dem Hof auch noch etlichen Landbesitz umfasste. Friedhelm hingegen sträubte sich vehement dagegen, sein Elternhaus zu verkaufen. Seiner Ansicht nach ging es seinem profitgeilen Bruder, wie er ihn stets bezeichnete, lediglich ums Geld und nicht darum, den Familienbesitz und die Tradition weiterzuführen. Sicherlich hatte er damit nicht ganz unrecht, schließlich waren der Hof und Landbesitz der Familie Carstensen einiges wert, aber auch Irmtraud fragte sich immer öfter, welche Tradition ihr Mann fortführen wollte und was sie eigentlich alle von einem verfallenden Hof hatten.

Friedhelm Carstensen hatte sich doch schon bei der Wahl seines Berufes der Familientradition entgegengestellt. Anders als sein Bruder, der wie sein Vater und Großvater Landwirt war, hatte Friedhelm eine Ausbildung zum Bäcker gemacht. Da er nie besonders ehrgeizig oder fleißig gewesen war, hatte er es auch nicht so weit wie sein Bruder gebracht. Noch heute war er Angestellter, stand jeden Morgen um drei Uhr auf und jammerte regelmäßig zum Monatsende über den Hungerlohn, den sein Chef ihm zahlte. Allein deswegen verstand Irmtraud nicht, warum ihr Mann den Hof nicht verkaufen wollte. Mit dem Geld wären sie schlagartig all ihre finanziellen Sorgen los und könnten sogar die Hypothek des eigenen Hauses abbezahlen.

»Aber was soll denn aus dem Hof werden? Es ist doch schade, wenn der Besitz nach und nach verfällt«, versuchte sie vorsichtig, das heikle Thema nochmals aufzugreifen. »Wir könnten das Geld doch wirklich dringend gebrauchen.«

Friedhelm Carstensen blickte abrupt von der Zeitung auf. In seinen Augen blitzte es.

»Geld, Geld, Geld. Du bist doch keinen Deut besser als Kalli. Ich reiße mir den Arsch für dich auf. Schufte wie ein Irrer, damit ich dir das hier alles bieten kann. All den Plunder.« Er breitete seine Arme aus und deutete aufs Inventar, das sich in der kleinen Küche befand.

»Und was ist der Dank? Immer mehr und mehr willst du. Wie Blutsauger seid ihr.«

Er stand auf und riss ihr den Brief aus der Hand.

»Aber ich verkaufe nicht. Das ist mein letztes Wort. Basta!«

Tom und Marlene saßen am Frühstückstisch, als ihr Freund Haie plötzlich die Küche betrat. Sie wussten sofort, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein musste. Das lag zum einen an der Uhrzeit, denn für gewöhnlich arbeitete der Freund um diese Tageszeit schon seit Stunden; zum anderen konnten sie das seinen hektischen Bewegungen und den geröteten Wangen entnehmen.

»Mensch Haie, was ist denn los?«, fragte Tom deshalb auch ohne Umschweife.

»Kalli ist tot! Die haben ihn hinten im Maisfeld gefunden. Mit dem Feldhäcksler. Ich kann’s gar nicht glauben.«

»Komm, setz dich erst mal.« Marlene war aufgestanden und fasste Haie am Arm. Der ließ sich bereitwillig von ihr auf einen der Küchenstühle bugsieren und einen frisch gekochten Tee eingießen. Eilig griff er nach der Tasse, als ob er etwas zum Festhalten suchte, und schüttelte dabei immer wieder den Kopf.

Tom und Marlene warteten geduldig, bis er den ersten Schluck getrunken hatte.

»Ich kann das gar nicht fassen. Der Kalli ist tot. Und gleich bei mir hinterm Haus.«

»Wer ist denn dieser Kalli?«, fragte Marlene.

Haie blickte die beiden zunächst verständnislos an, dann aber schien ihm bewusst zu werden, dass die Freunde ja gar keine Ahnung davon hatten, was an diesem Morgen passiert war und wen Ingwer Feddersen mit dem Maisgebiss seines Häckslers buchstäblich aufgegabelt hatte.

»Also der Kalli, das ist ein alter Schulfreund von mir. Nach dem Abschluss hatten wir zwar nicht allzu viel Kontakt. Wie das halt so ist«, versuchte Haie, den Umstand zu erklären, dass er gegenüber den beiden noch nie ein Wort über den angeblichen Freund verloren hatte. »Aber wir haben uns hin und wieder bei Max getroffen und über die alten Zeiten geplaudert. Was er jetzt so macht, hm gemacht hat«, verbesserte er sich, »weiß ich eigentlich nicht so genau. Auf jeden Fall hat er im Maisfeld gelegen. Vermutlich tot. So genau kann man das wohl noch nicht sagen. Der Ingwer hat jedenfalls einen Mordsschrecken bekommen.«

»War denn die Polizei schon da?«

Haie nickte. Deshalb sei er überhaupt aufmerksam geworden. Als er sein Fahrrad aus dem Schuppen holen wollte, hatte er das Blaulicht gesehen.

»Kommissar Thamsen führt wohl die Ermittlungen. Hab ihn jedenfalls gesehen. Aber die lassen einen da ja nicht so dicht rankommen. War alles abgesperrt.«

Die beiden nickten. Sie kannten den Kommissar ziemlich gut. Vor etwas mehr als zwei Jahren – im Frühjahr 1997 – war Marlenes Freundin Heike tot in der Lecker Au gefunden worden, und Thamsen hatte damals in dem Fall ermittelt. Sie dachten nicht gerne daran. Marlene schmerzte der Verlust immer noch sehr. Allerdings hatten sie in Hauptkommissar Thamsen eine Art Freund gefunden, wenn man in solch einem Fall überhaupt von Freundschaft sprechen konnte. Immerhin hatte er nur seine Arbeit getan. Dennoch war Marlene ihm bis heute dankbar, dass er letztendlich den Mörder ihrer Freundin hinter Gitter gebracht hatte.

»Was meinst du, wer Kalli umgebracht haben könnte?«

Haie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. So gut kannten wir uns leider nicht mehr. Man hat sich eben doch nach der Schulzeit zu sehr aus den Augen verloren. Vielleicht hatte er Feinde oder Neider? Schließlich war er nicht arm. Sein Hof läuft gut, soviel ich weiß.«

»Wo liegt denn dieser Hof?«

»Im Herrenkoog. Riesiges Gehöft und jede Menge Land. Und geerbt hatte er jetzt auch noch.«

»Geerbt? Vielleicht hat es damit etwas zu tun?«

Das konnte Haie sich jedoch nicht vorstellen.

»Da gibt’s nur noch den Bruder. Friedhelm. Der war mit seinem Erbteil wahrscheinlich mehr als zufrieden. Ist eher so’n Bescheidener. War er schon immer.«

»Aber ich glaube kaum, dass da draußen jemand rumläuft und grundlos irgendwelche Leute umbringt«, äußerte Marlene ihre Sicht der Dinge.

»Also grundlos passiert hier in der Gegend garantiert nichts«, stimmte Haie ihr zu.

Sie waren schon eine Weile befreundet, hatten eine Menge zusammen erlebt. Kennengelernt hatten sie sich, als Tom wegen seines nun verstorbenen Onkels zurück nach Risum-Lindholm gekommen war. Allein das war eine lange Geschichte. Toms Onkel war viele Jahre für den Mörder eines kleinen Mädchens gehalten worden. Zwar wurde er damals aus Mangel an Beweisen freigesprochen, aber im Dorf waren alle fest davon überzeugt gewesen, dass er das Mädchen umgebracht hatte. Bis Tom nach dessen Tod den Fall mit Haies Hilfe neu aufrollte und die Wahrheit ans Licht brachte.

Leider waren damals auch weniger erfreuliche Dinge zutage befördert worden. So lebte Haie seit dieser Zeit getrennt von seiner Frau Elke. Die Trennung und die ersten Monate danach waren ihm sehr schwergefallen. Er hatte sich zurückgezogen, eingeigelt, in Selbstmitleid gesuhlt. Tom und Marlene waren zunächst etwas ratlos gewesen. So hatten sie den Freund noch nie erlebt. Ihnen war klar geworden, dass sie Haie aus der Krise herausholen und ihm helfen mussten, sein Leben Stück für Stück wieder auf die Reihe zu bekommen. Eine neue Wohnung hatten sie mit ihm gesucht, renoviert, Möbel gekauft und ihn vom Trübsalblasen abgehalten. Wer weiß, wenn die beiden nicht so hartnäckig gewesen wären, er wüsste nicht, wo er heute stünde.

Der Mord an Marlenes Freundin hatte die Welt der drei Freunde dann wenig später erneut auf den Kopf gestellt. Trotz oder vor allem wegen des traurigen Umstandes war die Freundschaft noch enger geworden. Die Trauer, Wut und Hilflosigkeit – die gemeinsame Suche nach dem Mörder hatte sie förmlich zusammengeschweißt. Es gab so viele gemeinsame Erlebnisse, die den dreien immer wieder bewusst machten, dass es etwas gab, das sie verband. Und auch wenn keiner von ihnen es in Worte hätte fassen können, so war es dennoch da und machte das Verhältnis zwischen ihnen zu etwas Besonderem.

Daher war es für Haie auch nur selbstverständlich gewesen, zu Tom und Marlene zu fahren, als er von dem Tod des Schulfreundes erfahren hatte.

»Möchte nur wissen, wer Kalli das angetan hat. Und warum? Vielleicht können wir uns später zusammen ein wenig umhören …?«

Tom und Marlene nickten.

Dirk Thamsen stemmte die Hände in seine Hüften und betrachtete eingehend die spitzen Metallzähne des Feldhäckslers, die von den Landwirten landläufig auch ›Maisgebiss‹ genannt wurden. Kein Wunder, dachte er, dass Dr. Nolte nicht feststellen konnte, was die genaue Todesursache war. Die männliche Leiche, die sie am Vormittag in dem Maisfeld gefunden hatten, war durch die scharfen Metallmesser des Häckslers böse zugerichtet. Nur dass der Mann wahrscheinlich schon tot gewesen war, als das Erntegerät ihn erfasst hatte, stand so gut wie fest. Die weiterführenden Untersuchungen hatte der Arzt jedoch lieber den Kieler Gerichtsmedizinern überlassen wollen.

»Die haben dort ganz andere Möglichkeiten«, hatte er erklärt, als die Leiche vom Bestattungsunternehmen zur Überführung in die Landeshauptstadt abgeholt wurde.

Thamsen ließ seinen Blick über das Maisfeld schweifen. Es war ungefähr zur Hälfte abgeerntet. Die Kollegen von der Spurensicherung durchkämmten gerade den bereits gemähten Teil des Feldes. Bisher hatten sie jedoch noch keinerlei Hinweise gefunden, die Spekulationen auf einen möglichen Tathergang zuließen.

Wer hatte Kalli Carstensen ermordet und seine Leiche in diesem Maisfeld versteckt? War es überhaupt ein Mord gewesen? Da sie noch keine Erkenntnisse über die Todesursache des Opfers hatten, musste er weitere Möglichkeiten in Betracht ziehen. Vielleicht handelte es sich um einen Unfall, oder Kalli Carstensen war eines natürlichen Todes gestorben. Was aber hatte er hier gewollt? Wer kämpfte sich durch ein mannshohes Maisfeld? Einen Spaziergang hatte er wohl kaum durch das dichte Geflecht dieser Maisstauden gemacht. Und da das Feld auch nicht zum Besitz des toten Landwirts zählte, konnte man einen Kontrollgang ebenfalls ausschließen.

Dirk Thamsen kratzte sich am linken Ohr. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als die Ergebnisse aus Kiel abzuwarten, solange sie keine anderen Hinweise hatten. Er blickte auf seine Uhr und stöhnte. Es war bereits kurz nach zwölf Uhr. Eigentlich musste er Anne von der Schule abholen, doch der Besuch der Angehörigen und die unangenehme Aufgabe, die Nachricht vom Tod des Familienmitgliedes zu überbringen, standen noch aus.

Das Aufsuchen der Familienangehhörigen fiel ihm immer besonders schwer. Er fand einfach nie die passenden Worte. Und dann die Fragen: Wie konnte das geschehen? Wer tut nur so etwas? Werden Sie den Mörder finden? In einem Fall wie diesem hatte er nicht einmal eine Antwort parat. Nur zu gerne hätte er den Kollegen Schulze zu den Hinterbliebenen geschickt. Dieser konnte sich besser einfühlen, trösten und den Betroffenen aufrichtig beistehen. Thamsen war, was dies betraf, nicht so gewandt. Es bereitete ihm Schwierigkeiten, mit der Trauer und Wut – überhaupt mit den Gefühlen anderer – umzugehen. Deshalb versuchte er meist, seine Mitteilungen über den Tod eines Familienmitgliedes nüchtern und sachlich zu halten, und wirkte dadurch oft gefühllos und grob. Obwohl das eigentlich überhaupt nicht seinem Naturell entsprach; er konnte Empfindungen nur schlecht artikulieren und fühlte sich daher in derartigen Situationen schlichtweg überfordert. Unglücklicherweise hatte der Kollege sich jedoch heute Morgen krankgemeldet und so blieb Thamsen nichts anderes übrig, als die traurige Nachricht selbst zu überbringen.

Er holte sein Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer seiner Exfrau. Seit der Scheidung lebten die Kinder zwar bei ihm, aber hin und wieder kümmerte sich Iris auch um Anne und Timo.

»Ja ich bin’s«, meldete er sich, nachdem sie das Gespräch angenommen hatte. »Könntest du Anne von der Schule abholen? Wir haben hier einen Leichenfund, und ich kann nicht weg.«

»Aber selbstverständlich. Wie geht es dir?« Ihre Stimme klang mitfühlend.

»Gut«, antwortete er kurz angebunden. Er war ihr Interesse an seiner Person nicht gewohnt und wunderte sich darüber. Als sie noch ein Paar gewesen waren, hatte sein Befinden sie so gut wie nie interessiert. Er wusste nicht, wie er mit ihrer plötzlichen Anteilnahme umgehen sollte. Schnell sagte er: »Dann hole ich Anne später bei dir ab«, und legte auf.

Er warf einen letzten Blick auf den Feldhäcksler, ehe er sich von den Kollegen der Spurensicherung verabschiedete und anschließend zum Auto lief. In Gedanken stand er bereits vor der Tür der Familie und hörte das schrille Läuten der Türglocke.

Kalli Carstensens Hof lag nicht sonderlich weit entfernt. Thamsen fuhr den schmalen Weg zur Dorfstraße hinunter und bog dann links in die Richtung der ›Dänischen Schule‹ ab. Er hielt sich vorschriftsmäßig an die Geschwindigkeitsbegrenzung wenige Meter vor und hinter der Schule. Eile war nicht geboten. Noch hatte er die passenden Sätze nicht parat.

An der Gastwirtschaft bog er rechts ab und fuhr in den Herrenkoog hinaus. Nur einen kurzen Moment später schob sich der Hof in sein Blickfeld.

Eine Türglocke gab es nicht. Thamsen klopfte mit der Faust gegen das Glas der kleinen Butzenfenster, die ein durchsichtiges Quadrat in der massiven Holztür bildeten. Ein Hund bellte, dann hörte er Schritte.

»Moin«, grüßte er den hochgewachsenen, jungen Mann, der die Tür geöffnet hatte und ihn fragend anblickte, während er krampfhaft versuchte, den bellenden Schäferhund ins Haus zurückzudrängen. Thamsen schätzte ihn auf Ende 30. Vermutlich der Sohn des Opfers, schoss es ihm durch den Kopf, und er fragte deshalb wie selbstverständlich: »Ist Ihre Mutter zu Hause? Ich müsste sie dringend sprechen.«

Der mannshohe Kerl schüttelte seinen Kopf. »Sie hat sich gerade hingelegt. Es geht ihr nicht besonders. Was wollen Sie denn von ihr?«

Eigentlich hätte Thamsen auch zunächst mit dem Sohn sprechen können, doch aus unerfindlichen Gründen lehnte er das ab. Außerdem war Frau Carstensen, wenn sie denn bereits geschlafen hatte, sicherlich von dem lauten Hundegebell aufgewacht.

»Ich müsste sie persönlich sprechen. Wenn Sie Ihrer Mutter also bitte Bescheid geben wollen?« Er verlieh seiner Forderung Nachdruck, indem er mit seinem Polizeiausweis vor den Augen seines Gegenübers herumwedelte.

»Einen Moment bitte.«

Eilig schloss der Mann die Haustür und ließ Thamsen vor dem Eingang stehen.

Wenig später wurde die Tür erneut geöffnet. Eine kleine, schmächtige Frau in Rollkragenpullover und Jeans erschien im Türrahmen. Ihre schmalen Augen musterten ihn.

»Frau Carstensen?«

Sie nickte zögernd.

»Darf ich vielleicht reinkommen?«

Ohne ein Wort zu sagen, trat sie zur Seite und gewährte ihm Einlass in den schmalen Hausflur, in dem eine winzige Deckenleuchte mehr Schatten als Licht verbreitete. Thamsen benötigte einen kurzen Moment, bis seine Augen sich an die düstere Umgebung gewöhnt hatten. Dann folgte er der Frau, deren Gang mühsam wirkte, ins Wohnzimmer.

Etwas unschlüssig stand er in dem Raum, in welchem die Lichtverhältnisse wenig besser waren als im schmalen Hausflur. Frau Carstensen ließ sich leicht stöhnend auf ein abgewetztes Cordsofa nieder, ihr Sohn stand neben einem klobigen Ohrensessel mit Blumenmuster und blickte ihn feindselig an. Erst jetzt fielen Thamsen der Gipsarm und die Schürfwunden im Gesicht der Frau auf.

»Oh, haben Sie sich verletzt?«

»Meine Mutter ist mit dem Fahrrad gestürzt«, antwortete der Sohn, noch ehe sie überhaupt auf die Frage reagieren konnte.

Thamsen überging die schnelle Antwort, obwohl ihm die Sache merkwürdig erschien, und konzentrierte sich auf den eigentlichen Grund seines Besuchs. Er wollte die Angelegenheit endlich hinter sich bringen.

»Ja, also Frau Carstensen. Ich muss Ihnen mitteilen, dass wir Ihren Mann heute Vormittag tot in einem Maisfeld des Landwirts Ingwer Feddersen aufgefunden haben.«

Er räusperte sich. »Es tut mir leid.«

Sophie Carstensen starrte ihn wortlos an, und auch der Sohn schwieg. Thamsen, dem die Situation ohnehin schon mehr als unangenehm war, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Vergeblich wartete er einige Minuten auf eine Reaktion der beiden, als diese jedoch ausblieb, begann er, routinemäßig einige Fragen zu stellen.

»Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen? Welche Kleidung hat er zu dem Zeitpunkt getragen? Wohin wollte er? Hatte er Feinde?«

Langsam kehrte Leben in Sophie Carstensens versteinerte Miene zurück. Um ihre Mundwinkel begann es zu zucken, ihre Augen huschten nervös hin und her.

»Ich, ich, am Dienstag habe ich Kalli zuletzt gesehen. Er wollte wie immer …«, ihre Stimme versagte plötzlich.

»Am Dienstag geht mein Vater immer zum Stammtisch«, erklärte der Sohn, auf dessen Gesicht sich nach wie vor keinerlei emotionale Regung abzeichnete. Thamsen war erstaunt. Die Nachricht vom Tod des eigenen Vaters machte einen doch betroffen, schmerzte, ließ die Welt um einen herum zusammenbrechen – was auch immer –, aber weder in der Stimme des jungen Mannes noch in seinem Blick war hiervon auch nur ansatzweise etwas zu erkennen.

»Und seitdem haben Sie Ihren Vater nicht gesehen?«

»Nein.«

Gut, überlegte Thamsen, der Sohn wohnt vielleicht nicht mehr daheim, aber der Frau muss doch etwas aufgefallen sein. Man macht sich doch Sorgen, wenn der Mann nicht nach Hause kommt.

»Und Sie, Frau Carstensen? Haben Sie sich denn nicht gefragt, wo Ihr Mann stecken könnte? Immerhin ist heute schon Donnerstag.«

Die schmale Frau saß mit hängenden Schultern auf dem Sofa und schüttelte ihren Kopf. Sie schien die ganze Situation noch nicht so recht begreifen zu können, und wieder war es der Sohn, der seiner Mutter zu Hilfe kam.

»Mein Vater blieb öfter ein, zwei Tage weg oder übernachtete im Anbau. Morgens ist er dann häufig schon früh auf die Felder. Meine Mutter hat ihn manchmal tagelang nicht gesehen. Wieso sollte ihr also jetzt etwas aufgefallen sein?«

»Und gemeldet hat er sich auch nie?«

»Mein Vater besaß kein Handy.«

Thamsen entging die vom Sohn bereits angewandte Vergangenheitsform nicht.

»Und nach ein, zwei Tagen ist Ihr Vater dann immer wieder aufgetaucht.«

»Ja.«

»Wissen Sie vielleicht, ob Ihr Vater Feinde gehabt hat? Gab es Streitigkeiten? Irgendjemanden, der nicht gut auf ihn zu sprechen war?«

»Jede Menge!«

Plötzlich fuhr Sophie Carstensen dazwischen.

»Das stimmt nicht, Ulf. Niemand wollte deinem Vater etwas antun. Er ist … war ein guter Mensch, auch wenn er es nicht immer zeigen konnte.«

»Pah, das redest du dir doch nur ein. Ein mieser Lump ist er gewesen. Mach dir doch nichts vor.«

»Ulf, du sprichst von deinem Vater. Pass auf, was du sagst.«

Thamsen beobachtete mehr als erstaunt den Schlagabtausch zwischen Mutter und Sohn. So etwas hatte er noch nie erlebt. Er überbrachte die schreckliche Nachricht vom Tod des Ehemannes und Vaters, und statt der erwarteten Trauer empfing ihn hier ein anscheinend lang gehegter Familienhass und -streit.

»Frau Carstensen, Herr Carstensen«, versuchte er zu schlichten, »beruhigen Sie sich bitte.« Doch die Gemüter der beiden waren derart erhitzt, dass sie seine Stimme gar nicht wahrnahmen.

»Jeden hat er übers Ohr gehauen. Und dich hat er auch nur verarscht!«

»Das stimmt doch gar nicht! So anständig, wie dein Vater ist – da kannst du dir eine Scheibe von abschneiden.«

»Anständig, hä? Und was hat er mit dir all die Jahre gemacht?«

»Halt den Mund!«

Frau Carstensen war aufgesprungen und blitzte den Sohn böse an. Thamsen verfolgte nun interessiert das Wortgefecht zwischen den beiden. Die Auseinandersetzung war für seine weiteren Ermittlungen durchaus aufschlussreich.

Ein Mensch war gestorben, wahrscheinlich sogar ermordet worden, und die Hinterbliebenen gingen sich gegenseitig beinahe an die Gurgel. Was war hier los? Saß der Hass so tief, war die Wut unbändig?

Doch so plötzlich wie der Streit zwischen den beiden ausgebrochen war, so abrupt endete er auch. Sophie Carstensen und ihr Sohn schwiegen plötzlich, ein weiteres Gespräch schien in dieser Umgebung nicht möglich. Daher beschloss Thamsen, dass es das Beste war, Ulf Carstensen für eine weitere Befragung mit auf die Dienststelle zu nehmen. Von ihm erhoffte er sich weitaus relevantere Informationen als von der Witwe. Diesen Umstand behielt er jedoch wohlweißlich für sich.

»Mit Ihnen, Frau Carstensen, spreche ich dann morgen«, erklärte er lediglich, ehe er sich umdrehte und mit Ulf Carstensen im Schlepptau das Wohnzimmer verließ.

Das rot-weiße Absperrband flatterte unruhig vom Wind getrieben hin und her. Tom, Marlene und Haie standen am Rand des Maisfeldes und blickten schweigend auf den Feldhäcksler, der selbst aus dieser Entfernung wie ein riesiges Monstrum wirkte.

»Möchte gar nicht wissen, wie Kalli wohl ausgesehen hat, als Ingwer ihn zwischen den Metallzähnen gefunden hat. Bestimmt kein schöner Anblick«, äußerte Haie nach einer Weile laut seine Gedanken.

Marlene verzog angewidert das Gesicht bei der Vorstellung an den verstümmelten Leichnam.

»War er denn noch ganz?«, fragte Tom.

»Keine Ahnung, kann ich mir aber schwer vorstellen. Weißt du, wie scharf die Metallklingen sind? Da macht das ›ssst‹, und ab ist das Bein.«

»Haie«, versuchte Marlene, die makaberen Ausführungen zu unterbrechen. Sie hatte keinerlei Verständnis für die nüchternen Spekulationen der Männer. Wie konnten sie hier stehen, wo vor wenigen Stunden die Leiche von Haies Schulfreund entdeckt worden war, und den Grad der Verstümmelung erörtern?

»Was denn?« Haie drehte sich um. »Durch den Häcksler kann die Polizei wahrscheinlich nur schwer feststellen, was denn nun die wirkliche Todesursache war. Das verdammte Ding hat die ganze Angelegenheit deutlich komplizierter gemacht.«

»Ach«, wertete Tom den Umstand des entstellten Leichnams leichthin ab, »die Medizin und Polizei haben heute mehr Möglichkeiten, als wir uns vorstellen können. Selbst aus den kleinsten Hinweisen leiten die heutzutage mehr ab, als man sich denken kann.«

»Ja, aber manchmal übersehen die auch was«, konterte Haie und hob das flatternde Plastikband hoch. Er bückte sich und kroch unter der Absperrung hindurch. Tom und Marlene blickten sich kurz an, ehe sie dem Freund zögernd folgten.

Aus der Nähe betrachtet, wirkte die große Erntemaschine noch bedrohlicher. Haie untersuchte eingehend die Metallzähne des Mähvorsatzes.

»Hier ist Blut. Das bedeutet doch, dass Kalli noch nicht lange tot gewesen sein kann, oder?«

»Keine Ahnung. So gut kenne ich mich nicht aus«, antwortete Tom und drehte sich zu Marlene um, die nicht nachgekommen war. Sie tat, als suche sie den Boden nach irgendwelchen Spuren ab.

»Vielleicht hätten wir sie daheim lassen sollen«, bemerkte Haie, »das Ganze wühlt doch einiges in ihr auf.«

Tom nickte. Ein Mord hatte immer etwas Unheimliches an sich, besonders wenn der Mörder noch frei herumlief. Marlene hatte sich jedoch seit der Ermordung ihrer Freundin verändert. Das war nur zu verständlich. So ein Einschnitt im Leben ging nicht spurlos an einem vorüber, an niemandem. Dennoch hatte er das Gefühl, dass durch Heikes Tod auch ein Stück von Marlene verschwunden war. Nicht, dass er sie deshalb weniger liebte, das auf keinen Fall. Aber ihre einst so unbekümmerte Art, ihr ansteckendes Lachen und ihre strahlende Freude kamen seitdem äußerst selten zum Vorschein. Sie war stiller geworden, hatte sich ein wenig zurückgezogen. Er hatte gedacht, dass sich das mit der Zeit legen würde, und manchmal hatte er auch das Gefühl, sie sei endlich wieder die Marlene, die er vor etwas mehr als vier Jahren kennengelernt hatte. Aber Vorfälle wie dieser schienen ihre langsam wieder aufkeimende Unbeschwertheit erneut zu ersticken.

»Was hast du da?« Sie kniete am Boden und hielt ein Stück Papier in den Händen.

»Ich glaube, das ist nichts.« Sie reichte ihm den Papierschnipsel. Undeutlich konnte man darauf einige Wortfetzen entziffern.

»Sieht aus, wie ein Stück von einem Brief.«

»Ja, das hier könnte ›Lieber‹, ›Liebe‹ oder so etwas Ähnliches heißen.« Sie war aufgestanden und deutete mit dem Finger auf die verschwommene Schrift.

»Gibt es noch mehr Schnipsel?« Tom kniete sich nieder und suchte den Boden ab.

»Nein, ich hab auch schon geschaut. Wahrscheinlich ist das auch nur Müll, ist immerhin zerrissen.«

»Aber lange kann es dennoch nicht hier gelegen haben. Sonst könnte man vermutlich gar nichts mehr entziffern.« Er stand auf und steckte das Papierstück in seine Hosentasche.

»Kommt, lasst uns mal sehen, was bei Max so los ist. Die Gerüchteküche brodelt doch unter Garantie schon. Woll’n hören, was der Dorfklatsch über den Fall so hergibt.«

Friesenrache

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