Читать книгу Patrickson - Sandra M. Busch - Страница 8
28. Februar
ОглавлениеSophie war in ihrem alten VW Bulli unterwegs, um ihre sechsjährige Tochter Marie vom Tanzunterricht abzuholen. Sie fuhr den Nordring ihrer eher kleinen Stadt im Osten Westfalens entlang. Als Kind war sie mit ihren Eltern in diese Gegend gezogen und sie hatte sich hier von Jahr zu Jahr heimischer gefühlt. Schließlich bot ihr die überschaubare Stadt alles, was Sophie und ihre Familie zum Leben brauchten. Eine Freundin hatte mal zu ihr gesagt: „Was es in Bünde nicht gibt, das braucht man auch nicht.“
In Gedanken war Sophie jedoch bei ihrer Arbeit. Sie versuchte eine Lösung für eine aussichtslos erscheinende Gerichtsverhandlung zu finden, als ein großer, blauer Transporter die Gegenfahrbahn verließ und geradewegs auf sie zusteuerte.
Sophie schrie auf, lenkte den Wagen, soweit es möglich war, auf die rechte Seite und kam auf dem Bürgersteig zum Stehen. Erleichtert stellte sie fest, dass sie die Hauswand des Gebäudes neben ihr verfehlt hatte, als sie ein dumpfer Schlag nach vorne schleuderte.
Der Transporter hatte die linke Seite ihres Fahrzeuges gerammt.
Leicht benommen stieg sie aus und sah, dass der Kotflügel tief eingedrückt und der linke Seitenspiegel weggerissen worden war. Vom Transporter fehlte jedoch jede Spur. Er musste bereits hinter der nächsten Ecke verschwunden sein.
Leichte Panik breitete sich in ihr aus. Wer würde jetzt für den Unfall aufkommen? Fassungslos betrachtete sie ein weiteres Mal ihr Fahrzeug und suchte nach ihrem Handy, um die Polizei zu informieren.
Plötzlich ertönte ein lautes Hupen. Ein Mann in einem Ford hatte sein Fahrzeug auf der Straße angehalten und drückte unaufhörlich die Hupe. Ihm passte wohl nicht, dass Sophies Auto einen Teil der Straße blockierte.
Jetzt hatte Sophie genug. Konnte dieser Mann nicht erkennen, dass ein Unfall stattgefunden hatte? Wenn sie eines vor Gericht gelernt hatte, dann sich nicht von Fremden einschüchtern zu lassen. Sie war wild entschlossen, dem Fahrer gehörig die Meinung zu sagen, und rief ihm entrüstet zu: „Nehmen Sie endlich Ihre verdammte Hand von der Hupe, sonst lernen Sie mich kennen.“
Die Tür des Fahrzeuges öffnete sich. Heraus kam ein dunkelblonder Mann um die vierzig. Er sagte kein Wort, sondern schritt langsam auf sie zu. Fassungslos starrte Sophie ihm in die Augen, als sie erkannte, dass etwas nicht stimmte.
Diese Augen waren regungslos, vom blanken Wahnsinn getrieben. Sie waren von roten Adern durchzogen und die Pupillen schienen stark geweitet.
Sie bewegte sich rückwärts, Schritt für Schritt auf ihren Bulli zu. Jetzt bloß keine falsche oder zu hastige Bewegung machen. Sie öffnete die quietschende Fahrertür ihres alten VWs und knallte sie hinter sich zu. Hastig nahm sie den Schlüssel und versuchte die Tür von innen zu schließen, als der Mann diese aufriss und seine Hand ihren Oberarm zu fassen bekam.
Vor Schreck ließ sie den Schlüssel in den Fußraum fallen und wurde halb aus der Tür gezerrt. Verzweifelt stemmte sie sich mit der linken Hand gegen den Türrahmen, was dazu führte, dass der Mann noch stärker an ihr zog. Das Adrenalin schoss ihr in die Adern, doch es gelang ihr nicht, sich aus seinem Griff zu befreien.
Nach einigen verzweifelten Versuchen bekam sie mit der rechten Hand den Schlüssel zu fassen und schaffte es endlich, ihn in das Zündschloss zu stecken. Der Motor heulte auf und Sophie drückte das Gaspedal.
Der Wagen schoss nach vorn. Erst nach einigen Metern merkte sie, wie sich der Griff des Mannes ruckartig löste. Sie sah im Rückspiegel, wie sich sein Körper über den Asphalt drehte.
Sophie atmete auf. Nach einigen hundert Metern brachte sie ihren Wagen erneut zum Stehen und wählte den Notruf. In dieser Entfernung fühlte sie sich etwas sicherer.
Kurz darauf saß Sophie auf der örtlichen Polizeiwache. Nachdem sie vom Auto aus die Polizei und den Krankenwagen informiert hatte, den Vorfall zu prüfen und die Unfallstelle zu kontrollieren, war sie aufgefordert worden, unverzüglich zur Polizeistation zu kommen, um ihre Aussage zu Protokoll zu bringen.
Mehr als eine halbe Stunde lang hatte sie dem jungen Polizeibeamten die Vorkommnisse genau geschildert. Ungläubig hatte er jedes Detail ihrer Schilderungen zu Papier gebracht. Dann flog die Tür auf. Ein älterer Beamter mit Schnauzbart forderte sie auf, zu einer Blutprobe mitzukommen.
„Wir haben Ihre Schilderungen geprüft. An der angeblichen Unfallstelle ließen sich weder ein Ford noch ein verletzter Mann mittleren Alters auffinden.“
Sophie war sprachlos. Sie hatte sich den Vorfall doch nicht eingeredet. Sie wollte sich auf diese Weise nicht abwimmeln lassen und bat die Beamten, im Krankenhaus anzurufen. Irgendjemand musste seine Verletzungen doch behandelt haben. Kopfschüttelnd wählte der Schnauzbärtige die Nummer des Krankenhauses.
Etwas später legte er auf und blickte sie strafend an. „Ihre Personenbeschreibung trifft auf niemanden zu, der in den letzten Stunden behandelt wurde.“
Als Sophie spät nach Hause kam, saß ihr Mann wie üblich auf dem Sofa und tippte auf seinem Laptop. Sie hatte ihn bereits von der Polizeiwache aus angerufen und gebeten, früher nach Hause zu kommen, um Marie abzuholen und den Kindern Abendbrot zu machen. Über den Unfall hatte sie ihm vorsichtshalber nur ohne den Angriff und die verwirrenden Einzelheiten erzählt. Leo hatte in der Regel kein Verständnis für Gefühlschaos.
„Na, hast du dein Auto geschrottet?“, fragte er mit einem wenig freundlichen Lächeln auf dem Gesicht.
Sophie versuchte ihre Tränen zu unterdrücken. Wie sehr brauchte sie jetzt starke Arme, die sie auffingen, und eine Stimme, die ihr sagte: „Es wird alles gut.“
Doch sie wusste, dass sie diese Art der Zuwendung von ihrem Ehemann nicht mehr bekommen würde. Aus irgendeinem Grund war er im Laufe ihrer Ehe immer distanzierter und abweisender geworden. Sie antwortete daher nur: „Ja, hab wohl nicht richtig aufgepasst. Danke, dass du früher nach Hause gekommen bist und Marie für mich abgeholt hast.“
Sie setzte sich neben ihn. Vielleicht würde er sie ja doch noch in den Arm nehmen, trösten oder etwas aufbauen. Er musste doch sehen, wie mitgenommen sie war.
Doch er schwieg.
Seit Jahren war dieses Verhalten seine Strategie, allen Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen. Nur zu gern hätte sie ihre Gedanken mit jemandem geteilt. Doch persönliche Themen waren nicht mehr das, worüber man mit Leo sprechen konnte.
Sophie blieb einige Minuten neben ihm sitzen, doch er schaute sie nicht einmal an. Schließlich erhob sie sich und ging die Treppe nach oben, um nach den Kindern zu sehen. Diese lagen bereits in ihren Betten und schienen zu schlafen.
Danach holte sie sich ein Glas Wein aus der Küche und versuchte, den Tag zu vergessen.