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05. März

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Sophie hatte einige Tage gebraucht, um die Ereignisse auf der Straße zu verarbeiten.

Sie hatte ihr Auto in die Werkstatt gebracht und sich eingeredet, dass der Schock des Unfalls ihr Bewusstsein getrübt hatte. Anders war das Ganze schließlich nicht zu erklären.

Als der Wecker klingelte, hatte sie das Gefühl, kaum geschlafen zu haben. Schlaftrunken setzte sie sich auf. Ihr Ehemann Leo lag neben ihr und schnarchte weiter laut vor sich hin.

Sie schleppte sich ins Bad und ließ die heiße Dusche an. Langsam kehrte Leben in ihren Körper zurück. Danach ging sie von Kinderzimmer zu Kinderzimmer und weckte ihre vier Kinder.

Die dreijährige Mia hatte wie ihre Mutter blonde Haare. Sie war ein lebensfrohes Kind, dem auszuschlafen viel zu langweilig erschien. Daher war Mia, wie immer wenn Sophie nach oben ging, bereits wach. Ihre großen blauen Augen leuchteten und sie begrüßte ihre Mutter freudestrahlend:

„Da bist du ja endlich, ich hab schon darauf gewartet, dass du mich wecken kommst.“ Der kleine Sonnenschein half ihr oft dabei, den Alltag etwas zu versüßen.

Ihren Töchtern Marie und Melanie gefiel die Idee aufzustehen nicht besonders. Beide gaben nur ein kurzes: „Gleich …“ von sich, um sich danach noch einmal umzudrehen.

Als Letztes weckte Sophie ihren Sohn Micha. Micha war 13, ein kluger Kopf, aber oft zerstreut. Immerzu hatte er neue Ideen und Experimente im Kopf, die er meist erfolgreich versuchte umzusetzen. Nebensächlichkeiten wie Hausaufgaben konnten da schon mal übersehen werden.

Micha wartete darauf, dass Sophie sich auf die Bettkante setzte, und legte dann, wie jeden Morgen, seinen Kopf auf ihren Schoß, um sich von Sophie streicheln zu lassen. Sophie betrachtete ihren Sohn und überlegte, wie viele Jahre dieses Ritual noch weitergehen würde. Spätestens wenn er seine erste Freundin hätte, würde er wohl leider darauf verzichten.

Heute schien er aber irgendwie abwesender zu sein als sonst und hielt sie fest, als sie wieder aufstehen wollte.

„Ist alles okay, Micha?“

Er nickte kurz. „Gibt es ein Problem in der Schule?“, hakte Sophie nach. Doch Micha wollte nicht über irgendwelche Probleme sprechen.

„Na los, dann raus aus dem Bett“, forderte sie ihn freundlich auf.

Sophie begab sich in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Dann holte sie die Zeitung aus dem Briefkasten und betrachtet die Titelseite. Doch was sie dort las, raubte ihr den Atem.

Neues Virus führt zu Gewaltausbrüchen

Südafrikanisches Virus auch in Deutschland festgestellt

Nach zahlreichen unerklärlichen Gewaltausbrüchen und Ermordungen ganzer Dörfer rund um Johannesburg ist es Forschern gelungen, den Ursprung der Vorkommnisse zu erschließen.

Ein neuartiges Virus führt zu dramatischen Persönlichkeitsveränderungen. Das Virus verursacht Entzündungen im Gehirn, so dass Erkrankte zunächst nur noch abstrakt kommunizieren und eigenes Verhalten schließlich nicht mehr kontrollieren können. In der Regel neigen diese zu gewalttätigem Verhalten.

Man geht davon aus, dass die Krankheit bei Menschen durch Stechmücken übertragen wird.

Das Virus wurde nach seinem schwedischen Entdecker Patrickson benannt.

Die Regierung kündigte bereits Einreisesperren und Quarantänen für alle Reiserückkehrer aus Afrika an. Kritiker befürchten jedoch, dass die Quarantänen viel zu spät kommen. In zahlreichen deutschen Städten konnte das Virus bereits nachgewiesen werden.

Sophie schnappte nach Luft, unfähig weiterzulesen. Ihre Gedanken kreisten. Zum einen konnte dieses eine Erklärung für den Angriff auf sie sein. Zum anderen befürchtet sie, dass dieses Virus wieder einmal zu einer Belastungsprobe werden könnte. Erst vor wenigen Jahren war die Bevölkerung von der Corona Pandemie gequält worden und es hatte Jahre gedauert, bis sich das Leben wieder normalisiert hatte. Aber vielleicht war die Medizin ja jetzt besser auf neue Viren vorbereitet.

Sophie hob die Zeitung und las weiter.

Wie genau sich das Virus entwickeln konnte, wird noch untersucht. Betroffen sind einige Säugetierarten. Bei vielen Tieren verläuft eine Infektion nach kurzer Zeit tödlich. Für eine Erstübertragung auf den Menschen könnte der Verzehr von infiziertem rohem Fleisch verantwortlich sein.

Sophie legte die Zeitung zur Seite. Kurz darauf öffnete sich die Tür des Schlafzimmers und ihr Ehemann schlurfte langsam an ihr vorbei Richtung Badezimmer.

Leo war stark übergewichtig, für sein Alter schon fortgeschritten ergraut und erschien auch an diesem Morgen mit sich und seinem Leben unzufrieden. Er schaute sie wie üblich nicht an, sondern brummte nur ein: „Morgen.“

Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass er keine Angst vor dem Virus zu haben brauchte, da es ja nicht möglich war, noch weniger zu kommunizieren. Stattdessen sagte sie zu ihm:

„In der Zeitung ist von einem neuartigen Virus und Einreisesperren die Rede.“

„Aha…“ war alles, was er dazu zu sagen hatte und er schloss die Badezimmertür hinter sich.

Sophie merkte, wie es ihr immer schwerer fiel, sich nicht von Leos Verschlossenheit herunterziehen zu lassen. Doch jeder Versuch, ihn zu konstruktiven Gesprächen zu motivieren, war in den letzten Jahren gescheitert.

„Mama, ich finde meinen Teddypullover nicht“, schallte es durch das Haus.

Sophie wusste, jetzt war keine Zeit, sich mit Viren oder ihrem Mann zu beschäftigen. Die beiden Großen mussten pünktlich in der Schule sein und sie musste Marie und Mia noch im Kindergarten abliefern, bevor sie um 8.15 Uhr der erste Klient im Anwaltsbüro erwartete. Sophie wusste, sie konnte auf Leos Hilfe nicht zählen, aber durfte nicht noch einmal zu spät kommen.

Glücklicherweise lief der Verkehr an diesem Morgen recht fließend und Marie und Mia verzichteten im Kindergarten auf ein ausgeprägtes Verabschiedungsritual.

Als Sophie schließlich um 8.14 Uhr die Kanzlei erreichte, erwartete sie dort ein fast aussichtsloser Fall. Herr Emsdorf, ein Mann um die fünfzig mit untersetzter Figur, wollte an das Erbe seines kürzlich verstorbenen Vaters. Er hatte diesen zwei Jahre lang gepflegt. Doch die Tatsache, dass er seinen Vater regelmäßig durch Gewaltanwendung gezwungen hatte, seine Medikamente zu nehmen, hatte dazu geführt, dass dieser ihn enterbt hatte. Jetzt ging es darum, den Vater während der Zeit der Testamentsänderung als unzurechnungsfähig zu deklarieren.

Sophie drehte sich der Magen um. Ihr widerstrebte der Gedanke, einem Mann zu einem Erbe zu verhelfen, welches er offensichtlich nicht verdient hatte. In ihren Augen wäre der Pflichtanteil mehr als genug gewesen. Aber diese Art der moralischen Zweifel durfte sie sich nicht anmerken lassen.

Geduldig ließ sie sich auf seine Schilderungen ein, um eine Lücke zu finden, ihm zu seinem Geld zu verhelfen.

In der Mittagspause wollte sie dann kurz nach Hause fahren, um für Micha und Melanie etwas zu essen bereitzustellen. Ihre beiden Ältesten besuchten die fünfte und achte Klasse des Marktgymnasiums und waren, wenn sie ihren Bus nicht verpassten, meist um 14 Uhr zuhause.

Manchmal hätte sie stattdessen jedoch gern für ein paar Minuten die Füße hochgelegt oder wie ihre Kollegen eine Pizza in die Kanzlei kommen lassen.

Ihr Arbeitsweg führte ein Stück über die stadtnahe Autobahn. Als sie den Beschleunigungsstreifen verließ, stellte sie ihr Autoradio an. Seit einigen Tagen sendeten die Nachrichten offenbar unaufhörlich Informationen oder Expertenmeinungen zum Thema Patrickson. Heute wurden die ersten Fallzahlen bekannt gegeben.

„Mehr als 1500 bereits registrierte Fälle geben Anlass zur Besorgnis“, verkündete der Sender.

„Wie kann man sich bei der geringen Zahl schon Sorgen machen?“, fragte sich Sophie und stellte das Radio wieder aus. „Es sei denn, die Dunkelziffer liegt bereits viel höher.“

Als sie wenig später am Supermarkt vorbeifuhr, wunderte sie sich über den völlig überfüllten Parkplatz des Discounters. Normalerweise war hier nie viel los. Vielleicht hatte sie ja ein Sonderangebot des Marktes übersehen.

An der nächsten Kreuzung verwarf sie ihre Gedanken und eilte weiter nach Hause. Dort schmiss sie ihre Jacke über einen der Küchenstühle und durchsuchte den Kühlschrank nach möglichen Zutaten für eine schnelle Mahlzeit. Als sie einige Tomaten und Zucchini in Stücke schnitt, entdeckte sie das blinkende Telefon. Sie legte das Messer an die Seite und kontrollierte den Anrufbeantworter.

Michas Schule hatte angerufen und die Sekretärin hatte eine Nachricht hinterlassen. Sie solle ihren Sohn unverzüglich persönlich abholen, da es Disziplinprobleme gegeben hatte.

Nicht schon wieder. Erst letzte Woche hatte sie sich mit dem Direktor angelegt, da Micha im Unterricht sein Handy benutzt hatte. Der Direktor verlangte jedoch von den Eltern der regelbrechenden Handynutzer, dass diese persönlich im Schulbüro auftauchten, um das Eigentum der Kinder abzuholen.

Für solche Maßnahmen hatte sie aber wirklich keine Zeit gehabt und sich deshalb auf eine unschöne Diskussion mit dem Schulleiter eingelassen.

Im Dezember hatte Micha sich dann für eine Schulstunde im Klassenschrank versteckt, um nicht am Unterricht teilnehmen zu müssen. Was war es wohl dieses Mal?

Als sie in der Schule ankam, saß Micha mit einem blutenden Ohr allein auf einem Stuhl. Er hatte sich mit einem Mitschüler geprügelt und seine Faust zu spüren bekommen.

„Hey, Micha, was ist passiert?“, fragte sie ihren Sohn, der wie ein Häuflein Elend neben dem Sekretariat auf sie wartete.

„Tim ist total bescheuert. Er hat gesagt, ich bin mega uncool und hat mich geschubst. Dann haben wir uns geprügelt. Ich hab ja auch voll die Scheißklamotten an“, jammerte er. „Aber du kümmerst dich ja auch überhaupt nicht darum, was ich anzuziehen habe. Immer bist du bei deiner blöden Arbeit.“

Sophie fühlte, wie sich das schlechte Gewissen in ihr ausbreitete. Sie wünschte sich auch mehr Zeit für die Kinder und wusste, dass sie ihre Mutter brauchten.

Nachdem sie der Sekretärin und Klassenlehrerin versprochen hatte, mit ihrem Sohn über die Unverhältnismäßigkeit körperlicher Gewalt zu sprechen, sagte sie ihre Nachmittagstermine ab, um mit Micha neue Klamotten zu kaufen.

Sie wusste, diese Stunden musste sie irgendwie nachholen. Gleichzeitig fühlte sie sich wie eine Rabenmutter, die nicht einmal genügend Zeit für die Einkäufe ihrer Kinder zur Verfügung hatte.

Michas Augen strahlten, als sie im Bekleidungsgeschäft ankamen. „Also, ich brauche mindestens drei Hosen, ein paar coole T-Shirts und eine neue Jacke.“

Sophie musste schlucken. Der Nachmittag würde teuer werden. Sophie steuerte den Ständer mit Sonderangeboten an.

„Nee, Mama, da hinten sind die Markenklamotten“, korrigierte sie Micha. Schnell hatte er nicht nur drei, sondern fünf Hosen gefunden, die er seiner Meinung nach allesamt unbedingt brauchte.

Als Sophie und Micha schließlich mit den Hosen, sieben T-Shirts, drei Sweatshirts und einer Großpackung neuer Socken an der Kasse standen, schaute ihn die Verkäuferin aufmunternd an.

„Na, junger Mann, das hat sich ja heute für dich gelohnt.“ Micha nickte. „Und jetzt brauche ich noch Schuhe.“

Im Schuhgeschäft versuchte Sophie Micha erst gar nicht von günstigen Schuhen zu überzeugen. Micha hatte genaue Vorstellungen, welche Art der Schuhe er gern tragen würde. „120 Euro für ein paar Kinderschuhe?“, wäre es Sophie fast herausgerutscht, doch sie biss sich auf die Zunge. Manchmal musste man eben Geld in Dinge investieren, die für andere eine große Bedeutung haben.

Micha war nach ihrer Einkaufstour so begeistert, dass er die neuen Schuhe gleich angelassen hatte. „Danke Mama, das war ein toller Nachmittag. Das sollten wir häufiger machen.“

Sophie gab ihm Recht. Ihr wurde bewusst, wie wichtig es war, viel Zeit mit den Kindern zu verbringen, Schwimmen zu gehen, in den Zoo zu fahren oder Spiele zu spielen. Die wertvollen Jahre, bis die Kinder erwachsen waren, konnte man nie wieder zurückholen.

„Micha“, sagte sie zu ihm, „bitte sage mir zukünftig gleich, was dich bedrückt. Viele Dinge lassen sich dann schnell aus der Welt schaffen. Sich zu prügeln ist nie die richtige Lösung. Und ich werde versuchen, zukünftig mehr Zeit für euch zu haben.“

Micha nickte und sagte leise: „Das wäre schön.“

Als Leo abends nach Hause kam, wusste sie, es war an der Zeit ein Gespräch zu suchen. Sie setzte sich zu ihm an den massiven Tisch, der fast den gesamten Raum in ihrem kleinen Wintergarten in Anspruch nahm, und wartete darauf, dass er von seinem Laptop aufschaute.

„Leo, ich brauche mehr Zeit für die Kinder. Sie brauchen mich. Ich kann nicht den ganzen Tag in der Kanzlei sitzen, um die Familie zu ernähren, und mich gleichzeitig um den Haushalt und die Kinder kümmern.“

„Du meinst also mal wieder, ich mache nicht genug?“, murrte er. „Tut mir ja leid, dass ich nicht studiert habe und weniger verdiene als du. Aber im Gegensatz zu dir macht mir mein Job Spaß. Wenn du meinst, du musst weniger arbeiten, dann tu das. Aber hör auf, ständig über Probleme reden zu wollen.“

Dann stand er auf, knallte die Tür wütend hinter sich zu und verschwand im Badezimmer.

Eigentlich mochte Sophie ihren Job auch. Aber die ständige Zeitnot hinderte sie daran, ihre Aufgaben zu ihrer Zufriedenheit zu erledigen. Ein Halbtagsjob war deshalb das, was sie sich wünschte. Auch wenn es finanziell dann eng werden würde, hatte sie gehofft, zusammen mit Leo eine Lösung erarbeiten zu können. Doch Leo hatte sich im Badezimmer eingeschlossen und würde so schnell nicht wiederkommen.

Sophie war enttäuscht. Ihr wurde bewusst, es war dumm gewesen, ein solches Gespräch anzufangen. Leo reagierte auf Gespräche, in denen Probleme angesprochen wurden, grundsätzlich aggressiv. Außerdem konnte Leo die Familie ja wirklich nicht ernähren. Genauso wenig konnte er zuhause bleiben, um sich um den Haushalt und die Kinder zu kümmern. Er sprach kaum mit ihnen und hasste Hausarbeit.

Als sie sich kennengelernt, hatte Leo ihr versprochen, keinen Abend ins Bett zu gehen, ohne vorher alle Probleme aus der Welt geschaffen zu haben.

Sie hatte ihm damals geglaubt, hatte sich alles leicht vorgestellt. Obwohl sich ziemlich schnell zeigte, dass Leo alles andere als redselig war, hatte sie auch nach der Hochzeit noch gehofft, dass Leo in seine Rolle als Vater und Ehemann bestimmt hineinwachsen würde.

In ihren ersten Jahren als Eltern gab es immer wieder Momente, in denen er sich wirklich bemüht hatte. Sie erinnerte sich an Abende, an denen er die Hausaufgaben der Großen kontrollierte, mit den Kindern bastelte und er Wert darauf legte, Zeit mit seiner Frau zu verbringen. Sophie hatte fest angenommen, dass alles zu schaffen wäre, wenn sie nur zusammenhielten.

Wieder einmal musste sie feststellen, dass dem Leben Wunschvorstellungen in der Regel egal sind.

Patrickson

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