Читать книгу Geisterhäuser - Sanne Prag - Страница 6

MORGEN

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Nun schien er hier der Boss zu sein, nicht der Gejagte. Er war allein, bis auf den Geist einer ermordeten Frau im ersten Stock von Haus 1.

Er ging über den Hof zu der Häusergruppe in der saftig grünen Wiese. Diese Gebäude waren niedrig und breit, mit tief herabgezogenen Dächern. Dick und beschaulich schliefen sie unter ihren gewaltigen Hüten in einer kleinen Senke.

Wie Gott wollte er seinen neuen Besitz benennen. Er gab der Häusergruppe den Namen „das Kloster“. Wo er geschlafen hatte, war das „Jagdschloss“. Das vierte Gebäude aus rotem Backstein nannte er „Fabrik“. Es glich aber auch einer missratenen Kirche. Auf einer Schmalseite erhob sich ein wuchtiger Turm, drei Stockwerke hoch, mit Kupferdach. Er konnte keine Türe sehen. Noch schlaftrunken machte er sich auf, in der Hoffnung auf einen Menschen, der ihm die Sache erklären konnte. Aber er plante gleichzeitig die Erforschung allein. Herr über vier prachtvolle Häuser auf Zeit. Er fühlte sich wie ein mächtiger König, der zwischen seinen Schlössern wählen konnte.

Gerade da schrumpfte seine Welt auf einen Ort zwischen Brustbein und Nabel. Sein Zentrum war in dem Moment ein sehnsüchtiges schwarzes Loch, das alles verschlingen würde. Jetzt wusste er, wie das mit der „Mitte“ war. Du musst deine Mitte suchen, sagten sie ihm in den Esoterikgruppen. Die Mitte finden war ganz leicht… Ja natürlich! Dort genau! Wo gibt’s Frühstück? Er wusste wo! Die großartige Küche in seinem Holzschloss - Haus 1.

War das zu riskant? War vielleicht doch jemand drin?

Der Platz zwischen den Häusern lag inzwischen im strahlenden Sonnenschein. Seine Türe hatte sich verschlossen. Er hatte fast damit gerechnet. Da war doch jemand. Oder hatte sein Mordopfer zugesperrt? Er war aber jetzt Jäger, nicht mehr Gejagter. Der Nagel, die Halle, nahm ihn in Empfang. War sie noch da? Ezra zwang sich die Treppe hinaufzusteigen und sagte dazu halblaut in Abständen „bitteschön…“ dann wieder lauter „Bitteschön!“. Das war der Anfang eines Satzes, der Gott sei Dank nicht notwendig wurde. Beim Stehlen in den Supermärkten hatte er gelernt, was Sicherheit war. Unschuldige blaue Augen, sanfte Stimme und eine erstklassige Ausrede – das sollte auch hier helfen. „…aber liebe gnädige Frau, ich habe nach Ihnen gesucht, laut gerufen, während ich die Treppe hochstieg, was hätte ich denn sonst noch machen können, ein Glas Milch, oder vielleicht nur Wasser – der Brunnen läuft nicht…“ Er erreichte die erste Etage, das Geländer fühlte sich staubig an. Staub sammelte sich an seinen Fingerkuppen. Ein kleiner Platz wölbte sich vom Treppenabsatz in den Bauch des Hauses. Am Boden der rote Kelim, der ein bisschen rutschte, und etwa drei Meter weiter die weiße Kontur – nur die Kontur.

Man hatte die Leiche weggebracht und das Haus zugesperrt – schon vor längerer Zeit.

Konnte man behaupten, dass er zurückgekehrt war an den Ort eines Verbrechens? Gab es eine wirklich gute Ausrede dafür, den glaubwürdigen Beweis, dass er den Mord nicht begangen hatte? Er wusste eines, dieses Geländer hatte länger keiner angegriffen. Der Mord war vielleicht schon verjährt. Er kehrte um und ging in Richtung Küche. Er musste in Ruhe denken. Das war die Aufgabe, aber zuerst kam sein verzehrender Hunger.

Sie, die Üppige, die Fürsorgliche, empfing ihn in all ihrer Schönheit, wie ein rundes, braunes Weib mit großen Brüsten. Er konnte verworfen, gierig, rücksichtslos sein, sie war mächtig und bereit. Was für eine Art von Mord konnte das oben an der Treppe gewesen sein? Erschossen? Erwürgt? Mit Sicherheit kein Messer, denn sonst hätte einer doch wohl dieses Messer genommen, das da auf dem Brett lag, zum Mordinstrument geschaffen.

Heute kein Pardon für diese Küche, er war der Mann, der dieses Weib entweihte. Die Erotik eines duftenden Schinkens nahm ihn gefangen. Das Damaszenermesser schnitt tief in den mürben Speck, und dazu Zwieback – mönchisch! Nicht nur pure Gier, die intellektuelle Verworfenheit dazu, die unter dem Deckmantel der Teufelsaustreibung den Phallus in die fetten Frauen senkt und Askese predigt. Bei jedem Bissen in den Zwieback fühlte er sich als Gottes Liebling, obwohl er ein Dieb war. Wieso oben an der Treppe? Hatte der Mörder die Ermordete verfolgt? Er fand Suppe in einer Dose. Die Salzlacke von seinen gestrigen Kartoffeln bildete eine feine weiße, ungestörte Wolke auf dem roten Boden.

Er fasste sich ein Kupfergeschirr mit Stiel. Der Herd produzierte keine rote Lampe – es war also nicht damit zu rechnen, dass er Suppe wärmte – Suppe kalt - nicht besonders erotisch besetzt. Denn die Lust und die Hölle fand man in Hitze, Sex und Fleisch. War das im ersten Stock eine männliche oder eine weibliche Kontur? Es war eine menschliche Kontur, mit Sicherheit, ob männlich oder weiblich war nicht so wichtig. Einem Menschen war Schreckliches zugestoßen, und er wollte herausfinden, was passiert war. Er könnte einfach ins nächste Wirtshaus gehen und fragen. Dort würde er die ganze Gerüchtesammlung bekommen.

Er wollte im nächsten Dorf fragen, aber nur mit Wissen in der Tasche. Der Mord war sicher schon vor einiger Zeit passiert. Er schlürfte die kalte Suppe aus einer zarten chinesischen Schüssel - durchscheinend weißes Porzellan.

Der Hof zwischen den Häusern lag still in der Sonne. Nichts regte sich, der See war ruhig. Er beschloss, das Haus gründlich zu durchsuchen, nicht wie die Polizei. Die staatliche Macht hatte nach Blut, Fingerabdrücken, Briefen, eventuellen Rechnungen gesucht, um einen Mord aufzudecken. Er wollte wissen, was für Gefühle hier gelebt hatten. Gefühle, die vielleicht geblieben waren, nach den Menschen.

Er dachte an die schöne glänzende Holzplatte des Birnenholztisches, das Geräusch des Sessels, wenn man ihn über den Boden zog, und wie in Trance griff er unter die breite Tischpatte. Er wäre nie darauf gekommen, dass da eine Lade war. Man sah keine. Da war kein Griff, kein Knopf, kein Zeichen einer Lade, aber die Tischkante ließ sich ziehen. Im Gedanken an Brot zog er, in der Öffnung lagen einige Krümel, aber kein Brot, doch aber ein Stift und ein dickes, festes Heft – ein Kochbuch?

Er öffnete den Deckel. Die Seiten waren mit einer eckigen Schrift bedeckt. Manche Buchstaben waren zerknittert. Obenan stand: Zwiebeln kann man auch in dieser Höhe ziehen. Dann folgte: Getrocknete Perlpilze zeigen ein wunderschönes Altrosa, wie die Wäsche meiner Großmutter. ---- Hab probiert, ob Fliegenpilz nun giftig ist oder nicht – habe aber nicht viel davon gegessen, mir wurde mulmig, weiß aber nicht, ob ich‘s mir nur eingebildet habe. ----

In guten Schwarzbrotteig muss man Kartoffeln geben – wird saftiger….

Hier war der Geist, den er treffen wollte. Er hatte Tagebuch geschrieben.


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