Читать книгу Geisterhäuser - Sanne Prag - Страница 7
VORMITTAG
ОглавлениеEzra wollte noch Kompott, wollte aber auch das Tage-Kochbuch nicht verlassen. Im Aufstehen warf er dem Buch noch ein unsicheres Lächeln zu – der Geist einer energischen, etwas verschlossenen Mittfünfzigerin lächelte zurück. Dieses Buch lief nicht weg – hier lief gar nichts weg. Alles blieb, wo es war, sogar der leere Umriss einer Leiche. Er ging in die Speisekammer und als er ein Glas Birnen in der Hand hatte, schaute er es voll Abscheu an. Er wollte natürlich nichts Süßes, wie konnte er nur auf Kompott kommen. Man war ja schließlich kein Vieh, schoss ihm durch den Kopf, irgendwas musste einem doch verdammt nochmal beweisen, dass man höheren Geistes war! Ezra stellte die Birnen kleinlaut wieder zurück. Der Beginn einer Persönlichkeitsspaltung? Er hatte Birnenkompott bisher immer gemocht. Aber da war eine zweite Person, die mochte es nicht. Er hatte das Gefühl, dass fremde Gedanken aus der Küche in seine drängten, nie hatte er eine so abfällige Beziehung zu Birnenkompott gehabt. „Höheren Geistes“ war ein Begriff, den er nie verwendete, es war als hätte ein Anderer aus ihm gesprochen – ein Zweiter. Gleichzeitig nahm der feine Geschmackssinn eine völlig neue Bedeutung an. Unverständlich schien ihm, dass er das bisher nicht so wahrgenommen hatte, er war doch ein Kulturwesen. Essen war ein kleines tägliches Glück, und er war so engstirnig, diese Freudenquelle nicht auszubeuten. Man hatte Körper, man hatte Magen und man hatte ihn in dieser Welt, wer weiß schon, was die nächste brachte.
Plötzlich drängte es ihn in Richtung Keller. Im selben Moment wusste er, wo der Keller war. Er durchquerte die Halle. Vorsicht! Die Stufen begannen gleich hinter der Türe! Er sah die enge Treppe hinab und streckte in blinder Selbstverständlichkeit die Hand nach dem Lichtschalter aus, der unsichtbar am Türrahmen angebracht war. Das Licht zeigte ihm ein gewaltiges Gewölbe. Jeder Winkel, jede Wand war mit Regalen vollgestellt. Manche waren leer, manche enthielten nur einige Flaschen. Zwei waren ganz voll. In dem war Champagner. Er wusste, dass er Champagner nicht mochte. Das war das, was man zu Anlässen trank, obwohl man zu viel Magensäure bekam. Ezra hatte bisher wenig über die Weisheit des Weines gelernt, zu Champagner hatte er bisher eine eher neutrale Beziehung gehabt.
Er griff zielsicher in eines der fast leeren Regale. Am Boden ringelten sich einige Streifen Holzwolle, auf der Flasche klebte der Staub ziemlich fest. Er drückte sie dennoch an die Brust und ging langsam die Kellertreppe hoch. Er fand das unmäßig anstrengend.
Wo war sein Koch-Tagebuch? Es war nicht mehr da.
Anfänglich hatte er locker, distanziert die Möglichkeit zugelassen, dass hier ein Geist wohnte. Die Frau, der das Haus gehörte war im ersten Stock ermordet worden und spukte jetzt. Das hatte er lächelnd akzeptiert. Nun waren aber schon einige Signale in diesen Räumen, die nicht `normal´ waren. Das Gefühl nicht allein zu sein, wurde immer stärker. Da sah er das Buch am Boden liegen. Nein, kein Wind, das Ding war wirklich fest und dick. Wer hatte es hinuntergeworfen?
War der Geist in diesem Haus bedrohlich? Ist der Geist einer Ermordeten immer bedrohlich?
Weggehen kam nicht in Frage. Er blieb und würde die Besitzerin des Buches kennen lernen. Gedankenverloren nahm er ein weißes Tuch, durch die Zeit ziemlich staubig geworden, legte es über seinen Arm wie ein Butler und ritzte den Überfang der Flasche vorsichtig an. Dann nahm er wie in Trance ein mundgeblasenes Glas aus einem Wandkasten, wischte es mit dem schmutzigen Tuch aus und wurde munter.
Ezra kam aus einem Frauenhaushalt, der ständig einen leisen Duft von Chlor und Lysol verbreitete. Seine Mutter hatte irgendwelche Probleme, die bewirkten, dass der Kampf gegen Bakterien ihren Tag beherrschte, ihren Abend versüßte, ihr Lebensziel war. Die Idee, ein Glas mit einem staubigen Fetzen auszuwischen, brachte Konflikt mit sich. Er fühlte, die zweite Seele war in ihn hineingekrochen und wurde von Mutter ausgebremst. Ein Geist, der es mit dem Haushalt locker nahm, durfte sich nicht mehr in Spinnweben hüllen, zarten glitzernden Staub ausatmen, durfte keine fragwürdigen Küchentücher benützen, der Geist einer rauen Einsiedlerin, die gelegentlich vorsichtig den Vorhang zur Seite schob und von Desinfektion nichts hielt, wurde von seiner Mutter vertrieben, desinfiziert.
Ezra schaute zum Alkovenfenster, nur kurz, um zu wissen, ob er den Geisterschatten sah, durchscheinend, zart grau gegen das Licht, da klang draußen eine große, schwere Glocke.
Zehnmal schlug es mächtig. Die Fenstergläser sangen leise mit, und er bildete sich auch ein, der Boden vibrierte, sogar seine Knie übernahmen den Ton. Blick auf die Uhr. Es war Sonntag 10 Uhr und es klang mindestens wie Big Ben. Ezra stürmte zum Fenster. Er hatte offensichtlich übersehen, dass hinter dem Hügel ein großer Ort mit einer mächtigen Kirche war. Völlig vergessend, dass er dieses Haus nur heimlich bewohnte, rannte er über die sonnige Wiese. Die Türe ließ er weit offen. Er rannte an dem Teich und der Kapelle vorbei und auf den Hügel hinauf, der ihm den Blick verdeckte. Big Bens Ton war inzwischen leise brummend verklungen.
Er blickte eine Steinhalde hinunter, von einem Ort keine Spur. Hier stand nur die kleine Kapelle mit der Gottesmutter, die zwei seltsame Kinder zu betreuen hatte. Wo war Big Ben?
Er wanderte am See entlang, tief in verwirrenden Gedanken. Dann legte er die Hand auf die rote Haut der Fabrik. Vibrierte die noch? War die gewaltige Glocke in dem Turm? Um die Ecke fand er eine sehr kleine, beschlagene Türe. Der Nagel half. Er erwartete hinter der Türe einen Vorraum oder etwas Derartiges anzutreffen. Da umgab ihn plötzlich blendendes Weiß. Der Raum erinnerte innen an eine weiße Kirche. In der Höhe des ersten Stockes lief eine Galerie, geschützt durch ein weißes Gitter. Die Lichtstrahlen fielen in Bündeln durch die Luken auf der Ostseite, sie trafen weiße Flächen. Aber keine Glocke war zu sehen.
Die ungewöhnliche Anlage berührte ihn. Es fühlte sich an, als ob der Raum auf etwas hoffte. „Ein unbeschriebenes Blatt“, fiel ihm ein, hier musste etwas geschehen, etwas hineingetragen werden, das noch nicht da war. Der Raum war in Erwartung. Er verließ den Platz neben der Türe und ging fast andächtig weiter. Dieser Raum war schön, still und sehr leer – er lebte nur, wenn ein Geist Form annahm. Vielleicht eine weiße Frau? Dieses Haus war ein Rahmen, derzeit nur ein Rahmen für ein Bild, das fehlte. Keine Jacke über den Sesseln, kein Taschentuch auf der Erde, ungebrochenes, nacktes Weiß. Auf einem weißen Tisch lag ein weißes Blatt Papier. Ein Anhaltspunkt?
Er sah eine große Kinderschrift, fest eingegraben mit Kanten und Ecken: „ Ich erwarte von dir, dass du mir klar sagst, was ich tun muss, denn es muss etwas getan werden, nachdem dieses Grauenhafte passiert ist. Wir mussten es geschehen lassen, und jetzt muss Klarheit geschaffen werden.“
Häuser werden von Geistern bewohnt; dieser war zornig und bestimmt, nach einem grauenhaften Erlebnis. Geister schleichen nicht nur hauchzart durch die Räume, sie sind auch zornig, fordernd.
Geister findet man nicht auf Friedhöfen, sondern dort, wo sie zuletzt gelebt haben. Sie kommen manchmal aus den Kissen, sitzen auf den Sesseln und tun, was sie immer getan haben. Sie lesen ihre eigenen Tagebücher immer und immer wieder. Dieser Geist hier war zutiefst erschrocken. Das Entsetzen war noch da, im Papier, im Raum, in den Kissenbezügen und sicher auch in den Spiegeln. Manch ein Geist erscheint im Silberglas, sonst ist er nicht zu sehen…
Ezra sah einen Spiegel am Ende des Raumes. Wenn er hineinschaute, würde der Geist hinter ihm stehen. Dort im Glas nimmt Form an, wer sonst keine hat.
Er hatte es immer geliebt, blind Entfernungen richtig zu schätzen. Er schritt schnell, mit geschlossenen Augen, stand davor, zog vorsichtig die Lider hoch und sah - nichts. Dieser Spiegel hatte nie gedient. Er war vollkommen blind. Die Fläche, gleißend weiß, gab kein Bild.
Häuser ohne Spiegel gab es nicht. Wo waren die Spiegel dieses Hauses? Und wo war die Riesenglocke? Er wollte die zornige, erschrockene, weiße Frau finden, und die mächtige Glocke. Die einzige Türe führte in den Turm. Er erwartete, das bronzene, kreisrunde Maul über sich zu sehen. Aber dort stieg nur ein weißes Stiegenhaus in die Höhe. Keine Glocke, über ihm war der leere Himmel, eine Glasdecke.
Drei Türen führten in zwei kleine, leere Zimmer und ein Bad, alles völlig weiß. Dort war kein Spiegel, nur leere Wand über dem Waschbecken. Er stieg hinauf. Im ersten Stock, der Raum war ziemlich groß. Alles ohne Schmuck und ohne Leben. Keine Handtücher, kein Mistkübel und kein Spiegel.
Langsam ging er ins Stiegenhaus zurück. Die riesigen Fabrikfenster fingen die Sonne ein, es fühlte sich warm an hinter dem Glas. Weil er vom Turm aus alle vier Häuser sehen konnte, blickte er über seine Ländereien, als beim Jagdschloss eine dunkle Gestalt hinter der Ecke verschwand. Also doch! Jetzt hatte er sie! War das der Geist oder bloß die Frau mit den Schlüsseln?
Er stürmte aus der „Fabrik“ und rannte hinüber. Die erste Ecke. Er blieb stehen. Vorsicht! Langsam weiter, er wollte ihr nicht einfach gegenüberstehen, nach einer Ecke. Schließlich erreichte er den Innenhof mit dem Dunghaufen, da war sie nicht mehr. Er ging zu der kleinen Türe. Die war abgesperrt. Er wusste, dass er nicht zugesperrt hatte. Er hatte offen gelassen. Jetzt war aber eindeutig abgesperrt. Nein, die Türe klemmte nicht, sie war verschlossen. Wo konnte diese Person hingegangen sein? Das nächste Anwesen war die Kloster-Gruppe. Er lief einen Wiesenweg entlang. Der Eindruck eines Klosters war stark, wegen der gemalten Kreuzwegstationen in den Arkaden. Aber nein, das war was ganz Anderes! Während er die Bilder anschauen wollte, fiel ihm ein, dass die Frau ja von innen zugesperrt haben konnte, also im Haus war. Hier war sie – er - jedenfalls nicht.
War es gut, diese „Frau“ zu treffen? In dem Augenblick, wo er sich zu erkennen gab, konnte er keine abenteuerlichen Forschungstouren mehr unternehmen. Das war ein Verlust. Lieber keine Erklärung, keine Frage, lieber selbst die Antwort finden. Er schaute das Jagdschloss unsicher an und dann Haus 1, dort brannte kein Licht mehr.