Читать книгу Geisterhäuser - Sanne Prag - Страница 9
NACHMITTAG
ОглавлениеEzra war am Überlegen, wie er vorgehen wollte um das Geheimnis zu lüften. Wo überall konnte er Informationen sammeln? Mit Sicherheit im Tagebuch in Haus 1. Möglich wäre auch ein Fund im Haus der Pferde. Die Fabrik war karg und leer, er konnte sich nicht vorstellen, dass dort noch etwas war, außer dem einsamen Blatt Papier mit dem „Grauenhaften“. In den Räumen vom „Kloster“ war er noch nie, aber die Kreuzwegstationen hatten leise Panik in ihm hinterlassen. Diese Häuser wollte er nicht durchsuchen.
Er ging mitten durch den Hof, im weiten Bogen um die Bilder. Sein Kopf funktionierte in der Sache sicherer als sein Körper. Sein Hirn gehorchte scheinbar, sein Bauch und was er darunter mit sich trug, nicht.
Der Dunghaufen im Hof des Pferdehauses war ihm freundlich gesinnt. Die Türe ließ ihn ins Haus. Er merkte, dass er den Türen inzwischen Persönlichkeit zuschrieb. Manche waren ihm zugetan, manche mobbten ihn. Auf seiner Forschungstourl wendete er sich links in den Wohnbereich hinein. Das Zimmer mit dem bedrückenden Lüster sah im Tageslicht nicht weniger eng und überladen aus. Die gemusterte Couch vor der Barocktapete wirkte wie ein Reptil, das sich in unruhigem Blattgewirr nicht erkannt fühlen wollte. Er legte die Petersilie auf den glänzenden Mahagonitisch und suchte nach einer Lade. Da war keine. Die Petersilie blieb liegen und er ging weiter. Der Raum gegenüber war sehr groß und voll Matten und Geräten. Ein Sportraum. Kein Glück der Körperlichkeit, eher ein Vorwurf an den Faulen, Stress für Dicke. Ein offener Kamin blickte leer und gelangweilt auf die Sportgeräte.
Die nächste Türe führte in eine Küche. Mit Küchen hatte er inzwischen gute Erfahrungen gemacht, aber diese war ganz anders. Sie war klein und eng und ohne Fenster. Von Ernährung keine Spur, von Lust noch weniger. Eine absolut glatte, sterile Küche. Flächen zum Reinigen, Nirosta, perfekt gestylt. Er wusste sofort, dass hier nichts Interessantes gekocht wurde. Hier entstand Steriles. Diese Küche betrat kein Fremder, keiner auf der Suche. Hier gab’s kein Experiment und kein Papier. Ein seelisch unbenützter Raum. Er musste wieder in den Sportraum und dann in den gemusterten Salon, die einzige Verbindung dieser Küche war zum Sportraum. Wie wenig anregend!
Die zweite Türe war seine nächste Aufgabe. Neugierig schaute er um die Ecke. Vergessen war, dass er Eindringling, Fremder und unberechtigt war. Er betrat einen schönen, großen Raum. Drei hohe Fenstertüren, an jeder Seite eine. Der Raum war das Ende eines Flügels. Eine der Türen führte zum kleinen See, eine blickte zu Haus 1 und eine in den Hof. Üppige Vorhänge, deren prachtvoller Überfluss sich auf dem Boden staute. Teppiche. Alles war reine, gediegene Pracht. Es gab viel Raum dazwischen. Eine Staffelei. Ein Schreibtisch, ein Kasten, ein niedriges langgestrecktes Möbel, ein Sekretär, ein leerer, dunkler Kamin ohne Rosengirlanden. Hier gab‘s Papier! Beschriebenes Papier, als Endlosschleife in die Seele und aus der Seele – es lag in Stößen. Der Schreibtisch war versperrt. Kein Problem! Ezra wurde rücksichtlos und besorgte sich einen von den kleinen alten Dosenöffnern in der Küche. Den klopfte er mit einem Fleischerhammer kürzer, bis er passte. Wild geworden in seiner Gier nach erklärenden Worten.
Ein bisschen Fummeln am Schreibtisch und drin war er. Die oberste Lade enthielt Unterlagen in Bezug auf das Haus. Es war nur zwei Jahre alt. Das Grundstück war erworben von einer Hilde Wanda, abgekauft einem Holger Molc – wahrscheinlich ein Bauer in der Gegend, dem die Alm gehörte. Bauunterlagen, Pläne, Preise, Baumeister, Gemeinde usw. Dieses Haus war neu gebaut? Abgesehen davon, dass jedes Haus einmal neu gebaut werden muss, hätte er das nicht erwartet. Unter den Papieren lag ein Brief:
Ich möchte an Deiner Schulter riechen, an Deiner linken. An den kleinen Salzkörnchen in Deiner Achsel die Nase reiben. Deine Haare kitzeln wieder auf meiner Haut und langsam wird es dunkel vor dem Fenster. Ich denke, dass uns jetzt nichts mehr hindert. Gib mir Deine weiche Seele, leg sie auf meine Brust und hilf mir zu atmen.
Wer wollte die Nase an wessen Salzkörnchen reiben? Die Schrift war fetzig, mit ziemlichen Druckunterschieden. Der Brief hatte kein Datum und konnte von irgendwann und irgendwo in diese Lade geraten sein. Er wurde hier aufgehoben. Warum? Er konnte aber nichts belegen, nichts beweisen denn es stand kein Name darauf. Konnte er zur Rechenschaft gezogen werden? Er war Gefühl, Aufforderung, Sehnsucht, warum also lag er in dieser Lade? Er schien dort ein heimliches Dasein zu haben unter den Papieren für Rechtsanwälte und Notare. Man konnte ihn nicht wegwerfen und nicht herumliegen lassen. War das Eitelkeit oder Liebe, war hier die Frage.
Plötzlich fiel ein Schatten auf die Papiere und Ezra erschrak heftig. Ein Brennen wie von einer Narkose zog seine Schläfen nach innen und sein Herz pumpte hart, nachdem es eine Runde ausgesetzt hatte. Er hob seinen panischen Blick. Durch das Sonnenfenster schaute eine Kuh.
Er warf alles eilig in die Lade zurück und lief aus dem Zimmer. Den Gang entlang, raus, ums Haus herum, und da stand die Kuh noch immer und schaute durchs Fenster. In einiger Entfernung waren noch mehr Kühe, mit einem Menschen. Robinson Crusoe sah ein Schiff in der Ferne.
Langsam ging er zu den Kühen und dem Boten aus der Zivilisation. Der Bote war eine sehr große, junge Frau in Hosen, Wollstrümpfen darüber und derben Schuhen. Sie kam ihm riesig vor, überragte ihn um einen Kopf. Sie lächelte ruhig. Ihr schönes Lächeln schwamm in einer Woge von Ratlosigkeit zu ihm. Ratlosigkeit traf Ratlosigkeit. Wie bitte sollte er die erste Frage stellen. Man begrüßte sich selbstverständlich, ruhig. Jeder schaute nachher in die Weite, als ob da kein Anliegen wäre. Schließlich warf er eine Frage in den Ring: „Wem gehören die Kühe?“
„ Na allen. Ich mach nur die Senn.“ Ihre Stimme war ein wenig rauchig, wie von einer Bardame.
„ Wie heißt der Ort?“
Sie schaute ihn groß an. “Und wer bist du?“
Langsam hatte er wieder alle Sozialkompetenzen im Griff und erzählte, dass er ein armer Wandersmann sei, auf der Walz, um die Gesellenprüfung für Wirtschaftsinformatik fern der Uni zu erlangen. Er schilderte die Gefühle am Campus, die anfängliche Begeisterung, die einer müden Alltäglichkeit gewichen war. Dass er vorher Theaterwissenschaften und Soziologie gemacht hatte, mit der gleichen Begeisterung bis zur Dissertation und auch ohne Abschluss, erklärte er nicht. Sie saß still.
Beide waren still. Er wollte weitermachen, endlich seine Fragen stellen, aber so ging das nicht. „Und du?“
Sie holte ihren Blick aus der Ferne. „Ich bin Malerin, habe studiert - Kunst - und jetzt will ich zur Abschlussarbeit ein Buch über Kühe machen. Und jetzt bin ich hier.“ Sie lächelte und zeigte eine lange Reihe blendend weißer Zähne.
„ Und wer wohnt in diesen Häusern?“
„ Ich glaub keiner. Nach all dem was passiert ist, sind alle weg.“
„ Und was ist passiert?“ Endlich!
„ Ja also, das weiß eigentlich keiner so richtig. Irgendetwas ist eskaliert. Einer wollte seine Frau erwürgen und wurde gerade noch daran gehindert. Und ein anderer ist losgezogen und hat als Geisterfahrer vier Menschen mit in den Tod gerissen, und im Dorf wird erzählt, dass der Teufel hier sein Unwesen treibt und Leute „besetzt“. Sie nennen das „besetzen“. Aber was da tatsächlich los war… kann man nicht sagen.“ Sie lächelte ihn breit und vergnügt an „Und wer der Teufel ist, schon gar nicht“.
Das also war der Hintergrund zu dem beschaulichen Obst- und Gemüse-Tagebuch in der Küche von Haus 1 – ein schreckliches Drama.
Sie stand auf. „Die Wiese ist nicht so weich wie in den Märchen beschrieben! Hänsel und Gretel legen sich in eine weiche Wiese. Die da ist hart und struppig.“ Sie schaute den Wiesenfleck genau an, der nun den Abdruck ihres Sitzens trug. „Ich glaub ich bin auf einem Stein gesessen.“ Dann kicherte sie wie eine Hexe. „Irgendeiner hat heimlich nachts hier eine elektronische Glocke installiert im Marterl. Die schlägt wie die Pummerin.“
„ Warum heimlich?“
„ Na, es gibt doch keiner zu, dass er sich vorm Teufel fürchtet. Aber der Klang der geweihten Glocke vertreibt ihn, sagt man. Ich muss jetzt gehen und den Bock holen.“
„ Welchen Bock?“
„ Na Max. Unseren Ziegenbock. Sonst krieg ich unsere Milchkuh nicht nach Hause und kann sie nicht melken“, meinte sie, „Sie liebt ihn“, und alles schien für sie völlig klar. Sie schritt kräftig über die Wiese.
Ezra überlegte, ob er ihr sagen sollte, dass er hier schlief und schon eine Nacht mit dem Teufel verbracht hatte. Er fühlte sich mutig und mächtig, aber gleichzeitig regte sich etwas Beunruhigendes. War die zweite Person, die in ihm war und gelegentlich das Steuer übernahm, der Teufel? Er war verunsichert. War seine nette Mitfünfzigerin in der Küche der verkleidete Höllenfürst? Nicht dass er an Teufel glaubte, aber was verstanden die unter Teufel? Spürte er teuflische Gefühle?
Er jedenfalls wusste zu wenig über die Wesen aus der Hölle. Seine Erfahrung beschränkte sich auf Tante Rena mit Bart und Bischofsstab und einen gemieteten Teufel, der herumsprang wie ein Affe, aber nicht in die Nähe der Wohnungstür ging. Mutter war es nicht, denn sie stand neben ihm. Er hatte sofort an einen gemieteten Teufel gedacht. Er hätte nicht gewusst, wen die beiden sonst verpflichtet hätten, und nahm damals mit 6 Jahren an, dass sie die Nikolaus-Traditionen vollständig haben wollten. Daher die Anschaffung eines Teufels. Dann waren sie aber wiederum beunruhigt, dass Ezra sich ängstigen könnte. So hatte der Teufel anwesend zu sein, aber Verbot, näher zu kommen, und so war es ihm damals nie gelungen, ihn genau zu untersuchen.
Spätere Bücher hatten ihn gelehrt, dass Teufel sexuelle Wesen waren, dass Feuer ihr Element war, was sie nicht eigentlich schlecht erscheinen ließ. Teufel hatten viele Haare und waren öfter mehr Tier als Mensch – was Ezra auch eher beruhigend fand. Der Teufel als haariges, ein wenig bissiges Haustier? Er wusste also tatsächlich über die Bedrohlichkeit von Teufeln nicht Bescheid. So etwas wurde an Unis kaum unterrichtet.
Er ging langsam ins Haus zurück. Sicher hatte ein Geisterfahrer etwas Bedrohliches, auch etwas sehr Teuflisches, denn der Teufel ist dumm und rücksichtslos oder sinnlos zornig. Das stand in den Geschichten. Aber wie kamen die auf die Idee, dass der Teufel hier sein Unwesen trieb? Was für eine Art von Teufel war es, gegen den man elektronische Glocken in Kapellen hing, heimlich? Ein Mann hätte seine Frau fast erwürgt. Dazu brauchte man nicht wirklich einen Teufel, es genügten Hilflosigkeit, Wut, Abscheu… Und wer waren der Mann und die Frau, welches der Häuser gehörte zu ihnen?
In Haus 1 schien es kein Ehepaar gegeben zu haben. Alles sprach dafür, dass dort nur eine einzelne Person wohnte. Im Haus mit den Pferden war scheinbar ein Ehepaar, denn es gab zwei verschiedene Lebensformen, zwei verschiedene Seelen, die Räume ausgestattet hatten. Der seltsam ängstliche, enge Saloon hatte ein anderes Gefühl in den Kissen als das große, helle Zimmer. Wahrscheinlich Raffa und die Ziege. Hatte Raffa seine Ziege gewürgt?
Im Haufenhof gab es laut Tagebuch mehrere Personen. Da konnten ruhig zwei davon verheiratet sein und einer konnte den anderen fast erwürgt haben. In der Fabrik war völlig unklar und undurchsichtig, wer dort wohnte, außer der weißen Frau, die zornige Briefe schrieb. Weiße Frauen werden von niemandem gewürgt. Er musste noch viel mehr Information sammeln. So lange wollte er hier wohnen bleiben.
Irgendeine Person schien nachschauen zu kommen und eventuell offene Türen zu versperren. Das einfachste Mittel gegen Entdeckung war deshalb, selbst die Türen zuzusperren.