Читать книгу Die beste Zeit ist am Ende der Welt - Сара Барнард - Страница 5

Was zuvor geschah

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Warum ich alle Zelte abgebrochen und mit meinem alten Leben abgeschlossen habe, obwohl ich erst siebzehn bin und meine Eltern mich ziemlich sicher umbringen werden

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Als ich noch dachte, dass sich alles zum Guten wenden könnte

Der erste Tag auf dem College. Der erste Tag meines neuen Lebens! Ein neues Ich, in neuen Klamotten (Skinny-Jeans, weißes T-Shirt und eine Gänseblümchenkette. Klassisch, schlicht und nicht an eine bestimmte Persönlichkeit gebunden, denn ich musste ja erst mal herausfinden, wer ich am besten sein sollte). In erster Linie aber ein Ich mit einer neuen Einstellung. Welche Einstellung? Positiv. Ich, auch bekannt als Peyton King, frischgebackene Zwölftklässlerin und die Neue, die es nicht erwarten konnte, Freunde zu finden, war bereit.

Ich war so was von bereit. Wen interessierte schon, dass ich eigentlich gar nicht auf ein Wirtschaftscollege gehen und vor allem nicht das lernen wollte, was meine Eltern für richtig hielten, statt zu tun, was ich mir selbst wünschte – und was sich im Prinzip mit dem Wort »Kunst« zusammenfassen ließ. Ich war trotzdem bereit. Alles andere war sowieso egal. Ich hatte ein Ziel, und nur dieses Ziel: Freunde finden. Echte, treue, Geheimnisse anvertrauende, WhatsApp-Gruppen teilende, zusammen im Park chillende Freunde.

Das, was an meiner alten Schule passiert war, war bloß ein Fliegenschiss gewesen. Auch wenn dieser Fliegenschiss fünf Jahre Hölle bedeutet hatte. Ja, keine Freunde zu haben, fühlt sich an, als würde einem die Seele ausgesaugt. Ja, es hat mich fast völlig kaputt gemacht. Und ja, das grausame Mobbing hat mich vermutlich nachhaltig traumatisiert und wird mich bis ins Erwachsenenleben verfolgen.

Aber – das ist vorbei! Schnee von gestern. Neuanfang, neue Peyton.

»Herzlich willkommen!« Eine lächelnde Frau saß an einem der Info-Tische im Eingangsbereich.

»Hi!«, antwortete ich. Genau so, Peyton, zeig Begeisterung. »Ich bin Peyton King!«

Die Frau nickte, sah hinunter auf die Liste vor sich, entdeckte meinen Namen und strich ihn durch. »Das hier sind deine Willkommensunterlagen.« Sie reichte mir einen Stapel Papiere. »Ein Geländeplan, die Öffnungszeiten der Mensa und so weiter. Die Einführungsveranstaltung findet um 09:00 Uhr in der Aula statt. Hast du vorher noch irgendwelche Fragen?«

Wie finde ich Freunde? Werden die anderen mich mögen? Warum mochte mich früher niemand? Sehe ich okay aus? Wie ist meine Frisur? Tue ich das Richtige? Werden die anderen mich mögen?!

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke!«

(Kann man von der eigenen Hoffnung und Vorfreude high werden? Falls ja, dann war ich das definitiv. Das hörte man allein schon an meinem Tonfall.)

Auf dem Weg zur Einführung befürchtete ich, dass wir diese schrecklichen Kennenlernspiele spielen würden. Und gleichzeitig hoffte ich auch ein bisschen darauf, dass es tatsächlich damit losgehen würde. Sie waren zwar todespeinlich, aber meist funktionierten sie ja.

Allerdings war ich mir nicht sicher, ob man das hier überhaupt für nötig hielt. Auch wenn die Gebäude des Wirtschaftscolleges größtenteils auf einem eigenen Gelände standen, so gehörte es doch offiziell zur Eastridge Highschool, die die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler bis zum Abschluss der elften Klasse besucht hatte. Noch dazu gab es zwei Partnerschulen, von denen auch viele kamen. Ein kleiner Rest war von ganz woanders, so wie ich. Das war also mein neues Leben – endlich. Ich war raus aus dieser Hölle, die die Claridge Academy für mich gewesen war, weit weg von allen, die mich je gemobbt hatten, und von denen, die es zugelassen hatten. Ich war frei und konnte neu anfangen.

Am Tag zuvor war ich bei der Friseurin meiner Mutter gewesen. Ich hatte ihr genau gesagt, was ich wollte – sympathisch, aber nicht zu auffällig, nichts zu Bemühtes, nichts, was zu sehr schrie: Schaut mich an! Daraufhin hatte sie meine straßenköterblonden Wellen in einen sattbraunen Long-Bob mit kupferfarbenen Strähnchen verwandelt, der gerade auf meine Schultern hinabfiel. Perfekt. Ich hatte den ganzen Sommer über geübt, mir die Haare zu glätten, und jetzt hatte ich die passende Frisur dafür.

Seht ihr, wie bereit ich war? So was von.

Die Einführung war etwas seltsam. Alle versammelten sich in der Aula, um der Willkommensansprache – oder vielmehr der Willkommenspredigt – des Oberstufenkoordinators, Mr Kirby, zu lauschen, der sehr wenig lächelte. Danach wurden wir in Kleingruppen eingeteilt und über den Campus geführt. Ich war in einer Gruppe mit zwei anderen Mädchen, die nur miteinander tuschelten und mich kaum beachteten, und mit drei Jungs, die überhaupt nichts sagten. Kein besonders guter Start.

»Von welcher Schule kommst du?«, fragte ich eines der Mädchen, als wir nach dem Rundgang zurück in die Aula gebracht wurden. Ich war wild entschlossen, diese erste Gelegenheit nicht verstreichen zu lassen, ohne es wenigstens versucht zu haben.

»Eastridge«, antwortete sie. Eine besitzergreifende Geste schloss ihre Freundin mit ein. »Und du?«

»Von der Claridge. Academy.«

Sie runzelte die Stirn. »Wieso bist du dann nicht dort in die Oberstufe gegangen?«

Ich sagte nicht, weil ich da keine Freunde habe, und wenn ich hier auch keine finde, gehe ich elendiglich zugrunde, sondern: »Weil das ein Scheißladen ist.« Was mich betraf, entsprach das absolut der Wahrheit.

Aber es kam falsch rüber, zu laut, zu vehement. In meinen Ohren klang es viel zu übertrieben und das wollte ich doch eigentlich um jeden Preis vermeiden. Ich lächelte, aber auch das fühlte sich nicht richtig an. Ich konnte spüren, wie mir die Röte den Hals hinaufkroch. Ein einziges Gespräch und ich hatte es schon vergeigt.

»Tja, die Eastridge ist ganz okay«, meinte das Mädchen und zuckte mit den Schultern.

»Das ist jetzt nicht mehr die Eastridge«, wurde sie von ihrer Freundin erinnert, »sondern das College. Das ist was völlig anderes.«

»Ich versuche hier, nett zu sein.« Das erste Mädchen verzog das Gesicht. »Ihr Mut zu machen und so.«

Die andere verdrehte die Augen, was nicht besonders freundlich wirkte. Aber sie fragte mich: »In welcher Aufnahmegruppe bist du?«

Hoffnungsvoll blickte ich auf mein Anmeldeformular. »S6.«

»Tja, wir sind beide in S2.« Sie zuckte mit den Achseln. Dieses Achselzucken sagte: Sorry, wir werden leider keine Freunde. Ciao.

»Okay«, antwortete ich.

»Wir müssen auch langsam los«, meinte die Erste wieder. »Zur Anmeldung.«

»Okay.« Ich wiederholte mich, aber was sollte ich sonst tun?

Halb hatte ich gehofft, sie würden mich vielleicht fragen, ob ich mit ihnen zu Mittag essen wollte, aber nichts da. Bloß ein peinlich berührtes Lächeln und dann zogen sie zusammen davon.

Keine Panik, alles in Ordnung. Das war meine erste soziale Interaktion und ich hatte weder angefangen zu heulen noch mich völlig blamiert. Man könnte es als eine Art Testlauf betrachten. Schließlich konnte ich ja nicht erwarten, dass jedes kurze Gespräch gleich zu lebenslanger Freundschaft führen würde. Schön optimistisch bleiben.

Auf einer Bank in der Sonne aß ich mein mitgebrachtes Pausenbrot und zeichnete mit der freien Hand vor mich hin. Ich stellte mir meine Zukunft vor, den Schulabschluss, mit Hut und Talar, umringt von Freunden, die mich breit anlächelten. Das war alles, was ich vom Leben wollte. Nicht Hut und Talar, die waren mir eigentlich ziemlich egal – aber Freunde. Eine beste Freundin, die Art, von der man in Büchern liest. In den Geschichten, die ich liebte, denen über stinknormale Mädchen wie mich, hatten alle beste Freundinnen, oft sogar mehrere. Ganze Horden davon. Obwohl sie mir manchmal das Gefühl gaben, sehr allein zu sein, in meiner eigenen, freundinnenlosen Realität, las ich sie trotzdem weiter. Ja, ich verschlang sie regelrecht, um zu lernen, was eine gute beste Freundin ausmachte, damit ich vorbereitet war, wenn es eines Tages – endlich – so weit wäre.

Okay, bringen wir es hinter uns. Ich weiß, was ihr wissen wollt. Ihr wollt wissen, warum ich so besessen davon war, Freunde zu finden. Wie ich die letzten Jahre überhaupt ohne überlebt hatte. Ihr fragt euch, wie ich jahrelang zur Schule gehen konnte, ohne Freundschaften zu schließen. Ihr denkt, du musst doch Freunde haben. Jeder hat Freunde. Oder vielleicht glaubt ihr, dass ich bestimmt mal welche hatte, sie aber durch irgendeine schlimme Tat vergrault habe. Und jetzt seid ihr neugierig, was das gewesen sein könnte.

Zuerst lasst mich euch eins sagen: Es stimmt. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Freunde. Und ich hatte auch davor nie welche. Keine Menschen, die ich mochte und deren Gesellschaft ich mir ausgesucht hatte und die andererseits mich mochten und die sich meine Gesellschaft ausgesucht hatten. Keine Leute, mit denen ich samstags chillen, Ausflüge planen oder über WhatsApp quatschen konnte. Keine Leute, die mich auf Fotos bei Instagram markierten oder mir Freundschaftsarmbändchen knüpften.

Und zweitens: Es gab keinen großen Zwischenfall, der mich freundelos gemacht hat. Ich werde jetzt auch nichts so Dramatisches sagen wie: Alle haben mich gehasst. Denn das stimmt nicht. Auf irgendeine komische Art denke ich manchmal, dass es einfacher gewesen wäre, hätten sie es getan. Ich wurde nicht gehasst, ich wurde gehetzt. Wie bei der Fuchsjagd. (Die Jäger hassen den Fuchs nicht. Das Ganze ist für sie bloß ein Sport.) Ich wurde gehänselt, ausgelacht, ignoriert. Ab und an toleriert, öfter jedoch für einen blöden Scherz auf meine Kosten missbraucht.

Jetzt fragt ihr euch: Aber warum? Was hast du getan? Ihr versucht euch vorzustellen, was an mir so furchtbar ist, dass es mich zum Mobbingopfer gemacht hat. Vielleicht denkt ihr an Leute, die ihr kennt oder kanntet, die auch gemobbt wurden, und ihr vergleicht mich mit ihnen. Hört auf damit. Lasst sie in Ruhe. Haben sie nicht genug gelitten, ohne dass ihr sie als Messlatte dafür nutzt, wer es verdient, eine Zielscheibe zu sein?

Drittens möchte ich euch gern begreiflich machen, warum ich die fünf Jahre an meiner alten Schule, der Claridge Academy, allein und komplett ohne Freunde verbracht habe. Vertraut mir, darüber habe ich sehr viel nachgedacht (sehr viel!). Ich habe versucht, eine Art Erklärung zu finden, die Sinn ergibt. Denn ich verstehe schon, es klingt total komisch. Mindestens eine Freundin muss es doch gegeben haben, nur eine? Keine Freunde? Jemals?

Tja, ich hatte über die Jahre eine Handvoll Fast-Freunde, übergangsweise. Da war Sophie in der Siebten, die in einem anderen Leben meine beste Freundin geworden und geblieben wäre, mich aber schon sehr früh hat fallen lassen, ungefähr zur Zeit des Kuchenverkauf-Vorfalls – dazu kommen wir noch –, und die die nächsten fünf Jahre damit zubrachte, mich gründlich zu ignorieren. Ich kann es ihr kaum verübeln. Wären unsere Rollen vertauscht gewesen, hätte ich vermutlich auch versucht, meine Haut zu retten.

Zusammen mit Mädchen aus anderen Klassen und Jahrgängen war ich in der Netball-Mannschaft und die meisten von ihnen waren freundlich zu mir. Selbst die paar Mädels aus meiner Klasse ließen mich in Ruhe, wenn wir im Netball-Modus waren, als wäre das eine akzeptierte Schutzzone. Und Imi, die Abwehrspielerin aus meinem Jahrgang, die normalerweise kein Wort mit mir sprach, lud mich nach den Auswärtsspielen manchmal ein, mit ihr und ihrer Mum zu McDonald’s zu gehen. Immerhin.

Abgesehen davon waren da noch ein paar andere Leute, die mein Leben gerade so erträglich machten. Schwache Berührungspunkte mit alltäglichem Glück, oder zumindest mit der Normalität, die mich davon abhielten, völlig den Mut zu verlieren.

Es gab die Bibliothek, einen ruhigen und sicheren Zufluchtsort in der Mittagspause, und die Bibliothekarin, Ms Randall. Sie kannte meinen Namen und redete mit mir darüber, was ich las, als interessierte sie sich für meine Meinung. Ab der Neunten gab es außerdem den Kunsttrakt, mit den weißen Wänden und dem Geruch nach Leinöl. Und Mr Clayton, der mir immer zulächelte, als wüsste er, wie ich mich fühlte. Einmal nahm er mich nach dem Unterricht diskret beiseite, um mir zu sagen, dass das Atelier in den Pausen für Schüler offen stand. Dort versammelte sich eine kleine Gruppe von Außenseitern, um zu werkeln und zu zeichnen. Alle unterschiedlich, alle aus verschiedenen Jahrgängen. Wir sprachen kaum miteinander – schon gar nicht außerhalb unseres Mittagspausenexils – und waren doch froh, nicht allein zu sein.

Und das war es so ziemlich, in all den Jahren, die ich auf die Claridge ging. Ihr fragt euch bestimmt, wie man die Schulzeit ohne einen einzigen Freund übersteht. Die Antwort ist: genau so, wie man ohne Regenschirm durch einen Schauer läuft. Kopf einziehen, Schultern hoch, so schnell wie möglich.

Jetzt wisst ihr aber immer noch nicht, warum. Und dabei interessiert euch doch genau das. Wie gesagt, es gab keinen dramatischen Zwischenfall – es gab eher mehrere kleine Zwischenfälle. Eine Art Schneeballeffekt von Niemand-mag-Peyton-King. Ich werde ein paar davon beschreiben, damit ihr versteht, was ich meine. Fangen wir beim Anfang an.

An der Claridge Academy hatten wir eine Uniform mit einem Blazer, von dem es hieß, er sei unisex. An meinem ersten Tag in der siebten Klasse trug ich diesen Blazer, genau wie einige andere Schülerinnen in der neu zusammengewürfelten Klasse. Eine nach der anderen bemerkte aber, dass es megauncool war, als Mädchen mit diesem Blazer herumzulaufen, und irgendwann zogen sie ihn alle aus. Ich hatte das Pech, es als Letzte mitzukriegen, die Letzte zu sein, die den Blazer noch anhatte und die sich den Kommentar »Warum trägst du das da?« von Amber Monroe einfing. (Amber spielt übrigens eine große Rolle in diesen Anekdoten. Am gleichen Tag hat sie mich nach meinem Namen gefragt, und als ich »Peyton« antwortete, verzog sie das Gesicht. Sie fragte »Wieso das denn?«, mit solcher Abscheu, dass ich mich für meine bloße Existenz entschuldigen wollte.)

Immer noch siebte Klasse. Ein Kuchenverkauf. Eins dieser Ereignisse, die einem irre wichtig waren, obwohl man nur Gebäck in der Schulmensa verkauft hat, für zwanzig Cent das Stück. Alle mussten Kuchen und Kekse für den Verkauf mitbringen und ich hatte eine große Dose voller Schmetterlings-Cupcakes mit Salzkaramell-Topping gebacken, fluffig und cremig und einfach zum Anbeißen. Ein paar von uns waren gerade dabei, die Leckereien auf dem Tisch auszulegen, als Amber Monroe sagte – und ich erinnere mich genau an ihren beiläufigen Tonfall, halb scherzhaft, als wäre das ein Witz, über den wir gemeinsam lachen könnten –: »Ich hab gehört, du hast deine Muffins vergiftet, King.«

Hätte ich damals die Schlagfertigkeit und das Selbstvertrauen meines heutigen Ichs besessen, hätte ich darüber gelacht. »Ach was, ich habe nur ein bisschen Gras beigemischt«, hätte ich erwidern sollen. Das wäre super angekommen. Die Art ironische Bemerkung, die einen in dem Alter lustig und cool wirken lässt. Aber das war mir nicht eingefallen. Stattdessen war ich knallrot angelaufen und hatte mit weinerlicher Piepsstimme (zumindest hört sie sich in meiner Erinnerung so an) gestottert: »N…nein, nein!! D…das habe ich nicht!« Und dann meldete sich hinter mir Mo Jafari zu Wort, lässig und gedehnt: »Klingt irgendwie, als hättest du’s doch getan.«

Offenbar sprach sich das herum. Niemand kaufte, geschweige denn aß einen meiner hübschen Cupcakes. Noch dazu fanden sie es alle superlustig. Besonders, als ich in Tränen ausbrach.

Achte Klasse. Ein Sexualkunde-Workshop mit einer externen Leiterin, die mit uns über gesunde Beziehungen reden wollte. Sie schlug vor – fröhlich und nichts ahnend –, dass wir uns alle in kleinen Grüppchen mit unseren Freunden und Freundinnen zusammensetzen sollten. Mir rutschte das Herz in die Hose und ich sah zu, wie alle anderen unbekümmert umherliefen und sich in klar definierten Kleingrüppchen zusammenfanden. Übrig blieb ich. Mein Gesicht brannte und mir stiegen Tränen in die Augen. Krampfhaft starrte ich zu Boden. Ich hatte meinen Platz nicht verlassen und hoffte, niemand würde es bemerken. Vermutlich wäre die Workshopleiterin so barmherzig gewesen, mich unsichtbar bleiben zu lassen, da ich es so offensichtlich wollte. Aber da tönte schon Amber Monroes selbstbewusste Stimme durch den ganzen Raum: »O Gott, Peyton, hast du echt überhaupt keine Freunde?« Sie klang so entsetzt. Auf übertriebene Weise, theatralisch, aber trotzdem entsetzt. Als wäre die Tatsache, keine Freunde zu haben, so furchtbar, dass selbst sie fast Mitleid bekam. »O mein Gott«, sagte sie ein zweites Mal, noch lauter, wahnsinnig laut. »Peyton King hat keine Freunde!« (Man könnte denken, das wäre eine dieser Sachen, die man irgendwann vergisst, über die man hinwegkommt. Aber glaubt mir: Dem ist nicht so. Diesen Satz hätte man genauso gut in Stein meißeln können, so sehr hat er sich mir ins Gedächtnis gebrannt.)

Immer noch achte Klasse. Ich beschloss herauszufinden, warum die Leute mich nicht mochten, damit ich an dem Problem arbeiten und es beheben konnte. Dafür schrieb ich einem von den netteren Mädchen eine Nachricht. Kerry Bridges erledigte stets ihre Hausaufgaben, hatte immer schön gekämmte Haare und machte nie Ärger. Zwar hatte sie nie versucht, sich mit mir anzufreunden, aber sie war auch nie gemein zu mir gewesen. Die Nachricht war folgende: Liebe Kerry, entschuldige, dass ich dir einfach so schreibe, aber ich hoffe, du kannst mir weiterhelfen. Wahrscheinlich ist dir aufgefallen, dass ich nicht viele Freunde habe und mich irgendwie keiner so richtig mag. Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht weißt, woran das liegt, und ob du es mir verraten würdest, damit ich etwas verbessern kann! Wenn nicht, kein Problem! Aber danke fürs Lesen! Peyton

(Möchtet ihr gerade aus Fremdscham für mein dreizehnjähriges Ich im Boden versinken? Jap, ich auch.)

Auf jeden Fall hat Kerry Bridges einen Screenshot dieser Nachricht an eine Freundin geschickt. Die ihn wiederum an zwei andere Freundinnen weitergeleitet hat. Die ihn auf Snapchat gepostet haben. Alle in meiner Stufe haben diese Nachricht gelesen. Womöglich sogar die ganze Schule. Wie sich herausgestellt hat, ist es schlimm, keine Freunde zu haben, aber noch schlimmer, wenn man versucht, etwas daran zu ändern. Ich hätte genauso gut auf die Bühne in der Aula klettern und mich vor der kompletten Schule nackt ausziehen können. Rückblickend betrachtet wäre das für mein Image wahrscheinlich besser gewesen.

Immerhin schrieb mir Kerry nach diesem Zwischenfall einen Brief, in dem sie sich dafür entschuldigte, die Nachricht herumgezeigt zu haben. Sie beteuerte, sie habe nicht geahnt, was passieren würde, und es tue ihr leid. Sie klebte einen Smiley-Sticker darauf und schob den Brief durch den Türschlitz meines Schließfachs. Aber sie versuchte weder, sich mit mir anzufreunden, noch hielt sie andere davon ab, sich über mich lustig zu machen. Und sie hat mir nie verraten, warum mich niemand mochte. Vermutlich dachte sie zu dem Zeitpunkt, dass es mittlerweile selbst mir völlig klar sein musste.

Neunte Klasse. Mo Jafari fiel irgendwann auf, dass P. King ja wie Peking klingt – wie in Pekingente. Mit einem Mal war ich für den Rest der Zeit auf der Claridge nur noch »die Ente«, samt allem, was irgendwie im Entferntesten damit zu tun hatte – Entchen, Gummiente, Quak-Quak, Vogel, Entenarsch – um nur einige Beispiele zu nennen. Ein paar davon hören sich vielleicht an wie lieb gemeinte Spitznamen oder Späße unter Freunden. Tja, das waren sie nicht.

Zehnte Klasse. Zu der Zeit hatte ich die größte Mobbingwelle eigentlich überstanden und war nur noch die einsame Außenseiterin, mit der niemand redete. Das war nicht schön, aber allemal besser, als ständig die Zielscheibe zu sein. Doch dann sollte ein neues Bild in der Schulmensa aufgehängt werden und Mr Clayton entschied sich für eins von meinen. Ich fühlte mich ziemlich geehrt, da normalerweise nämlich nur Kunstwerke von Elftklässlern ausgestellt wurden, meist Projekte für ihren Abschluss der Sekundarstufe 1. Das Gemälde hatte ich während der Mittagspausen im Atelier angefertigt, meinem Zufluchtsort. Es war quasi meine eigene Version von van Goghs Sternennacht: unsere Stadt bei Dunkelheit, die Skyline klein (und grau und unscheinbar) unter einem riesigen, strahlenden Sternenhimmel. Mr Clayton zufolge war es »fantastisch«, ein Wort, das ich aus seinem Mund vorher noch nie gehört hatte. Während einer Versammlung in der Aula verkündete er, dass es aufgehängt werden würde, und die ganze Schule klatschte pflichtschuldig. Ich war unheimlich stolz und glücklich – selbst als Amber Monroe und alle aus ihrer Clique viel zu laut applaudierten, pfiffen und übertriebene Verbeugungen andeuteten.

Ganze dreieinhalb Tage hatte es dort gehangen, als man mich ins Büro des Oberstufenkoordinators rief, wo Mr Clayton mit tief gerunzelter Stirn auf mich wartete. Man habe mein Kunstwerk »entweiht« – das waren seine Worte. Vor der ersten Stunde hatte jemand mit Edding ENTENFOTZE quer über das Bild gekritzelt und daneben einen stümperhaften Penis samt Hoden gemalt. (Schon damals durchzuckte mich der Gedanke, dass eine Vulva ja wohl deutlich mehr Sinn ergeben hätte. Es sagte viel über diesen unbekannten Schmierfinken aus, dass er nicht in der Lage war, eine zu zeichnen.) Mein Gemälde war unwiederbringlich zerstört und es brach mir das Herz.

Die ganze Klasse bekam deswegen eine Standpauke. Es war kein Geheimnis, dass ich eine Außenseiterin war, auch unter den Lehrern nicht, und selbst ihnen war bewusst, dass man das Bild deshalb bekritzelt hatte. Unser Jahrgangsleiter, Mr Karousi, behielt uns in der großen Pause drinnen, um den Schuldigen herauszufinden. Allen außer ihm war völlig klar, dass es Joe Hedge gewesen war. Und ich meine wirklich allen. Trotzdem sagte keiner auch nur einen Ton. Und ich saß da, in diesem Klassenzimmer, und lauschte dem Schweigen, mit dem sie ihn alle schützten – als hätte er es verdient. In mir loderte Wut auf – in meiner Brust, in meinen Händen, hinter meinen Augen. Er würde einfach so davonkommen. Er hatte etwas so Grausames getan – nicht bloß gemein, sondern richtig grausam – und es war ihnen egal.

Als Mr Karousi schon aufgeben wollte und uns mitteilte, wie enttäuscht er war, dass niemand die Verantwortung übernahm, meldete ich mich zu Wort: »Alle hier wissen, dass es Joe war.«

Kollektives, hörbares Nach-Luft-Schnappen. Joe drehte sich fassungslos zu mir um, Ambers Blick hätte töten können und Mr Karousi sah mich stirnrunzelnd an, als hätte ich mich gerade höchstpersönlich schuldig bekannt. Mo Jafari murmelte: »Krasse Scheiße, King.«

»Warum spricht es denn keiner aus?«, fragte ich. Inzwischen liefen mir die Tränen in Sturzbächen übers Gesicht. »Es war Joe.«

Joe, der sich nicht mal die Mühe machte, seine Tat zu leugnen, wurde für vier Tage der Schule verwiesen und durfte zwei Monate lang nicht am Fußballtraining teilnehmen. Zum ersten Mal musste jemand für das, was er mir angetan hatte, Konsequenzen tragen – und trotz allem war ich froh darüber.

Jedenfalls bis zum Sportunterricht in der darauffolgenden Woche. Langstreckenlauf. Ich joggte allein vor mich hin, wie immer in meine eigenen, tröstlichen Gedanken versunken, da rammte mich jemand von hinten. Als ich stolperte und fiel, zu erschrocken, um einen Laut von mir zu geben, wurde ich gepackt und von der Aschebahn gezerrt. Der Rasen musste frisch gemäht worden sein, denn in regelmäßigen Abständen türmten sich Grashaufen am Rand der Bahn. In einen davon wurde ich gestoßen, mit dem Gesicht voran. Ich bekam Gras in die Augen, in die Nase und in den Mund. Jemand presste meinen Kopf nach unten und flüsterte mir ins Ohr: »Na, wie redet es sich jetzt, Petze?«

Sie ließen mich da liegen. Schluchzend und spuckend wünschte ich ihnen Pest und Cholera an den Hals. Nachdem ich mich endlich aufgerappelt und es bis zur Ziellinie geschafft hatte, schnauzte mich Mr McGee auch noch an, weil ich so lange gebraucht hatte – er bemerkte dabei anscheinend weder die Grasflecken auf meinem Sportzeug noch die Halme in meinen Haaren oder die grünen Tränenspuren auf meinen dreckverschmierten Wangen –, und schickte mich dann in die Schlangengrube, die Umkleide. Dort angekommen, ignorierten Amber und ihr Hofstaat mich komplett, was ich in dem Moment als sehr gnädig empfand. Aber ebenso wenig beachteten mich die anderen Mädchen, die sich wahrscheinlich alle selbst für gute Menschen hielten und die sich gegenseitig in den Arm nahmen, wenn eine von ihnen weinte. Und das war die reinste Folter.

Dieser Vorfall muss das Fass zum Überlaufen gebracht haben. Ich entwickelte Wut. Echte Wut. So heftig, dass man sie wahrscheinlich schon als Raserei beschreiben könnte. Lodernder Zorn, der sich ausbreitet und das Feuer schürt. Ich war sauer, weil man mich in einen Grashaufen geschubst hatte, ja. Aber nicht nur. Dieser Zorn speiste sich aus der riesengroßen Ungerechtigkeit des Ganzen. Es war einfach nicht fair. Es war nicht richtig. Joe hatte etwas Falsches getan. Nichts Fragwürdiges oder Grenzwertiges, nein, etwas Grundfalsches. Jemandes Arbeit oder Kunstwerk zu zerstören, ist ein Vergehen, und jemanden körperlich anzugreifen, ebenso. Trotzdem wurde er von meinem kompletten Umfeld geschützt. Und in den Augen der anderen war ich diejenige, die etwas falsch gemacht hatte, schlicht und ergreifend, weil ich aufgezeigt hatte, dass er im Unrecht war. Ich war diejenige, die wirklich bestraft wurde. Er wurde durch den Vorfall zum noch größeren Helden, ich zur noch größeren Außenseiterin. Es war vollkommen absurd.

In der Schule ist Coolness eine Währung. Und offenbar ist es cool, Scheißkerle mit ihrem Scheiß durchkommen zu lassen und sie sogar noch dafür zu feiern.

Wer glaubt, dass Gerechtigkeit siegt, war wohl nie auf einer weiterführenden Schule.

Fünf Jahre lang habe ich solche Aktionen mitgemacht. Fünf endlose, schreckliche Jahre, in denen ignoriert zu werden noch das Beste war, was mir passieren konnte. Und dabei hatte ich nichts Schlimmes getan, nicht mal irgendetwas besonders Peinliches. Ich hatte bloß Pech.

Jedenfalls sagte ich mir das selbst, wenn ich versuchte, positiv zu denken, damals, als ich aufs Wirtschaftscollege kam und mir erlaubte zu hoffen. Es gab nichts Bestimmtes an mir, keinen grundlegenden Wesenszug, den meine Peiniger entdeckt hatten und abstoßend fanden. Es würde nicht den Rest meines Lebens so weitergehen. Ich war in der Lage, Freundschaften zu schließen, wie alle anderen. Die neue Schule war meine Chance, das endlich zu beweisen. Und wenn auch nur mir selbst. Ich würde Freunde haben und dann wäre alles besser. Das war nur die logische Konsequenz, dessen war ich mir hundertprozentig sicher.

Und das ist genau das Ding. Hatte ich damals auch nur den leisesten Verdacht, dass Freunde möglicherweise nicht die Lösung all meiner Probleme waren? Dass ich Freunde kennenlernen könnte, aber trotzdem alles schiefgehen würde? (Und ich meine: so richtig schief!) Nein. Ich hatte bloß diese bescheuerte Hoffnung.

Da war ich also, an meinem ersten Tag auf der neuen Schule, und hoffte, Freunde zu finden, die mein Leben besser machen würden.

Tja, gefunden habe ich sie. Und ich habe sogar geglaubt, alles wäre besser. Zumindest eine Weile.

Die beste Zeit ist am Ende der Welt

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