Читать книгу Die beste Zeit ist am Ende der Welt - Сара Барнард - Страница 9
Was zuvor geschah
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Freunde finden, um jeden (!) Preis
Mein dritter Tag am College und mittendrin eine Freistunde. Mit der Absicht, schon mal »ein paar Hausaufgaben abzuarbeiten« (aka: zu zeichnen), ging ich in die Bibliothek, wo ich zu meiner grenzenlosen Begeisterung Flick entdeckte. Sie saß an einem der Tische, neben einem anderen Mädchen, das ich von den Sofas im Aufenthaltsraum wiedererkannte, und schrieb vor sich hin.
(Ein kurzer Einblick in mein Gehirn während der fünfzehn Sekunden, die ich brauchte, um die Bib zu durchqueren und zu ihr zu gehen: Da ist Flick! Ich kann mich zu ihr setzen! Hm, oder ist das seltsam? Vielleicht. Moment, ist es noch komischer, wenn ich es nicht tue? Sollte ich etwas sagen? Wie leise muss man hier drinnen eigentlich sein? Ich darf nicht zu aufgeregt wirken, cool bleiben, Peyton. Shit, was, wenn sie denkt, ich würde sie stalken? Shit, jetzt bin ich zu nah dran, um wieder umzudrehen. Sie sieht hoch. Sie hat mich gesehen. Ganz –)
Sie formte ein lautloses »Hi!« mit den Lippen und deutete lebhaft auf den Platz ihr gegenüber, dann auf das Buch vor sich und verdrehte die Augen. Ich nahm an, das hieß so viel wie: Setz dich! Aber ich muss lernen, uäh.
Ich folgte ihrer Aufforderung. Dabei warf ich dem anderen Mädchen einen Blick zu, das sehr konzentriert in dem Buch vor sich las. Ich wartete darauf, dass sie aufschauen und mich begrüßen würde, aber Fehlanzeige. Verwirrt sah ich zu Flick, die wieder die Augen verdrehte und mit den Schultern zuckte. Okay, das schien normal zu sein. Ich zog Othello aus der Tasche – denn ich würde nicht anfangen, vor den beiden zu zeichnen. Was, wenn sie mich für seltsam hielten? – und versuchte, eine Ruhe auszustrahlen, die als kameradschaftliches Schweigen durchgehen konnte. Flicks Freundin hob noch immer nicht den Kopf. Nach ein paar Minuten hörte ich ein Wischgeräusch auf dem Tisch und auf einmal lag Flicks Block vor mir.
Hi!
Ich sah hoch. Sie zwinkerte mir zu. Ich schrieb ebenfalls Hi! und schob den Block zurück.
O Gott! Wie kann es sein, dass ich JETZT SCHON Hausaufgaben habe?!
Verrückt!
Ich will echt sterben. Und Casey redet nicht mit mir, wenn wir »lernen«. Buh! Wie geht’s dir?
Gut! Und dir?
Mir ist laaaaaaaaangweilig!
Lasst mich euch kurz erklären, wie sich so ein Augenblick für jemanden anfühlt, der fünf Jahre lang gemobbt wurde und keine Freunde hatte: als wäre mit einem Mal die Sonne aufgegangen. Und ja, ich weiß, wie lächerlich und kitschig sich das anhört, aber es stimmt. Mit Flick dort zu sitzen – ihren Collegeblock hin- und herzuschieben, ihr Grinsen, wenn sie den Stift ansetzte, die unheimliche Alltäglichkeit des Ganzen –, war pures Glück.
Als es klingelte, hatte ich nicht mal eine Seite von Othello gelesen und es hätte mir egaler nicht sein können. Flicks Freundin, Casey, verdrehte halb spielerisch die Augen in Flicks Richtung, dann hob sie die Brauen als eine Art Hallo an mich. Schüchtern lächelte ich ihr zu und packte extra langsam meine Sachen zusammen, um zeitgleich mit ihnen aufzubrechen. Denn so bestand vielleicht eine klitzekleine Chance, dass sie fragten, ob ich mit ihnen zum Essen gehen würde.
Und dann, sobald wir draußen waren, das Unglaubliche: »Willst du mit uns in die Mensa kommen?«
Ja! Ja! Ich will! Natürlich will ich mit euch in die Mensa! Ja, ja und noch mal JA! »Klar, warum nicht?«, sagte ich betont lässig.
»Case, das ist Peyton.« Flick zeigte auf mich.
»Hi.« Casey hatte so gar nichts von Flicks überschwänglicher Freundlichkeit und dieser Gegensatz verunsicherte mich. Ich war sofort davon überzeugt, dass sie mich nicht mochte.
»Hiii!« Ich hörte selbst, dass ich völlig übertrieben klang, aber ich konnte es nicht abstellen. »Ich bin neu, von der Claridge. Academy.«
Casey nickte, schwieg jedoch. Später, als ich Casey besser kannte, wusste ich, dass das einfach ihre Art war. Aber in diesem Moment stieg blanke Panik in mir hoch. Ich meinte, Verachtung in ihrer Miene zu erkennen, stellte mir vor, wie sie Flick kopfschüttelnd von mir wegzog.
Aber Flick war zum Glück Flick. »Na los«, zwitscherte sie, »ich sterbe vor Hunger!«
In der Mensa trafen wir Eric und Travis, die meine Anwesenheit kaum zur Kenntnis nahmen, und zwei weitere Jungs, Callum und Nico, die mir am Anfang so austauschbar vorkamen, dass ich mir nie merken konnte, wer wer war. Sie waren alle vorher auf der Eastridge gewesen und praktisch in dieser Konstellation zusammen aufgewachsen. Vagen Andeutungen entnahm ich zwar, dass es für eine Weile auch noch eine Ex-Freundin von Travis gegeben hatte, aber die war dann verlassen worden. (Ich war nicht sicher, ob das Verlassen sich nur auf Travis bezog oder auf die gesamte Clique. Ich fragte nicht nach.)
Das war das erste Mal, dass ich mit der ganzen Truppe rumhing, und ich erinnere mich noch daran, wie geschlossen sie damals von außen gewirkt hatten. Ein Freundeskreis mit eigener Geschichte, beinahe völlig unzugänglich. Es machte mich nervös, denn ich befürchtete, dass ich nicht mehr hineinpasste. Ich nahm an, meine Eintrittskarte wäre Flick. In ihrem Leben schien – wie in meinem – Platz für eine beste Freundin zu sein. Sie war ja fast immer nur von Jungs umgeben und das konnte ihr doch nicht reichen. Klar war auch Casey Teil der Gruppe, aber sie war ziemlich still und ihre häufigste Reaktion auf Flick war offenbar Augenverdrehen. (Für mich kam Casey, distanziert und unnahbar, wie sie war, als beste Freundin irgendwie nie infrage.)
Allerdings musste ich feststellen, dass es schwieriger war als gedacht, sich an Flick zu hängen. Zum einen klebte sie ihrerseits viel zu sehr an Eric und zum anderen konnte sie bei aller Freundlichkeit ziemlich flatterhaft sein. Ihre Aufmerksamkeitsspanne war extrem kurz, für Menschen ebenso wie für alles andere. Manchmal blinzelte sie mitten während eines Gesprächs, als wäre ich gerade aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht. Ich hatte panische Angst, dass sie sich einzig und allein deshalb für mich interessierte, weil ich neu war, und dass sie mich, sobald ich es zwangsläufig irgendwann nicht mehr wäre, links liegen lassen würde – und mit ihr alle anderen auch.
Während der ersten paar Tage dieses neuen Schuljahres – meines neuen Lebens – hatte ich ständig das Gefühl, dass kein Fortschritt, den ich machte, groß genug war. Ich war überzeugt, dass ich mir so schnell wie möglich einen felsenfesten Platz in ihrer Gruppe sichern musste – oder in überhaupt einer –, bevor es zu spät war. Bevor ich meine Chance verspielt hätte und für den Rest meiner Schulzeit wieder in die Verbannung geschickt werden würde.
Das durfte auf keinen Fall passieren. Also tauschte ich BWL gegen VWL, was bedeutete, dass Flick und ich jetzt statt zwei Fächern drei zusammen hatten. (Was für mich allerdings gar kein so wahnsinnig großer Schritt war, denn ich interessierte mich für keines der Fächer. Gegen VWL sprach also auch nicht mehr als gegen BWL.) Flick freute sich total – so sehr, dass es mich echt überraschte – und gestand mir, wie heftig sie das Fach hasste. Sie habe sonst keine Freunde in dem Unterricht, aber jetzt habe sie ja zum Glück mich. Das hieß, sie sah mich quasi als FREUNDIN! Seite an Seite saßen wir im Klassenraum und ich kritzelte einen kleinen Flick-Comic auf den Rand ihres Blocks. O Gott! , schrieb sie. Du bist ja krass talentiert!!!
Es war zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber es fühlte sich noch nicht komplett richtig an. Ihre Aufmerksamkeit galt ständig etwas anderem und außerdem war Eric von meiner Gegenwart anscheinend ziemlich verwirrt. Ich befürchtete, ein Wort von ihm könnte Flicks Meinung über mich total ändern. Nach ein paar Wochen schrieb sie mir Ich verstehe nur absoluten Bahnhof in mein Skizzenbuch, und ich antwortete: Sollen wir das mal zusammen durchgehen? Und das, obwohl mein Skizzenbuch mir heilig ist. Ja, bitte!, setzte sie darunter und machte damit ihre ungefragte Kritzelei in mein Heft definitiv wett. Und so wurde ich Flicks Nachhilfelehrerin in einem Fach, von dem ich selbst kaum Ahnung hatte.
Aber es funktionierte: Sie lud mich für den folgenden Samstag zu sich nach Hause ein. Abends würden die anderen vorbeischauen, aber wenn ich früher käme, könnten wir davor zusammen lernen. Und dann könnte ich einfach noch dableiben, wenn ich wollte?
Und wie ich wollte! Ich wollte es so sehr, dass ich zu Hause zwei Treppenstufen auf einmal nach oben nahm, in mein Zimmer stürzte, eine Pirouette drehte und in Freudengeschrei ausbrach.